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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 30.03.1993
Aktenzeichen: C-24/92
Rechtsgebiete: EWG-Vertrag


Vorschriften:

EWG-Vertrag Art. 177
EWG-Vertrag Art. 48 Abs. 2
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Der Begriff "Gericht" im Sinne des Artikels 177 des Vertrages ist ein gemeinschaftsrechtlicher Begriff und kann seinem Wesen nach nur eine Einrichtung bezeichnen, die gegenüber der Einrichtung, die die Entscheidung erlassen hat, die den Gegenstand der Klage bildet, die Eigenschaft eines Dritten hat.

Dem Direktor der Finanzverwaltung eines Mitgliedstaats, der über den Einspruch eines Steuerpflichtigen zu entscheiden hat, kann diese Eigenschaft wegen seiner offensichtlichen institutionellen Verbindung zu den Dienststellen, die den streitigen Steuerbescheid erlassen haben, nicht zugesprochen werden.


URTEIL DES GERICHTSHOFES VOM 30. MAERZ 1993. - PIERRE CORBIAU GEGEN ADMINISTRATION DES CONTRIBUTIONS. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: DIRECTEUR DES CONTRIBUTIONS - GROSSHERZOGTUM LUXEMBURG. - BEGRIFF DES'EINZELSTAATLICHEN GERICHTS'IM SINNE VON ARTIKEL 177 EWG-VERTRAG. - RECHTSSACHE C-24/92.

Entscheidungsgründe:

1 Der Directeur des contributions directes et des accises des Großherzogtums Luxemburg hat mit Entscheidung vom 28. Januar 1992, beim Gerichtshof eingegangen am selben Tag, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung des Artikels 48 des Vertrages zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Frage stellt sich in einem von Herrn Corbiau beim Directeur des contributions anhängig gemachten ausserstreitigen Verfahren, in dem es um die Erstattung zuviel gezahlter Einkommensteuer geht.

3 Herr Corbiau, ein belgischer Staatsangehöriger, arbeitet bei der Bank Paribas in Luxemburg. Er wohnte bis zum 25. Oktober 1990 in Luxemburg; an diesem Tag verlegte er unter Beibehaltung seiner Tätigkeit in Luxemburg seinen Wohnsitz nach Belgien. Von einem gebietsansässigen Steuerpflichtigen ist er also zu einem nicht in Luxemburg ansässigen Steuerpflichtigen geworden.

4 Für die Zeit vom 1. Januar 1990 bis zum 25. Oktober 1990 behielt sein Arbeitgeber von seinem Gehalt Steuern zu dem Satz ein, der gegolten hätte, wenn er ein während des ganzen Jahres in Luxemburg ansässiger Steuerpflichtiger gewesen wäre.

5 Später wurden bei der endgültigen Festlegung der Steuer die Einkünfte, die Herr Corbiau während der ersten zehn Monate des Jahres 1990 erzielt hatte, nach dem progressiven Satz besteuert, der normalerweise für solche Einkünfte gilt, wenn sie während des ganzen Jahres bezogen werden. Da dieser Satz niedriger war als der, der bei der Berechnung der Steuerabzuege verwendet wurde, wies der Steuerbescheid für das Jahr 1990 zuviel gezahlte Steuern in Höhe von 180 048 LFR aus.

6 Die luxemburgische Finanzverwaltung lehnte die Erstattung der zuviel gezahlten Steuern unter Berufung auf Artikel 154 Absatz 6 des Einkommensteuergesetzes ab, wonach einbehaltene Steuern auf Löhne und Gehälter zu Lasten der Arbeitnehmer, die nur während eines Teils des Jahres gebietsansässige Steuerpflichtige sind, weil sie sich im Laufe des Jahres im Lande niederlassen oder das Land verlassen, der Staatskasse verfallen.

7 Am 28. Juni 1991 richtete der Betroffene gemäß § 131 der Abgabenordnung einen Antrag an den Directeur des contributions.

8 Nach dieser Vorschrift "[kann] der Minister der Finanzen... für einzelne Fälle (auch für eine Mehrheit von einzelnen Fällen, wie bei Unwetterschäden oder sonstigen Notständen) Staatssteuern, deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre, ganz oder zum Teil erlassen oder in solchen Fällen die Erstattung oder Anrechnung bereits entrichteter Staatssteuern verfügen".

9 Nach Artikel 8 der Großherzoglichen Verordnung vom 26. Oktober 1944 "[entscheidet] über Einsprüche Steuerpflichtiger und über ihre Anträge auf Erlaß oder Ermässigung, vorbehaltlich der Anrufung einer in einer Ministerialverordnung zu bezeichnenden Instanz, der Leiter der zuständigen Verwaltung oder ein von ihm Ermächtigter".

10 Gemäß Artikel 2 Absatz 1 des Gesetzes vom 17. April 1964 zur Änderung der Organisation der für die unmittelbaren Abgaben und Verbrauchsteuern zuständigen Verwaltung in der Fassung des Gesetzes vom 20. März 1970 ist mit dieser Verwaltung ein Directeur betraut worden, der an der Spitze der Verwaltung steht.

11 Schließlich ist in Artikel 1 der Ministerialverordnung vom 10. April 1946 festgelegt worden, daß der Streitsachenausschuß des Conseil d' État in der Besetzung mit drei Mitgliedern endgültig über Klagen entscheidet, die Steuern, Abgaben, Beiträge und Gebühren betreffen.

12 Vor dem Directeur des contributions berief sich Herr Corbiau auf das Urteil vom 8. Mai 1990 in der Rechtssache C-175/88 (Biehl, Slg. 1990, I-1779), in dem der Gerichtshof entschieden hat, daß "es Artikel 48 Absatz 2 EWG-Vertrag verbietet, daß nach dem Steuerrecht eines Mitgliedstaats die einbehaltenen Steuern auf die Löhne und Gehälter zu Lasten eines Arbeitnehmers aus einem Mitgliedstaat, der nur während eines Teils des Jahres gebietsansässiger Steuerpflichtiger ist, weil er sich im Laufe des Steuerjahres im Lande niederlässt oder das Land verlässt, der Staatskasse verfallen und nicht erstattet werden können".

13 Weil der luxemburgische Directeur des contributions nicht sicher ist, ob dieses Urteil auf den ihm unterbreiteten Fall anzuwenden ist, hat er folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Verbietet es Artikel 48 EWG-Vertrag, daß in einem Mitgliedstaat, in dem die während des ganzen Steuerjahres gebietsansässigen Steuerpflichtigen Anspruch auf Erstattung der von ihrem Arbeitgeber rechtmässig einbehaltenen Lohnsteuer haben, wenn und sofern der Betrag dieser einbehaltenen Steuer die Einkommensteuer übersteigt, die nach dem entsprechenden Satz für die Gesamtheit ihrer in dem Jahr erzielten Einkünfte festgesetzt worden ist, ein während eines Teils des Jahres gebietsansässiger steuerpflichtiger Gemeinschaftsbürger die Erstattung der rechtmässig einbehaltenen Steuer nur unter den gleichen Voraussetzungen und in dem gleichen Masse erlangt?

14 Ehe auf diese Vorlagefrage eingegangen werden kann, ist zu untersuchen, ob der Directeur des contributions ein Gericht im Sinne des Artikels 177 des Vertrages ist und ob seine Frage somit als zulässig angesehen werden kann.

15 Hierzu ist darauf hinzuweisen, daß der Begriff "Gericht" ein gemeinschaftsrechtlicher Begriff ist und daß er seinem Wesen nach nur eine Einrichtung bezeichnen kann, die gegenüber der Einrichtung, die die Entscheidung erlassen hat, die den Gegenstand der Klage bildet, die Eigenschaft eines Dritten hat.

16 Im vorliegenden Fall hat der Directeur des contributions directes et des accises nicht diese Eigenschaft. An der Spitze dieser Verwaltung stehend, weist er eine offensichtliche institutionelle Verbindung zu den Dienststellen auf, die den streitigen Steuerbescheid, der Gegenstand des bei ihm eingelegten Einspruchs ist, erlassen haben. Diese Feststellung wird im übrigen dadurch bekräftigt, daß im Fall einer beim Conseil d' État eingereichten Klage der genannte Directeur Partei des Verfahrens ist.

17 Daraus folgt, daß der Directeur des contributions kein Gericht im Sinne des Artikels 177 des Vertrages ist und daß seine Frage daher für unzulässig erklärt werden muß.

Kostenentscheidung:

Kosten

18 Die Auslagen der luxemburgischen Regierung und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim Directeur des contributions des Großherzogtums Luxemburg anhängigen Verfahren; eine Kostenentscheidung ist daher Sache des Directeur.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

für Recht erkannt:

Die vom Directeur des contributions et des accises des Großherzogtums Luxemburg vorgelegte Frage ist unzulässig.

Ende der Entscheidung

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