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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 04.02.1992
Aktenzeichen: C-243/90
Rechtsgebiete: EWG-Vertrag, Richtlinie 79/7/EWG des Rates vom 19.12.1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit


Vorschriften:

EWG-Vertrag Art. 177
Richtlinie 79/7/EWG des Rates vom 19.12.1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit Art. 3 Abs. 1
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie 79/7 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit, der den sachlichen Geltungsbereich der Richtlinie regelt, bezieht sich nicht auf ein Wohngeldsystem, bei dem der Betrag des Wohngelds auf der Grundlage des Verhältnisses zwischen dem im Falle des Begünstigten anzusetzenden theoretischen und seinem tatsächlichen Einkommen errechnet wird, selbst wenn bei der Ermittlung dieses theoretischen Einkommens Kriterien herangezogen werden, die die Deckung bestimmter, in der Richtlinie genannter Risiken wie Krankheit oder Invalidität betreffen.


URTEIL DES GERICHTSHOFES (SECHSTE KAMMER) VOM 4. FEBRUAR 1992. - THE QUEEN GEGEN SECRETARY OF STATE FOR SOCIAL SECURITY, EX PARTE FLORENCE ROSE SMITHSON. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: HIGH COURT OF JUSTICE, QUEEN'S BENCH DIVISION - VEREINIGTES KOENIGREICH. - GLEICHHEIT VON MAENNERN UND FRAUEN - SOZIALE SICHERHEIT - INVALIDENRENTEN - WOHNGELD. - RECHTSSACHE C-243/90.

Entscheidungsgründe:

1 Der High Court of Justice, Queen' s Bench Division, hat mit Beschluß vom 26. Juni 1990, beim Gerichtshof eingegangen am 9. August 1990, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag zwei Fragen nach der Auslegung der Richtlinie 79/7/EWG des Rates vom 19. Dezember 1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit (ABl. 1979, L 6, S. 24) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen Florence Rose Smithson, der Klägerin des Ausgangsverfahrens, und dem Secretary of State for Social Security wegen der Bestimmung der Höhe eines ihr gewährten Wohngelds.

3 Wie sich aus den Akten des Ausgangsverfahrens ergibt, wird im Vereinigten Königreich Personen, deren tatsächliches Einkommen unter einem als "anwendbarer Betrag" bezeichneten theoretischen Einkommen liegt, Wohngeld gezahlt. Einer der bei der Ermittlung dieses "anwendbaren Betrags" zu berücksichtigenden Erhöhungsfaktoren ist die "höhere Rentnerzulage", die u. a. Alleinstehenden gewährt wird, die nicht jünger als 60 Jahre und weniger als 80 Jahre alt sind und die eine oder mehrere andere Sozialversicherungsleistungen beziehen, zu denen insbesondere die Invalidenrente gehört.

4 Die Invalidenrente wird nach dem Social Security Act 1975 (Sozialversicherungsgesetz von 1975) gezahlt, bis der Empfänger das Rentenalter erreicht hat, das für Frauen auf 60 Jahre und für Männer auf 65 Jahre festgesetzt ist. Eine Person, die dieses Alter überschritten, aber eine regelmässige Beschäftigung beibehalten hat, hat auch während eines Zeitraums von fünf Jahren nach dem Erreichen des Rentenalters Anspruch auf die Invalidenrente. Eine Person, die in den Ruhestand getreten ist, aber noch nicht das Alter von 65 Jahren bei Frauen und 70 Jahren bei Männern erreicht hat, kann auf die Ruhestandsleistungen verzichten, um eine Invalidenrente zu erhalten.

5 Die Klägerin des Ausgangsverfahrens erhielt nach dem Erreichen des 60. Lebensjahres die bis dahin bezogene Invalidenrente nicht mehr. Die höhere Rentnerzulage wurde ihr mit der Begründung verweigert, sie erfuelle die zusätzliche Voraussetzung des Bezugs einer Invalidenrente nicht. Da sie zu diesem Zeitpunkt 67 Jahre alt war, konnte sie auch nicht von dem Recht Gebrauch machen, auf die Ruhestandsleistungen zugunsten der Invalidenrente zu verzichten.

6 Der mit der von ihr erhobenen Klage gegen die Weigerung der britischen Behörden, ihr die höhere Rentnerzulage zu gewähren, befasste High Court of Justice, Queen' s Bench Division, hat beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1) Steht der Umstand, daß eine Frau im Alter zwischen 65 und 70 Jahren keine höhere Rentnerzulage gemäß Abschnitt 10 (1) (b) (i) des Anhangs 2 der Housing Benefit (General) Regulations 1987 beanspruchen oder erhalten kann, im Widerspruch zu Artikel 4 der Richtlinie 79/7/EWG des Rates?

2) Ist eine Frau im Alter zwischen 65 und 70 Jahren aufgrund von Section 2 des European Communities Act 1972 (Gesetz über die Europäischen Gemeinschaften von 1972) in Verbindung mit Artikel 4 der Richtlinie 79/7/EWG des Rates berechtigt, gemäß Section 30 (3) des Social Security Act 1975 ihren Eintritt in den Ruhestand rückgängig zu machen, (bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen) eine Invalidenrente gemäß Section 15 dieses Gesetzes zu beanspruchen und zu erhalten sowie eine höhere Rentnerzulage gemäß Abschnitt 10 (1) (b) (i) des Anhangs 2 der Housing Benefit (General) Regulations 1987 zu beanspruchen und zu erhalten?

7 Mit Beschluß vom 24. Januar 1992 hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) den Testamentsvollstreckern der zwischenzeitlich verstorbenen Klägerin des Ausgangsverfahrens Prozeßkostenhilfe bewilligt.

8 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens, des Verfahrensablaufs und der beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

9 Nach ständiger Rechtsprechung ist der Gerichtshof im Rahmen der Anwendung von Artikel 177 EWG-Vertrag nicht zuständig, über die Vereinbarkeit einer innerstaatlichen Rechtsvorschrift mit dem Gemeinschaftsrecht zu entscheiden. Er kann aber aus der Fassung der Fragen des vorlegenden Gerichts unter Berücksichtigung des von diesem mitgeteilten Sachverhalts das herausschälen, was die Auslegung des Gemeinschaftsrechts betrifft, um diesem Gericht die Lösung der ihm vorliegenden Rechtsfrage zu ermöglichen (vgl. insbesondere Urteil vom 11. Juni 1987 in der Rechtssache 14/86, Pretore di Salò, Slg. 1987, 2545).

10 Demgemäß ist die erste Frage des nationalen Gerichts dahin zu verstehen, ob Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie 79/7 sich auf ein Wohngeldsystem bezieht, bei dem der Betrag des Wohngelds auf der Grundlage des Verhältnisses zwischen dem im Falle des Begünstigten anzusetzenden theoretischen und seinem tatsächlichen Einkommen errechnet wird, wenn bei der Ermittlung dieses theoretischen Einkommens Kriterien herangezogen werden, die die Deckung bestimmter, in der Richtlinie genannter Risiken wie Krankheit oder Invalidität betreffen.

11 Die Richtlinie 79/7 dient nach ihrer ersten und zweiten Begründungserwägung der schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit.

12 Nach Artikel 3 Absatz 1 findet diese Richtlinie u. a. Anwendung auf die gesetzlichen Systeme, die Schutz gegen die Risiken der Invalidität und des Alters bieten, und auf Sozialhilferegelungen, soweit sie das Invaliditätssystem ergänzen sollen. Somit fällt eine Leistung nur dann in den Geltungsbereich der Richtlinie 79/7, wenn sie sich in ein gesetzliches System des Schutzes gegen eines der aufgeführten Risiken einfügt, Teil eines solchen Systems ist oder eine Form der Sozialhilfe mit dem gleichen Ziel darstellt (Urteil vom 24. Juni 1986 in der Rechtssache 150/85, Drake, Slg. 1986, 1995, Randnr. 21).

13 In Randnummer 24 dieses Urteils hat der Gerichtshof entschieden, daß eine Leistung trotz der Tatsache, daß sie zum Teil dem Behinderten selbst und zum Teil der Person gezahlt wird, die seine Betreuung übernimmt, dem gesetzlichen System des Schutzes gegen Invalidität angehört. Er hat hierzu ausgeführt, daß die Auszahlung der Leistung an die Pflegeperson vom Fortbestehen der Invalidität abhänge, die conditio sine qua non für die Gewährung der Beihilfe sei, und daß zwischen dieser Leistung und dem Behinderten ein offensichtliches wirtschaftliches Band bestehe, da es für den Behinderten vorteilhaft sei, wenn die ihn betreuende Person eine Beihilfe beziehe.

14 Folglich sind zwar die Modalitäten der Gewährung für die Einordnung einer Leistung unter die Richtlinie 79/7 nicht entscheidend; eine solche Leistung fällt jedoch nur in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie, wenn sie unmittelbar und in effektiver Weise mit dem Schutz gegen eines der in Artikel 3 Absatz 1 aufgeführten Risiken zusammenhängt.

15 Artikel 3 Absatz 1 Buchstabe a der Richtlinie 79/7 bezieht sich jedoch nicht auf gesetzliche Systeme, die dazu dienen, allen Personen, deren tatsächliches Einkommen unter einem nach bestimmten Kriterien ermittelten theoretischen Einkommen liegt, eine besondere Zuwendung zu garantieren, die es ihnen ermöglicht, ihre Wohnkosten zu tragen.

16 Das Alter und die Invalidität des Empfängers sind nur zwei der bei der Ermittlung der finanziellen Bedürfnisse des Empfängers einer solchen Zuwendung zu berücksichtigenden Kriterien. Die Tatsache, daß diese Kriterien für die Gewährung einer höheren Zuwendung entscheidend sind, reicht nicht aus, um diese Zuwendung in den Anwendungsbereich der Richtlinie 79/7 einzubeziehen.

17 Eine solche Erhöhung bildet nämlich einen untrennbaren Bestandteil der Gesamtleistung, die die unzulänglichen Mittel des Empfängers in bezug auf die Wohnkosten ausgleichen soll, und kann nicht als eigenständiges System zum Schutz gegen bestimmte der in Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie 79/7 aufgeführten Risiken eingestuft werden.

18 Unter diesen Umständen ist auf die erste Frage des High Court, Queen' s Bench Division, zu antworten, daß Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie 79/7 sich nicht auf ein Wohngeldsystem bezieht, bei dem der Betrag des Wohngelds auf der Grundlage des Verhältnisses zwischen dem im Falle des Begünstigten anzusetzenden theoretischen und seinem tatsächlichen Einkommen errechnet wird, selbst wenn bei der Ermittlung dieses theoretischen Einkommens Kriterien herangezogen werden, die die Deckung bestimmter, in der Richtlinie genannter Risiken wie Krankheit oder Invalidität betreffen.

19 Da die zweite Frage, wie die Kommission in ihren Erklärungen ausgeführt hat, allein die Art und Weise betrifft, in der die Klägerin des Ausgangsverfahrens im Fall einer positiven Beantwortung der ersten Frage ihre Ansprüche geltend machen könnte, braucht sie nicht beantwortet zu werden.

Kostenentscheidung:

Kosten

20 Die Auslagen des Vereinigten Königreichs und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)

auf die ihm vom High Court of Justice, Queen' s Bench Division, mit Beschluß vom 26. Juni 1990 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie 79/7/EWG des Rates vom 19. Dezember 1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit bezieht sich nicht auf ein Wohngeldsystem, bei dem der Betrag des Wohngelds auf der Grundlage des Verhältnisses zwischen dem im Falle des Begünstigten anzusetzenden theoretischen und seinem tatsächlichen Einkommen errechnet wird, selbst wenn bei der Ermittlung dieses theoretischen Einkommens Kriterien herangezogen werden, die die Deckung bestimmter, in der Richtlinie genannter Risiken wie Krankheit oder Invalidität betreffen.

Ende der Entscheidung

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