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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 17.01.2008
Aktenzeichen: C-246/06
Rechtsgebiete: Richtlinie 80/987/EWG


Vorschriften:

Richtlinie 80/987/EWG Art. 1 Abs. 1
Richtlinie 80/987/EWG Art. 3 Abs. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)

17. Januar 2008

"Sozialpolitik - Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers - Richtlinie 80/987/EWG in der durch die Richtlinie 2002/74/EG geänderten Fassung - Unmittelbare Wirkung - In einem gerichtlichen Vergleich vereinbarte Abfindungszahlung wegen rechtswidriger Kündigung - Zahlung durch eine Garantieeinrichtung -Zahlung, die den Erlass einer gerichtlichen Entscheidung voraussetzt"

Parteien:

In der Rechtssache C-246/06

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht vom Juzgado de lo Social Único de Algeciras (Spanien) mit Entscheidung vom 7. April 2006, beim Gerichtshof eingegangen am 2. Juni 2006, in dem Verfahren

Josefa Velasco Navarro

gegen

Fondo de Garantía Salarial (Fogasa)

erlässt

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten K. Lenaerts, der Richterin R. Silva de Lapuerta sowie der Richter E. Juhász, J. Malenovský und T. von Danwitz (Berichterstatter),

Generalanwalt: P. Mengozzi,

Kanzler: R. Grass,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

- der slowenischen Regierung, vertreten durch M. Remic als Bevollmächtigte,

- der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch J. Enegren und R. Vidal Puig als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

Entscheidungsgründe:

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 80/987/EWG des Rates vom 20. Oktober 1980 über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers (ABl. L 283, S. 23) in der durch die Richtlinie 2002/74/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. September 2002 (ABl. L 270, S. 10) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 80/987).

2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau Velasco Navarro und dem Fondo de Garantía Salarial (Fogasa) (Lohngarantiefonds, im Folgenden: Fogasa) wegen der Weigerung des Fogasa, der Betroffenen im Rahmen seiner subsidiären Haftung eine Abfindung wegen der ihr ausgesprochenen rechtswidrigen Kündigung zu zahlen, weil die Zahlung dieser Abfindung in einem gerichtlichen Vergleich zwischen Frau Velasco Navarro und ihrem Arbeitgeber vereinbart worden sei.

Rechtlicher Rahmen

Gemeinschaftsrecht

3 Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 80/987 bestimmt, dass "[d]iese Richtlinie ... für Ansprüche von Arbeitnehmern aus Arbeitsverträgen oder Arbeitsverhältnissen gegen Arbeitgeber [gilt], die zahlungsunfähig im Sinne des Artikels 2 Absatz 1 sind".

4 Die Richtlinie lässt gemäß ihrem Art. 2 Abs. 2 das einzelstaatliche Recht bezüglich der Begriffsbestimmung der Worte "Arbeitnehmer", "Arbeitgeber", "Arbeitsentgelt", "erworbenes Recht" und "Anwartschaftsrecht" unberührt.

5 Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 80/987 lautete in seiner ursprünglichen Fassung:

"Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit vorbehaltlich des Artikels 4 Garantieeinrichtungen die Befriedigung der nicht erfüllten Ansprüche der Arbeitnehmer aus Arbeitsverträgen oder Arbeitsverhältnissen, die das Arbeitsentgelt für den vor einem bestimmten Zeitpunkt liegenden Zeitraum betreffen, sicherstellen."

6 Die ursprüngliche Fassung des Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 80/987 wurde durch die Richtlinie 2002/74 geändert und bestimmt jetzt Folgendes:

"Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit vorbehaltlich des Artikels 4 Garantieeinrichtungen die Befriedigung der nicht erfüllten Ansprüche der Arbeitnehmer aus Arbeitsverträgen und Arbeitsverhältnissen sicherstellen, einschließlich, sofern dies nach ihrem innerstaatlichen Recht vorgesehen ist, einer Abfindung bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses."

7 Art. 2 Abs. 1 Unterabs. 1 und 2 der Richtlinie 2002/74 lautet:

"Die Mitgliedstaaten erlassen die Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die erforderlich sind, um dieser Richtlinie bis zum 8. Oktober 2005 nachzukommen. Sie setzen die Kommission unverzüglich hiervon in Kenntnis.

Sie wenden die in Unterabsatz 1 genannten Vorschriften auf jede Zahlungsunfähigkeit eines Arbeitgebers an, die nach dem Inkrafttreten dieser Vorschriften eintritt."

8 Die Richtlinie 2002/74 ist gemäß ihrem Art. 3 am 8. Oktober 2002 in Kraft getreten.

Die spanische Regelung

9 Art. 33 Abs. 1 und 2 des Real Decreto Legislativo Nr. 1/1995 vom 24. März 1995 zur Billigung der Neufassung des Gesetzes über das Arbeitnehmerstatut (Estatuto de los Trabajadores, BOE Nr. 75 vom 29. März 1995, S. 9654) in der Fassung des Gesetzes Nr. 60/1997 vom 19. Dezember 1997 (BOE Nr. 304 vom 20. Dezember 1997, S. 37453) (im Folgenden: Arbeitnehmerstatut) bestimmt:

"1. Der Fondo de Garantía Salarial ... zahlt den Arbeitnehmern den Betrag des Arbeitsentgelts, das ihnen im Zeitpunkt der Insolvenz, der Zahlungseinstellung oder des Konkurses der Arbeitgeber zusteht.

Im Sinne des vorstehenden Unterabsatzes sind als Arbeitsentgelt anzusehen der als solches im Vergleichsverfahren oder in der gerichtlichen Entscheidung anerkannte Betrag in allen in Art. 26 Abs. 1 genannten Fällen und die ergänzende Entschädigung im Rahmen der 'salarios de tramitación' (Arbeitsentgelt während des Verfahrens), die das zuständige Gericht gegebenenfalls zugesprochen hat ...

2. Der Fondo de Garantía Salarial zahlt in den Fällen des vorstehenden Absatzes Entschädigungen, die den Arbeitnehmern durch ein Urteil oder eine Verwaltungsentscheidung wegen Kündigung oder Vertragsauflösung nach den Art. 50, 51 und 52 Buchst. c dieses Gesetzes zuerkannt worden sind, wobei die Höchstgrenze bei einem Jahresgehalt liegt und der Tageslohn, der Grundlage der Berechnung ist, das Doppelte des gesetzlichen Mindestlohns nicht überschreiten darf.

..."

10 Zu den vom Fogasa gemäß Art. 33 Abs. 2 des Arbeitnehmerstatuts zu leistenden Entschädigungen gehören die in Art. 56 Abs. 1 des Arbeitnehmerstatuts vorgesehenen Entschädigungen wegen rechtswidriger Kündigung:

"Wird die Kündigung für rechtswidrig erklärt, so kann der Arbeitgeber binnen fünf Tagen nach Zustellung des Urteils zwischen der Wiedereinstellung des Arbeitnehmers mit Zahlung der 'salarios de tramitación' im Sinne des Buchst. b dieses Absatzes und der Zahlung der folgenden in diesem Urteil festzusetzenden wirtschaftlichen Zuwendungen wählen:

a) einer Entschädigung von 45 Tagesentgelten je Dienstjahr, wobei Zeiten von weniger als einem Jahr anteilig auf Monatsbasis bis zu höchstens 42 Monatssätzen abgerechnet werden;

b) eines Betrags in Höhe der Summe der nicht erhaltenen Arbeitsentgelte vom Tag der Kündigung bis zur Zustellung des Urteils, das die Kündigung für rechtswidrig erklärt hat, oder bis der Arbeitnehmer eine andere Arbeit angenommen hat, wenn dies vor dem genannten Urteil erfolgt ist und der Arbeitgeber die empfangenen Beträge nachweist, damit sie von den 'salarios de tramitación' abgezogen werden können.

Der Arbeitgeber hat die Anmeldung des Arbeitnehmers bei der Sozialversicherung während der Zeit aufrechtzuerhalten, die den Arbeitsentgelten, auf die sich der vorstehende Absatz bezieht, entspricht."

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

11 Frau Velasco Navarro, die Klägerin des Ausgangsverfahrens, gehörte vom 28. Mai 1998 bis zum 27. Dezember 2001, dem Tag ihrer Entlassung, der Belegschaft der Camisas Leica SL (im Folgenden: Camisas Leica) an.

12 Am 13. Mai 2002 schlossen Frau Velasco Navarro und Camisas Leica einen gerichtlichen Vergleich, in dem das Unternehmen die Rechtswidrigkeit der Frau Velasco Navarro ausgesprochenen Kündigung anerkannte und sich verpflichtete, Frau Velasco Navarro eine Abfindung und die in Art. 56 des Arbeitnehmerstatuts vorgesehenen "salarios de tramitación" zu zahlen.

13 Auf der Grundlage eines vorläufigen Insolvenzbeschlusses gegen Camisas Leica, der am 5. März 2003 auf deren Antrag vom selben Gericht erlassen wurde, beantragte Frau Velasco Navarro beim Fogasa eine Leistung in Höhe der genannten Abfindung und der "salarios de tramitación", die sie von ihrem ehemaligen Arbeitgeber nicht erhalten hatte.

14 Der Fogasa stimmte der Zahlung von 3 338,88 Euro als "salarios de tramitación" zu, vertrat jedoch die Ansicht, dass Frau Velasco Navarro keinen Anspruch auf die von ihr begehrte Kündigungsentschädigung in Höhe von 2 696,89 Euro habe, weil diese Entschädigung nicht durch ein Urteil oder eine andere gerichtliche Entscheidung zugesprochen worden sei.

15 Frau Velasco Navarro focht die Weigerung des Fogasa, ihr die Kündigungsentschädigung zu zahlen, beim Juzgado de lo Social Único de Algeciras an.

16 Gemäß den Erläuterungen des vorlegenden Gerichts in der Begründung seines Vorlagebeschlusses sieht das spanische Recht in Art. 33 Abs. 2 des Arbeitnehmerstatuts die Zahlung von Abfindungen durch den Fogasa bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses vor, allerdings nur für den Fall, dass sie den Arbeitnehmern durch ein Urteil oder eine Verwaltungsentscheidung wegen Kündigung oder Vertragsauflösung zuerkannt worden sind.

17 Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts verstößt diese nationale Vorschrift gegen den in der Rechtsprechung des Gerichtshofs, insbesondere in dem Beschluss vom 13. Dezember 2005, Guerrero Pecino (C-177/05, Slg. 2005, I-10887, Randnr. 30), verankerten gemeinschaftlichen Grundsatz der Gleichheit. Gemäß dieser Rechtsprechung seien gleichartige Entschädigungen, die in einem gerichtlichen Vergleich festgesetzt würden, ebenfalls als Abfindungen im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 80/987 anzusehen.

18 Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass die Richtlinie 2002/74 bereits am 5. März 2003 gegolten habe, als die Insolvenz von Camisas Leica festgestellt worden sei. Obwohl die Frist für die Umsetzung dieser Richtlinie am 8. Oktober 2005 abgelaufen sei, sei der spanische Gesetzgeber im Hinblick auf diese Umsetzung untätig geblieben, weil er davon überzeugt gewesen sei, dass das seit dem 21. Dezember 1997 geltende spanische Recht mit der fraglichen Richtlinie völlig im Einklang stehe.

19 Deshalb könne man nicht geltend machen, dass das Königreich Spanien die Richtlinie 2002/74 am 8. Oktober 2005 bereits umgesetzt gehabt habe, denn die nationale Regelung sei eben unvollständig.

20 Außerdem habe der Fogasa in der mündlichen Verhandlung beim vorlegenden Gericht geltend gemacht, dass sich die Klägerin weder auf die Richtlinie 2002/74 noch auf deren Auslegung gemäß dem genannten Beschluss Guerrero Pecino stützen könne, da der vorläufige Insolvenzbeschluss über Camisas Leica, auf den sich die Klage stütze, zwar nach dem 8. Oktober 2002, als die Richtlinie 2002/74 in Kraft getreten sei, aber jedenfalls vor dem 8. Oktober 2005 erlassen worden sei, bis zu dem die Mitgliedstaaten die Maßnahmen hätten getroffen haben sollen, die erforderlich gewesen seien, um dieser Richtlinie nachzukommen.

21 Unter diesen Umständen hat das Juzgado de lo Social Único de Algeciras beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1. Ist, nachdem das nationale Gericht festgestellt hat, dass die Richtlinie 2002/74 in ihrer Auslegung durch den Gerichtshof (im Hinblick auf den gemeinschaftlichen Grundsatz der Gleichheit) in dessen Beschluss (in der Rechtssache C-177/05) am 8. Oktober 2005 nicht vollständig in das innerstaatliche Recht umgesetzt war, davon auszugehen, dass die Richtlinie gegenüber dem Fogasa, der staatlichen Garantieeinrichtung, seit dem darauf folgenden Tag (9. Oktober 2005) unmittelbare Wirkung hat?

2. Falls diese Frage zu bejahen ist: Gilt die genannte unmittelbare Wirkung der Richtlinie 2002/74, da sie eher den Arbeitnehmer (und weniger den säumigen Mitgliedstaat) begünstigt, auch bei einer Insolvenz - nach einem gerichtlichen Vergleich, der in diesem unvollständigen innerstaatlichen Recht nicht vorgesehen ist -, die zwischen dem Inkrafttreten der Richtlinie (8. Oktober 2002) und dem spätesten Zeitpunkt (8. Oktober 2005) festgestellt wurde, bis zu dem der spanische Staat die Rechts- und Verwaltungsvorschriften erlassen haben sollte, die erforderlich sind, um dieser Richtlinie nachzukommen?

Zu den Vorlagefragen

22 Das vorlegende Gericht möchte mit seinen zwei Fragen wissen, ob Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 80/987, solange er noch nicht in das Recht eines Mitgliedstaats umgesetzt worden ist, unmittelbare Wirkung hat und, falls dies zu bejahen ist, von welchem Zeitpunkt an diese Vorschrift gegenüber einer Einrichtung wie dem Fogasa unmittelbar geltend gemacht werden kann. Da es bei den beiden Fragen im Wesentlichen darum geht, ob die genannte Vorschrift zwischen ihrem Inkrafttreten und dem Ende der Umsetzungsfrist unmittelbare Wirkung haben kann, sind beide Fragen zusammen zu prüfen.

23 Das vorlegende Gericht stellt die beiden Fragen gestützt auf den genannten Beschluss in der Rechtssache Guerrero Pecino. Zwar habe der Gerichtshof die Richtlinie 80/987 in diesem Beschluss auf Ersuchen desselben vorlegenden Gerichts wie im vorliegenden Fall und in Bezug auf denselben Insolvenzfall ausgelegt, jedoch gemäß Randnr. 23 des Beschlusses nur für den Fall, dass die Richtlinie 2002/74 zum maßgebenden Zeitpunkt bereits in das nationale Recht umgesetzt worden sei, was das vorlegende Gericht festzustellen habe.

24 Im Ausgangsverfahren war die Richtlinie 2002/74 am Ende der Frist für ihre Umsetzung, d. h. am 8. Oktober 2005, gemäß der Vorlageentscheidung noch nicht in das nationale Recht umgesetzt worden (siehe in diesem Sinne Urteil vom 29. November 2007, Kommission/Spanien, C-6/07, Slg. 2007, I-0000).

Zur unmittelbaren Wirkung von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 80/987

25 Abgesehen von der Prüfung der Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit eine noch nicht oder unzutreffend umgesetzte Richtlinienvorschrift vor einem nationalen Gericht geltend gemacht werden kann (vgl. Urteile vom 11. Juli 2002, Marks & Spencer, C-62/00, Slg. 2002, I-6325, Randnr. 25, und vom 8. Juni 2006, Feuerbestattungsverein Halle, C-430/04, Slg. 2006, I-4999, Randnrn. 28 und 29), kann eine Richtlinie nach ständiger Rechtsprechung erst nach dem Ablauf der für ihre Umsetzung in das nationale Recht vorgesehenen Frist unmittelbare Wirkung haben (Urteile vom 3. März 1994, Vaneetveld, C-316/93, Slg. 1994, I-763, Randnr. 16, und vom 14. September 2000, Mendes Ferreira und Delgado Correia Ferreira, C-348/98, Slg. 2000, I-6711, Randnr. 33).

26 Im vorliegenden Fall ist die Umsetzungsfrist gemäß Art. 2 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2002/74 am 8. Oktober 2005 abgelaufen. Für die Zwecke des Ausgangsverfahrens ist zu prüfen, ob nach diesem Tag eine unmittelbare Wirkung der genannten Richtlinie in Bezug auf einen Sachverhalt geltend gemacht werden kann, der sich davor zugetragen hat. Camisas Leica ist nämlich am 5. März 2003, d. h. vor Ablauf der Frist für die Umsetzung der Richtlinie, in Insolvenz gefallen, und die Klägerin des Ausgangsverfahrens hat über dieses Datum hinaus beim Fogasa auf ihrer Forderung bestanden, die sie im Hinblick auf die sich aus dieser Insolvenz ergebende Abfindungszahlung besitzt.

27 Insoweit lässt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 10. November 1992, Hansa Fleisch Ernst Mundt, C-156/91, Slg. 1992, I-5567, Randnr. 20, und Vaneetveld, Randnr. 18) ableiten, dass eine eventuelle unmittelbare Wirkung der Richtlinie 2002/74, wenn ein Mitgliedstaat diese nicht fristgerecht umgesetzt hat, ab 8. Oktober 2005 nur im Zusammenhang mit einem nach diesem Zeitpunkt eingetretenen Insolvenzfall geltend gemacht werden kann; ein solcher liegt aber im Ausgangsverfahren nicht vor.

28 Die Mitgliedstaaten waren zwar verpflichtet, ihre nationalen Vorschriften bis zum 8. Oktober 2005 mit der Richtlinie 2002/74 in Einklang zu bringen, jedoch gemäß Art. 2 Abs. 1 Unterabs. 2 dieser Richtlinie nur verpflichtet, die genannten Vorschriften auf nach dem Inkrafttreten dieser Vorschriften eintretende Insolvenzfälle anzuwenden.

29 Daher fallen nur solche Insolvenzen unter die Richtlinie 2002/74, die entweder nach deren Durchführung eingetreten sind, einschließlich derjenigen, die sich vor Ablauf der Umsetzungsfrist ergeben haben, oder die, bei fehlender Umsetzung, nach Ablauf der letztgenannten Frist eingetreten sind.

30 Somit ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass eine etwaige unmittelbare Wirkung von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 80/987 in dem Fall, dass die Richtlinie 2002/74 nicht bis zum 8. Oktober 2005 in nationales Recht umgesetzt worden ist, auf jeden Fall nicht im Hinblick auf eine davor eingetretene Insolvenz geltend gemacht werden kann.

Zum Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichheit

31 Die beiden Fragen des vorlegenden Gerichts betreffen zwar ihrem Wortlaut nach lediglich die unmittelbare Wirkung von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 80/987, aber hinsichtlich der Zeit zwischen dem Inkrafttreten der Richtlinie 2002/74 und dem Ablauf der Frist für ihre Umsetzung ist daran zu erinnern, dass der Gerichtshof in Vorabentscheidungsverfahren, wenn eine nationale Regelung in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts fällt, dem vorlegenden Gericht alle Auslegungshinweise zu geben hat, die es benötigt, um die Vereinbarkeit dieser Regelung mit den Grundrechten beurteilen zu können, deren Wahrung der Gerichtshof sichert (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 12. Dezember 2002, Rodríguez Caballero, C-442/00, Slg. 2002, I-11915, Randnr. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 10. April 2003, Steffensen, C-276/01, Slg. 2003, I-3735, Randnr. 70).

32 Es steht den Mitgliedstaaten zwar frei, im Rahmen der Richtlinie 80/987 in ihrer nationalen Rechtsordnung keine Garantie für die Zahlung von Abfindungen, die im Fall einer Kündigung geschuldet werden, vorzusehen, weil Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie keine derartige Verpflichtung enthält; aber seit dem Inkrafttreten der Richtlinie 2002/74, also dem 8. Oktober 2002, fällt eine nationale Regelung, die eine solche Garantie vorsieht, in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts, soweit es um die Anwendung auf Sachverhalte geht, die sich nach dem genannten Inkrafttreten zugetragen haben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. September 2006, Cordero Alonso, C-81/05, Slg. 2006, I-7569, Randnrn. 31 und 32). Eine solche Regelung muss daher seit diesem Zeitpunkt die allgemeinen Grundsätze und die Grundrechte beachten, deren Wahrung der Gerichtshof sichert. Dazu gehören insbesondere der allgemeine Grundsatz der Gleichheit und Nichtdiskriminierung (vgl. Urteil Rodríguez Caballero, Randnrn. 31 und 32).

33 Art. 33 Abs. 2 des Arbeitnehmerstatuts sieht im Fall der Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers eine solche Garantie für die Zahlung bestimmter Entschädigungen vor, die nach dem Arbeitnehmerstatut wegen Kündigung oder Vertragsauflösung zu leisten sind.

34 Daher ist festzustellen, dass die genannte nationale Vorschrift seit dem Inkrafttreten der Richtlinie 2002/74 unter Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 80/987 und damit in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts fällt. Sie muss deshalb seit diesem Zeitpunkt die in der gemeinschaftlichen Rechtsordnung anerkannten allgemeinen Grundsätze und Grundrechte beachten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. September 2006, Cordero Alonso, C-81/05, Slg. 2006, I-7569, Randnr. 37).

35 Es ist deshalb Sache des nationalen Gerichts, die im Ausgangsverfahren fragliche Regelung unter Beachtung der genannten allgemeinen Grundsätze und Grundrechte, insbesondere des Grundsatzes der Gleichheit, in ihrer Auslegung durch den Gerichtshof auszulegen (vgl. in diesem Sinne Beschluss Guerrero Pecino, Randnr. 30, und Urteil Cordero Alonso, Randnr. 38).

36 Der Gerichtshof hat in Bezug auf den letztgenannten Grundsatz, wonach gleiche Situationen nur dann unterschiedlich behandelt werden dürfen, wenn eine Differenzierung objektiv gerechtfertigt ist, im Hinblick auf die Regelung, um die es im Ausgangsverfahren geht, festgestellt, dass sich die rechtswidrig entlassenen Arbeitnehmer in einer gleichartigen Lage befinden, soweit sie für den Fall, dass sie nicht wieder eingestellt werden, Anspruch auf Entschädigung haben (vgl. Urteile Rodríguez Caballero, Randnr. 33, und vom 16. Dezember 2004, Olaso Valero, C-520/03, Slg. 2004, I-12065, Randnrn. 34 und 35).

37 Ferner hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass kein überzeugender Grund dafür vorgebracht worden ist, Ansprüche auf eine Entschädigung wegen rechtswidriger Kündigung, die durch ein Urteil oder eine Verwaltungsentscheidung zugesprochen werden, und Ansprüche auf eine entsprechende Entschädigung, die im Güteverfahren zugesprochen werden, unterschiedlich zu behandeln. Er hat daher die Schlussfolgerung gezogen, dass eine Regelung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Art gegen den Grundsatz der Gleichheit verstößt, wenn sie ausschließt, dass die zuständige Garantieeinrichtung die letztgenannten Ansprüche erfüllt (vgl. in diesem Sinne Urteil Olaso Valero, Randnrn. 36 und 37).

38 Hinzu kommt, dass der Grundsatz der Gleichheit bei einer derartigen Diskriminierung nur dadurch gewahrt werden kann, dass die Vergünstigungen, die die Mitglieder der begünstigten Gruppe erhalten, bis zur ordnungsgemäßen Umsetzung der Richtlinie auf die Mitglieder der benachteiligten Gruppe erstreckt werden (Urteile Rodríguez Caballero, Randnr. 42, und Cordero Alonso, Randnr. 45).

39 Nach alledem muss das nationale Gericht, wenn die nationale Regelung in den Anwendungsbereich der Richtlinie 80/987 fällt, in dem Fall, dass zwischen dem Inkrafttreten der Richtlinie 2002/74 und dem Ende der Frist für ihre Umsetzung eine Zahlungsunfähigkeit eingetreten ist, dafür sorgen, dass diese nationale Regelung im Einklang mit dem von der gemeinschaftlichen Rechtsordnung anerkannten Grundsatz der Nichtdiskriminierung angewandt wird.

Kostenentscheidung:

Kosten

40 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Tenor:

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:

1. In dem Fall, dass die Richtlinie 2002/74/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. September 2002 zur Änderung der Richtlinie 80/987/EWG des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers nicht bis zum 8. Oktober 2005 in nationales Recht umgesetzt worden ist, kann eine etwaige unmittelbare Wirkung von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 80/987/EWG des Rates vom 20. Oktober 1980 über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers in der durch die Richtlinie 2002/74 geänderten Fassung auf jeden Fall nicht im Hinblick auf eine vor dem 8. Oktober 2005 eingetretene Insolvenz geltend gemacht werden.

2. Das nationale Gericht muss, wenn die fragliche nationale Regelung in den Anwendungsbereich der Richtlinie 80/987 in der durch die Richtlinie 2002/74 geänderten Fassung fällt, in dem Fall, dass zwischen dem Inkrafttreten der letztgenannten Richtlinie und dem Ende der Frist für ihre Umsetzung eine Zahlungsunfähigkeit eingetreten ist, dafür sorgen, dass diese nationale Regelung im Einklang mit dem von der gemeinschaftlichen Rechtsordnung anerkannten Grundsatz der Nichtdiskriminierung angewandt wird.



Ende der Entscheidung

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