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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 09.09.2003
Aktenzeichen: C-25/02
Rechtsgebiete: Richtlinie 86/457/EWG des Rates vom 15. September 1986 über eine spezifische Ausbildung in der Allgemeinmedizin, Richtlinie 93/16/EWG des Rates vom 5. April 1993 zur Erleichterung der Freizügigkeit für Ärzte und zur gegenseitigen Anerkennung ihrer Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstigen Befähigungsnachweise, Richtlinie 76/207/EWG des Rates vom 9. Februar 1976 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg


Vorschriften:

Richtlinie 86/457/EWG des Rates vom 15. September 1986 über eine spezifische Ausbildung in der Allgemeinmedizin Art. 5
Richtlinie 93/16/EWG des Rates vom 5. April 1993 zur Erleichterung der Freizügigkeit für Ärzte und zur gegenseitigen Anerkennung ihrer Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstigen Befähigungsnachweise Art. 34
Richtlinie 76/207/EWG des Rates vom 9. Februar 1976 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg Art. 1
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Die Beachtung des Verbotes mittelbarer Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts, die zu den Grundrechten als allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts gehört, deren Einhaltung der Gerichtshof zu sichern hat, ist eine Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit jeder Handlung der Gemeinschaftsorgane.

( vgl. Randnrn. 25, 28, Tenor 1 )

2. Die Artikel 5 Absatz 1 der Richtlinie 86/457 über eine spezifische Ausbildung in der Allgemeinmedizin und 34 Absatz 1 der Richtlinie 93/16 zur Erleichterung der Freizügigkeit für Ärzte und zur gegenseitigen Anerkennung ihrer Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstigen Befähigungsnachweise, wonach die Teilzeitausbildung in der Allgemeinmedizin einige Abschnitte in Vollzeit umfassen muss, sind mit dem Verbot mittelbarer Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts im Sinne der Richtlinie 76/207 nicht unvereinbar.

Zwar benachteiligt ein solches Erfordernis nämlich erheblich mehr Personen weiblichen Geschlechts als solche des anderen Geschlechts, doch ist es als durch objektive Faktoren, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben, gerechtfertigt anzusehen, da der Gemeinschaftsgesetzgeber vernünftigerweise davon ausgehen konnte, dass dieses Erfordernis es dem Arzt ermöglicht, durch die Beobachtung von Krankheitsbildern bei Patienten in ihrer zeitlichen Entwicklung die erforderliche Erfahrung zu erwerben und ausreichende Erfahrung mit den unterschiedlichen Situationen zu sammeln, die sich speziell in einer allgemeinmedizinischen Praxis zeigen können.

( vgl. Randnrn. 35, 40, 42, Tenor 2 )


Urteil des Gerichtshofes vom 9. September 2003. - Katharina Rinke gegen Ärztekammer Hamburg. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Bundesverwaltungsgericht - Deutschland. - Gleichbehandlung von Männern und Frauen - Richtlinien 86/457/EWG und 93/16/EWG - Erfordernis, im Rahmen einer Teilzeitausbildung in der Allgemeinmedizin einige Abschnitte einer Vollzeitausbildung zu absolvieren. - Rechtssache C-25/02.

Parteien:

In der Rechtssache C-25/02

betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 234 EG vom Bundesverwaltungsgericht (Deutschland) in dem bei diesem anhängigen Rechtsstreit

Katharina Rinke

gegen

Ärztekammer Hamburg

vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung von Artikel 5 der Richtlinie 86/457/EWG des Rates vom 15. September 1986 über eine spezifische Ausbildung in der Allgemeinmedizin (ABl. L 267, S. 26) und Artikel 34 der Richtlinie 93/16/EWG des Rates vom 5. April 1993 zur Erleichterung der Freizügigkeit für Ärzte und zur gegenseitigen Anerkennung ihrer Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstigen Befähigungsnachweise (ABl. L 165, S. 1) und deren Vereinbarkeit mit dem in der Richtlinie 76/207/EWG des Rates vom 9. Februar 1976 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen (ABl. L 39, S. 40) verankerten Verbot der mittelbaren Diskriminierung aufgrund des Geschlechts

erlässt

DER GERICHTSHOF

unter Mitwirkung des Präsidenten G. C. Rodríguez Iglesias, der Kammerpräsidenten J.-P. Puissochet, M. Wathelet, R. Schintgen und C. W. A. Timmermans, der Richter C. Gulmann, D. A. O. Edward, A. La Pergola, P. Jann (Berichterstatter) und V. Skouris, der Richterinnen F. Macken und N. Colneric sowie der Richter S. von Bahr, J. N. Cunha Rodrigues und A. Rosas,

Generalanwalt: L. A. Geelhoed,

Kanzler: M.-F. Contet, Hauptverwaltungsrätin,

unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen

- von Frau Rinke, vertreten durch Rechtsanwältin D. Goergens,

- der schwedischen Regierung, vertreten durch A. Kruse als Bevollmächtigten,

- des Rates der Europäischen Union, vertreten durch A. Lo Monaco und J.-P. Hix als Bevollmächtigte,

- der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch M. Patakia, N. Yerrell und B. Martenczuk als Bevollmächtigte,

aufgrund des Sitzungsberichts,

nach Anhörung der mündlichen Ausführungen von Frau Rinke, des Rates und der Kommission in der Sitzung vom 12. November 2002,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 6. Februar 2003

folgendes

Urteil

Entscheidungsgründe:

1 Das Bundesverwaltungsgericht hat mit Beschluss vom 8. November 2001, beim Gerichtshof eingegangen am 31. Januar 2002, gemäß Artikel 234 EG zwei Fragen nach der Auslegung von Artikel 5 der Richtlinie 86/457/EWG des Rates vom 15. September 1986 über eine spezifische Ausbildung in der Allgemeinmedizin (ABL. L 267, S. 26) und Artikel 34 der Richtlinie 93/16/EWG des Rates vom 5. April 1993 zur Erleichterung der Freizügigkeit für Ärzte und zur gegenseitigen Anerkennung ihrer Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstigen Befähigungsnachweise (ABL. L 165, S. 1) und deren Vereinbarkeit mit dem in der Richtlinie 76/207/EWG des Rates vom 9. Februar 1976 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen (ABL. L 39, S. 40) verankerten Verbot der mittelbaren Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen Frau Rinke und der Ärztekammer Hamburg über deren Weigerung, Frau Rinke ein Zeugnis über die spezifische Ausbildung in der Allgemeinmedizin" auszustellen und ihr die Berechtigung zu verleihen, die Bezeichnung praktische Ärztin" zu führen.

Rechtlicher Rahmen

3 Die Richtlinie 76/207 hat nach ihrem Artikel 1 Absatz 1 zum Ziel, dass in den Mitgliedstaaten der Grundsatz der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, einschließlich des Aufstiegs, und des Zugangs zur Berufsbildung sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen und in Bezug auf die soziale Sicherheit verwirklicht wird.

4 Der Grundsatz der Gleichbehandlung im Sinne des Artikels 2 Absatz 1 der Richtlinie 76/207 bedeutet, dass keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts - insbesondere unter Bezugnahme auf den Ehe- oder Familienstand - erfolgen darf.

5 Nach Artikel 3 der Richtlinie 76/207 bedeutet die Anwendung des Grundsatzes der Gleichbehandlung, dass bei den Bedingungen des Zugangs zu den Beschäftigungen oder Arbeitsplätzen und zu allen Stufen der beruflichen Rangordnung keine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts erfolgt.

6 Nach dieser Bestimmung sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, die notwendigen Maßnahmen zu treffen, um sicherzustellen, dass die mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung unvereinbaren Rechts- und Verwaltungsvorschriften beseitigt werden.

7 Die gleiche Verpflichtung trifft die Mitgliedstaaten aufgrund von Artikel 4 Buchstabe a der Richtlinie 76/207 in Bezug auf den Zugang zu allen Arten und Stufen der Berufsberatung, der Berufsbildung, der beruflichen Weiterbildung und Umschulung.

8 Die Richtlinie 86/457 sieht in Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe b vor, dass die spezifische Ausbildung in der Allgemeinmedizin als mindestens zweijährige Vollzeitausbildung erfolgen muss.

9 Artikel 5 der Richtlinie 86/457 hat folgenden Wortlaut:

(1) Unbeschadet des in Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe b) genannten Grundsatzes der Vollzeitausbildung können die Mitgliedstaaten neben der Vollzeitausbildung eine spezifische Teilzeitausbildung in der Allgemeinmedizin zulassen, sofern folgende Einzelbedingungen erfuellt sind:

- die Gesamtdauer der Ausbildung darf nicht dadurch verkürzt werden, dass sie in Teilzeit erfolgt;

- die wöchentliche Ausbildungsdauer der Teilzeitausbildung darf nicht unter 60 % der wöchentlichen Ausbildungsdauer in Vollzeit betragen;

- die Teilzeitausbildung muss einige Abschnitte einer Vollzeitausbildung umfassen, und zwar sowohl bei dem in Krankenhäusern stattfindenden Ausbildungsteil als auch bei dem in einer zugelassenen Allgemeinpraxis oder in einem zugelassenen Zentrum für Erstbehandlung stattfindenden Teil. Zahl und Dauer dieser Abschnitte der Vollzeitausbildung werden so festgelegt, dass sie eine entsprechende Vorbereitung auf die tatsächliche Ausübung der Tätigkeit des praktischen Arztes gewährleisten.

(2) Die Teilzeitausbildung muss der Vollzeitausbildung qualitativ entsprechen. Sie wird mit dem Diplom, Prüfungszeugnis oder sonstigen Befähigungsnachweis im Sinne von Artikel 1 abgeschlossen."

10 Die Richtlinie 86/457 wurde in die Richtlinie 93/16 aufgenommen.

11 Artikel 34 der Richtlinie 93/16 hat den gleichen Inhalt wie Artikel 5 der Richtlinie 86/457.

12 Artikel 25 der Richtlinie 93/16 gestattet den Mitgliedstaaten, eine sonstige ärztliche Weiterbildung zum Facharzt auf Teilzeitbasis unter besonderen, von den zuständigen innerstaatlichen Behörden genehmigten Bedingungen zuzulassen, wenn eine Weiterbildung auf Vollzeitbasis aus stichhaltigen Gründen nicht möglich wäre. Im Gegensatz zu Artikel 34 dieser Richtlinie enthält Artikel 25 nicht das Erfordernis, einige Abschnitte einer Vollzeitausbildung zu absolvieren.

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

13 Frau Rinke ist promovierte Ärztin. Im Rahmen ihrer Weiterbildung in der Allgemeinmedizin war sie unter anderem vom 1. April 1994 bis zum 31. März 1995 als Weiterbildungsassistentin in einer Praxis für Allgemeinmedizin mit mehr als 60 % der normalen Arbeitszeit beschäftigt.

14 Am 4. Mai 1995 beantragte sie bei der Beklagten ein Zeugnis über die spezifische Ausbildung in der Allgemeinmedizin" verbunden mit der Berechtigung, die Bezeichnung praktische Ärztin" zu führen. Mit Bescheid vom 5. Mai 1995 lehnte die Beklagte den Antrag mit der Begründung ab, nach § 13b Absatz 2 Satz 1 des Hamburgischen Ärztegesetzes müsse die vorgeschriebene Ausbildung in einer Praxis für Allgemeinmedizin mindestens sechs Monate lang in Vollzeit erfolgen.

15 Gegen diese Entscheidung erhob Frau Rinke Klage beim Verwaltungsgericht, die sie darauf stützte, dass die Regelung des Hamburgischen Ärztegesetzes gegen das gemeinschaftsrechtliche Diskriminierungsverbot der Richtlinie 76/207 verstoße. Das Erfordernis des Artikels 5 Absatz 1 der Richtlinie 86/457 müsse hinter diesem Diskriminierungsverbot zurücktreten.

16 Die Ärztekammer Hamburg trug vor, die gesetzlich geforderte Vollzeitausbildung sei sachlich gerechtfertigt.

17 Das Verwaltungsgericht wies die Klage ab. Die dagegen gerichtete Revision wies das Bundesverwaltungsgericht am 18. Februar 1999 zurück. Die vom hamburgischen Gesetzgeber getroffene Regelung sei gemeinschaftsrechtlich jedenfalls durch Artikel 34 Absatz 1 der Richtlinie 93/16 gerechtfertigt, der mit Artikel 5 Absatz 1 der Richtlinie 86/457 übereinstimme. Diese Regelung gehe der Gleichbehandlungsrichtlinie 76/207 vor, weil es sich um die speziellere und zeitlich spätere Regelung handele. Sie verstoße weder gegen das Willkürverbot noch gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.

18 Das Bundesverfassungsgericht hob dieses Urteil auf eine Verfassungsbeschwerde von Frau Rinke durch Beschluss vom 9. Januar 2001 auf und verwies das Verfahren an das Bundesverwaltungsgericht zurück. Das Bundesverwaltungsgericht habe das Recht der Klägerin des Ausgangsverfahrens auf den gesetzlichen Richter verletzt, weil es die Frage des Verhältnisses von Artikel 34 Absatz 1 der Richtlinie 93/16 zur Gleichbehandlungsrichtlinie 76/207 nicht dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorgelegt habe. Die Auslegungsgrundsätze der Spezialität und des Vorrangs der späteren Norm müssten nicht ohne weiteres auch für das Gemeinschaftsrecht gelten. Außerdem komme in Betracht, dass das Diskriminierungsverbot im Gemeinschaftsrecht den Rang eines Grundrechts einnehme und deshalb der Richtlinie 93/16 vorgehe.

19 Mit Beschluss vom 8. November 2001 hat das Bundesverwaltungsgericht das Verfahren ausgesetzt. Es stehe zwar außer Frage, dass der Ausschluss der Möglichkeit, die Ausbildung vollständig in Teilzeit zu absolvieren, Frauen stärker betreffe als Männer, weil sie nach aller Erfahrung in erheblich höherem Maße die Möglichkeiten einer Teilzeitbeschäftigung in Anspruch nähmen. Dennoch sei es zweifelhaft, ob die Richtlinie 76/207 hier einschlägig sei. Im Gegensatz zu den in der Rechtsprechung des Gerichtshofes behandelten Fällen der Benachteiligung von teilzeitbeschäftigten Arbeitnehmern gegenüber Vollzeitbeschäftigten gehe es im vorliegenden Fall nicht darum, dass an bestimmte Beschäftigungsmodalitäten nachteilige Rechtsfolgen geknüpft würden. Der Gesetzgeber schließe vielmehr eine bestimmte Beschäftigungsform - die Teilzeit - für alle betroffenen Arbeitnehmer aus.

20 Des Weiteren könnte das Erfordernis einer Vollzeitausbildung in der Allgemeinarztpraxis durch Faktoren gerechtfertigt sein, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun hätten. Andererseits schreibe Artikel 25 der Richtlinie 93/16 für die Weiterbildung zum Facharzt eine Vollzeitausbildung nicht zwingend vor.

21 Sollte das Erfordernis einer Vollzeitausbildung gegen das Diskriminierungsverbot verstoßen, stelle sich die Frage, wie eine solche Normenkollision aufzulösen sei.

22 Das Bundesverwaltungsgericht hat daher beschlossen, dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1. Stellt das in den Richtlinien 86/457/EWG und 93/16/EWG festgelegte Erfordernis, bestimmte Teile der spezifischen Ausbildung in der Allgemeinmedizin zur Erlangung der Bezeichnung praktischer Arzt" bzw. praktische Ärztin" als Vollzeitbeschäftigung zu absolvieren, eine mittelbare Benachteiligung wegen des Geschlechts im Sinne der Richtlinie 76/207/EWG dar?

2. Im Falle der Bejahung von Frage 1:

a) Wie ist die Normenkollision zwischen der Richtlinie 76/207/EWG einerseits und den Richtlinien 86/457/EWG und 93/16/EWG andererseits zu lösen?

b) Gehört das Verbot der mittelbaren Diskriminierung wegen des Geschlechts zum gemeinschaftsrechtlichen Bestand ungeschriebener Grundrechte, die eine entgegenstehende Norm des sekundären Gemeinschaftsrechts verdrängen?

Zu den Vorlagefragen

23 Die zweite Vorlagefrage ist zuerst zu prüfen.

Zur zweiten Frage

24 Wie die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen zutreffend bemerkt, ist die Richtlinie 76/207 an die Mitgliedstaaten und nicht an die Gemeinschaftsorgane gerichtet. Demzufolge erlegen die Bestimmungen der Richtlinie 76/207 als solche dem Rat bei der Ausübung seiner Rechtssetzungsbefugnisse keine Verpflichtungen auf.

25 Wie alle Beteiligten, die in der vorliegenden Rechtssache Erklärungen abgegeben haben, ausgeführt haben, gehört jedoch die Beseitigung der auf dem Geschlecht beruhenden Diskriminierungen zu den Grundrechten als allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts, deren Einhaltung der Gerichtshof zu sichern hat (Urteile vom 15. Juni 1978 in der Rechtssache 149/77, Defrenne, Slg. 1978, 1365, Randnrn. 26 und 27, und vom 30. April 1996 in der Rechtssache C-13/94, P./S., Slg. 1996, I-2143, Randnr. 19).

26 Ferner steht fest, dass die Wahrung der Grundrechte eine Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit der Gemeinschaftshandlungen ist (Gutachten 2/94 vom 28. März 1996, Slg. 1996, I-1759, Randnr. 34, und Urteil vom 17. Februar 1998 in der Rechtssache C-249/96, Grant, Slg. 1998, I-621, Randnr. 45).

27 Folglich wäre eine Richtlinienbestimmung, die der Rat unter Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung von Männern und Frauen erlassen hätte, rechtswidrig.

28 Demnach ist auf die zweite Frage zu antworten, dass die Beachtung des Verbotes mittelbarer Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts eine Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit jeder Handlung der Gemeinschaftsorgane ist.

Zur ersten Frage

Vorbringen der Beteiligten

29 Frau Rinke und die schwedische Regierung vertreten die Ansicht, dass die Bestimmungen, wonach die Teilzeitausbildung in der Allgemeinmedizin einige Abschnitte der Vollzeitausbildung umfassen müsse, wesentlich mehr Frauen als Männer benachteiligten. Es liege somit eine mittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts vor, es sei denn, die betreffenden Bestimmungen seien durch geschlechtsunabhängige objektive Faktoren gerechtfertigt. Eine solche Rechtfertigung gebe es hier aber nicht, wie der Umstand zeige, dass alle übrigen Weiterbildungen zu Fachärzten vollständig in Teilzeit absolviert werden könnten. Das angebliche Ziel der betreffenden Bestimmungen, die Verbesserung des Gesundheitsschutzes der Bevölkerung, lasse sich durch andere, nichtdiskriminierende Maßnahmen erreichen.

30 Der Rat und die Kommission sind hingegen der Meinung, dass der Grundsatz der Gleichbehandlung nicht verletzt sei. Nach Ansicht des Rates benachteiligen die in Rede stehende Bestimmungen Ärzte, die eine Teilzeitausbildung absolvierten, gegenüber ihren Kollegen, die eine Vollzeitausbildung absolvierten, nicht. Die Bedingungen für den Zugang zum Beruf seien gleich, da für beide Gruppen von Ärzten in der Weiterbildung eine praktische Ausbildung und Abschnitte einer Vollzeitausbildung obligatorisch seien. Die Kommission trägt vor, dass die Frage, ob das fragliche Erfordernis sich auf wesentlich mehr Frauen als Männer auswirke, Sache des nationalen Gerichts sei, das dabei die verfügbaren statistischen Informationen heranzuziehen habe. Die sehr allgemeinen Feststellungen im Vorlagebeschluss genügten nicht den Anforderungen an die Feststellung einer mittelbaren Diskriminierung.

31 Jedenfalls sind die Artikel 5 Absatz 1 der Richtlinie 86/457 und 34 Absatz 1 der Richtlinie 93/16 nach Meinung der beiden Gemeinschaftsorgane durch objektive Gründe gerechtfertigt, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben. Die Bestimmungen sollen nämlich eine qualitativ hochwertige Ausbildung gewährleisten, um einerseits die Freizügigkeit für praktische Ärzte zu ermöglichen und andererseits ein hohes Gesundheitsschutzniveau sicherzustellen. Eine Teilzeitausbildung in der Allgemeinmedizin werfe eine Reihe von Problemen auf, die sich nur dadurch beheben ließen, dass bestimmte Abschnitte der Ausbildung in Vollzeit absolviert würden. Zur Möglichkeit für Fachärzte, ihre gesamte Weiterbildung in Teilzeit zu absolvieren, vertritt die Kommission die Ansicht, diese hätten nicht die gleiche zentrale Stellung im Gesundheitssystem wie die Allgemeinärzte.

Würdigung durch den Gerichtshof

32 Erstens ist festzustellen, dass die Vorschrift, wonach die Teilzeitausbildung einige Abschnitte in Vollzeit umfassen muss, keine unmittelbare Diskriminierung enthält, da sie unterschiedslos für männliche und weibliche Arbeitnehmer gilt. Somit ist zu prüfen, ob sie eine mittelbare Diskriminierung darstellen kann.

33 Nach ständiger Rechtsprechung enthält eine Bestimmung dann eine mittelbare Diskriminierung weiblicher Arbeitnehmer, wenn sie zwar neutral gefasst ist, jedoch tatsächlich prozentual erheblich mehr Frauen als Männer benachteiligt, es sei denn, dass diese Maßnahme durch objektive Faktoren gerechtfertigt ist, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. April 2000 in der Rechtssache C-226/98, Jørgensen, Slg. 2000, I-2447, Randnr. 29).

34 Es ist daher zu prüfen, ob das Erfordernis, wonach die Weiterbildung in der Allgemeinmedizin einige Abschnitte in Vollzeit umfassen muss, tatsächlich prozentual erheblich mehr Frauen als Männer benachteiligt.

35 Wie die statistischen Angaben zeigen, auf die der Generalanwalt in den Nummern 36 und 37 seiner Schlussanträge hingewiesen hat, ist der Prozentsatz teilzeitbeschäftigter Frauen viel höher als der Prozentsatz der Männer, die einer Berufstätigkeit in Teilzeit nachgehen, bezogen auf die Gesamtheit der berufstätigen Männer. Dieser Umstand, der insbesondere dadurch zu erklären ist, dass die Familienarbeit zwischen Frauen und Männern ungleich verteilt ist, zeigt, dass prozentual erheblich mehr Frauen als Männer, die sich in der Allgemeinmedizin weiterbilden möchten, Schwierigkeiten haben, während eines bestimmten Teils ihrer Weiterbildung einer Arbeit in Vollzeit nachzugehen. Ein solches Erfordernis benachteiligt daher tatsächlich besonders Frauen gegenüber Männern.

36 Demnach ist zu prüfen, ob ein solches Erfordernis durch objektive Faktoren gerechtfertigt ist, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben.

37 Wie aus der dritten Begründungserwägung der Richtlinie 86/457 und der sechzehnten Begründungserwägung der Richtlinie 93/16 hervorgeht, soll die spezifische Ausbildung zum praktischen Arzt diesen besser auf seine ihm eigene Tätigkeit vorbereiten, wobei es für diese Tätigkeit besonders wichtig ist, dass der Arzt das soziale Umfeld seiner Patienten persönlich kennt und sie als Gesamtpersönlichkeit in Fragen der Krankheitsverhütung und des Gesundheitsschutzes berät und in geeigneter Weise behandelt.

38 Wie der Rat und die Kommission zutreffend ausführen, erleichtert die Harmonisierung dieser Ausbildung auf Gemeinschaftsebene nicht nur die Freizügigkeit der Ärzte, sondern trägt auch zu einem höheren Gesundheitsschutzniveau in der Gemeinschaft bei.

39 Bei der Verfolgung dieser Ziele muss dem Gemeinschaftsgesetzgeber ein weiter Beurteilungsspielraum eingeräumt sein, der jedoch nicht dazu führen darf, dass ein tragender Grundsatz des Gemeinschaftsrechts wie der der Beseitigung mittelbarer Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts ausgehöhlt wird.

40 In den Artikeln 5 Absatz 1 der Richtlinie 86/457 und 34 Absatz 1 der Richtlinie 93/16 ist der Gemeinschaftsgesetzgeber davon ausgegangen, dass eine entsprechende Vorbereitung auf die tatsächliche Ausübung der Tätigkeit des praktischen Arztes einige Abschnitte einer Vollzeitausbildung erfordere, und zwar sowohl bei dem in Krankenhäusern stattfindenden Ausbildungsteil als auch bei dem in einer zugelassenen Allgemeinpraxis oder in einem zugelassenen Zentrum für Erstbehandlung stattfindenden Teil. Diese Maßnahme kann als zur Erreichung der verfolgten Ziele geeignet angesehen werden. Der Gemeinschaftsgesetzgeber konnte nämlich vernünftigerweise davon ausgehen, dass sie es dem Arzt ermöglicht, durch die Beobachtung von Krankheitsbildern bei Patienten in ihrer zeitlichen Entwicklung die erforderliche Erfahrung zu erwerben und ausreichende Erfahrung mit den unterschiedlichen Situationen zu sammeln, die sich speziell in einer allgemeinmedizinischen Praxis zeigen können.

41 Der Gemeinschaftsgesetzgeber hat es dem einzelstaatlichen Gesetzgeber überlassen, Zahl und Dauer der Weiterbildungsabschnitte in Vollzeit festzulegen. Er hat lediglich vorgeschrieben, dass Zahl und Dauer dieser Abschnitte so festgelegt werden müssen, dass sie eine entsprechende Vorbereitung auf die tatsächliche Ausübung der Tätigkeit des praktischen Arztes gewährleisten. Unter Berücksichtigung des Beurteilungsspielraums, über den der Gemeinschaftsgesetzgeber in dem betreffenden Bereich verfügt, kann eine solche Maßnahme als nicht über das hinausgehend angesehen werden, was zur Erreichung der in Randnummer 38 dargelegten Ziele erforderlich ist.

42 Folglich ist das fragliche Erfordernis als durch objektive Faktoren, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben, als gerechtfertigt anzusehen.

43 Daher ist zu antworten, dass die Prüfung der ersten Vorlagefrage nichts ergeben hat, was die Gültigkeit der Bestimmung in den Artikeln 5 Absatz 1 der Richtlinie 86/457 und 34 Absatz 1 der Richtlinie 93/16, wonach die Teilzeitausbildung in der Allgemeinmedizin einige Abschnitte in Vollzeit umfassen muss, beeinträchtigen könnte.

Kostenentscheidung:

Kosten

44 Die Auslagen der schwedischen Regierung sowie des Rates und der Kommission, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

auf die ihm vom Bundesverwaltungsgericht mit Beschluss vom 8. November 2001 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

1. Die Beachtung des Verbotes mittelbarer Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts ist eine Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit jeder Handlung der Gemeinschaftsorgane.

2. Die Prüfung der ersten Vorlagefrage hat nichts ergeben, was die Gültigkeit der Bestimmung in den Artikeln 5 Absatz 1 der Richtlinie 86/457/EWG des Rates vom 15. September 1986 über eine spezifische Ausbildung in der Allgemeinmedizin und 34 Absatz 1 der Richtlinie 93/16/EWG des Rates vom 5. April 1993 zur Erleichterung der Freizügigkeit für Ärzte und zur gegenseitigen Anerkennung ihrer Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstigen Befähigungsnachweise, wonach die Teilzeitausbildung in der Allgemeinmedizin einige Abschnitte in Vollzeit umfassen muss, beeinträchtigen könnte.

Ende der Entscheidung

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