Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 06.02.1992
Aktenzeichen: C-253/90
Rechtsgebiete: EWGV, VO Nr. 1408/71/EWG


Vorschriften:

EWGV Art. 169
VO Nr. 1408/71/EWG Art. 33
VO Nr. 1408/71/EWG Art. 13
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Der Grundsatz, daß auf Arbeitnehmer, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, die Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats anwendbar sind, gilt nur für die Sachverhalte, auf die sich die Artikel 13 Absatz 2 und 14 bis 17 der Verordnung Nr. 1408/71 beziehen, d. h. die Vorschriften, die das im jeweiligen Fall anzuwendende Recht bestimmen.

Da sich die Empfänger zusätzlicher Altersrenten nicht in einer Lage befinden, auf die sich diese Artikel beziehen, kann der Grundsatz, daß die Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats anwendbar sind, nicht zu ihren Gunsten geltend gemacht werden.

2. Die aufgrund von tarifvertraglich eingeführten Regelungen, die keine Rechtsvorschriften im Sinne des Artikels 1 Buchstabe j Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 darstellen, gewährten zusätzlichen Altersrenten fallen nicht in den Geltungsbereich dieser Verordnung. Artikel 33 dieser Verordnung, der es den Mitgliedstaaten untersagt, Beiträge von den gesetzlichen Renten der Gemeinschaftsbürger einzubehalten, wenn die Leistungen, zu deren Deckung sie erhoben werden, nicht zu Lasten eines Trägers dieser Mitgliedstaaten gehen, kann also nicht einem Mitgliedstaat entgegengehalten werden, der einen Beitrag für die Versicherung gegen Krankheit und Mutterschaft auf Vorruhestandsgelder und zusätzliche Altersrenten tarifvertraglicher Natur erhebt, die an Personen gewährt werden, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen und aufgrund der Rechtsvorschriften dieses Staates Leistungen bei Krankheit erhalten.


URTEIL DES GERICHTSHOFES VOM 6. FEBRUAR 1992. - KOMMISSION DER EUROPAEISCHEN GEMEINSCHAFTEN GEGEN KOENIGREICH BELGIEN. - SOZIALE SICHERHEIT - KRANKENVERSICHERUNGSBEITRAEGE VON ZUSATZRENTEN ODER ANDEREN LEISTUNGEN, DIE AN DIE STELLE EINER GESETZLICHEN ALTERS- ODER HINTERBLIEBENENRENTE ODER EINES GESETZLICHEN ALTERSRUHEGELDS TRETEN - PERSONEN, DIE IN EINEM ANDEREN MITGLIEDSTAAT ALS BELGIEN WOHNEN. - RECHTSSACHE C-253/90.

Entscheidungsgründe:

1 Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat mit Klageschrift, die am 20. August 1990 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 169 EWG-Vertrag Klage erhoben auf Feststellung, daß das Königreich Belgien dadurch gegen seine Verpflichtungen aus dem EWG-Vertrag und insbesondere aus Artikel 13 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 33 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der Fassung der Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 (ABl. L 230, S. 6) verstossen hat, daß es Krankenversicherungsbeiträge von zusätzlichen Altersrenten oder von sonstigen Leistungen einbehält, die an die Stelle der gesetzlichen Altersrenten, Altersruhegelder, Ruhegehälter und Hinterbliebenenrenten von Gemeinschaftsangehörigen treten, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, nach dessen Rechtsvorschriften sie Anspruch auf Leistungen bei Krankheit haben.

2 Artikel 13 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 bestimmt, daß Personen, für die diese Verordnung gilt, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats unterworfen sind. Gemäß Artikel 33 der Verordnung darf der Träger eines Mitgliedstaats, der eine Rente schuldet, wenn die für ihn geltenden Rechtsvorschriften vorsehen, daß von dem Rentner zur Deckung der Leistungen bei Krankheit und Mutterschaft Beiträge einbehalten werden, diese Beiträge von der von ihm geschuldeten Rente in der nach den betreffenden Rechtsvorschriften berechneten Höhe einbehalten, soweit die Kosten der Leistungen aufgrund der Artikel 27, 28, 28a, 29, 31 und 32 zu Lasten eines Trägers des genannten Mitgliedstaats gehen.

3 Das belgische Gesetz vom 9. August 1963 über die Einrichtung und den Aufbau eines Systems der Pflichtversicherung gegen Krankheit und Invalidität (Moniteur belge vom 1. und 2. November 1963, S. 10555) sieht in Artikel 121-10 in der Fassung des Artikels 161 des Gesetzes vom 8. August 1980 über die Haushaltsvoranschläge 1979/1980 (Moniteur belge vom 15. August 1980, S. 9514) vor, daß von gesetzlichen Altersrenten, Altersruhegeldern, Ruhegehältern und Hinterbliebenenrenten oder von anderen Leistungen, die anstelle solcher Renten gezahlt werden, sowie von Leistungen, die zur Ergänzung solcher Renten gewährt werden, ein Betrag einzubehalten ist, der dem Institut national d' assurance maladie (Staatliche Anstalt für Krankenversicherung) zufließt. Infolge des Urteils vom 28. März 1985 in der Rechtssache 275/83 (Kommission/Belgien, Slg. 1985, 1097) gilt die genannte Regelung nicht mehr für die gesetzlichen Altersrenten, Altersruhegelder, Ruhegehälter und Hinterbliebenenrenten von Gemeinschaftsangehörigen, die in einem anderen Mitgliedstaat als Belgien wohnen. Sie wird aber weiterhin angewandt auf zusätzliche Altersrenten dieser Staatsangehörigen.

4 Wegen weiterer Einzelheiten des rechtlichen Rahmens und der Vorgeschichte des Rechtsstreits sowie des Vorbringens der Parteien wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

5 Die Kommission macht geltend, es sei mit Artikel 13 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 33 der Verordnung Nr. 1408/71 unvereinbar, daß belgische Einrichtungen einen Beitrag zur Kranken- und Mutterschaftsversicherung von den zusätzlichen Altersrenten einbehielten, die an Personen mit Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat gezahlt würden, die nach dem Recht dieses Staates Leistungen bei Krankheit bezögen.

6 Nach Ansicht der Kommission ist in Artikel 13 Absatz 1 der wichtige Grundsatz verankert, daß die Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats anwendbar seien; dieser Grundsatz werde durch Artikel 33 im Bereich der Krankenversicherungsbeiträge konkretisiert, die von den von der Verordnung erfassten Leistungen bei Alter abgezogen würden. Auf diesen Grundsatz könne man sich als einen schon vor der Verordnung Nr. 1408/71 geltenden allgemeinen Grundsatz berufen, und er sei auch im vorliegenden Fall zu beachten, obwohl die Regelungen über zusätzliche Altersversorgung an sich nicht zum sachlichen Geltungsbereich der Verordnung gehören.

7 Der Gerichtshof habe in Urteilen zu vor dem Inkrafttreten der Verordnung Nr. 1408/71 liegenden Sachverhalten die Artikel 48 und 51 EWG-Vertrag im Sinne eines solchen Grundsatzes ausgelegt, wonach die Anwendung der Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten oder unsachgemässe Überlagerungen von Belastungen und Verantwortlichkeiten auszuschließen seien, die sich daraus ergeben würden. Nach Ansicht der Kommission hat der Gerichtshof eine Parallelität zwischen dem für die Beiträge und dem für den Leistungsanspruch geltenden System hergestellt.

8 Das Königreich Belgien bestreitet, daß es einen allgemeinen Grundsatz gebe, daß die Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats anwendbar seien. Ein solcher Grundsatz könne weder aus einer gemeinschaftsrechtlichen Regelung hergeleitet noch einem allgemeinen Grundsatz entnommen werden, der in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gelte.

9 Zunächst ist festzustellen, daß die Empfänger zusätzlicher Altersrenten Arbeitnehmer im Sinne des Artikels 1 Buchstabe a der Verordnung Nr. 1408/71 sind und daß sie in den persönlichen Geltungsbereich dieser Verordnung, wie er in Artikel 2 umschrieben ist, fallen.

10 Ferner ist festzustellen, daß nach ständiger Rechtsprechung (vgl. insbesondere Urteil vom 10. Juli 1986 in der Rechtssache 60/85, Luijten, Slg. 1986, 2365, Randnrn. 12 und 13) der - schon zur Zeit der Geltung der Verordnung Nr. 3 des Rates über die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer angewandte - Grundsatz, daß auf Arbeitnehmer, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, die Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats anwendbar sind, im Titel II der Verordnung Nr. 1408/71 über die "Bestimmung der anzuwendenden Rechtsvorschriften" verankert ist. Nach seinem Artikel 13 Absatz 1 unterliegen die Betroffenen den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats; welches diese Rechtsvorschriften sind, "bestimmt sich nach diesem Titel".

11 Dieser Grundsatz, daß die Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats anwendbar sind, gilt jedoch nur für die Sachverhalte, auf die sich die Artikel 13 Absatz 2 und 14 bis 17 der Verordnung beziehen, d. h. die Vorschriften, die das im jeweiligen Fall anzuwendende Recht bestimmen. Wie sich nämlich aus dem Urteil vom 21. Februar 1991 in der Rechtssache C-140/88 (Noij, Slg. 1991, I-387, Randnrn. 9 und 10) ergibt, können Personen wie etwa Arbeitnehmer, die eine Berufstätigkeit endgültig aufgegeben haben und bei denen keine der in diesem Artikel behandelten Fallgestaltungen vorliegt, gleichzeitig den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten unterworfen sein.

12 Da sich die Empfänger einer zusätzlichen Altersrente nicht in einer Lage befinden, auf die sich die Artikel 13 Absatz 2 und 14 bis 17 der Verordnung Nr. 1408/71 beziehen, kann folglich der Grundsatz, daß die Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats anwendbar sind, nicht zu ihren Gunsten geltend gemacht werden.

13 Was Artikel 33 der Verordnung Nr. 1408/71 anbelangt, ergibt sich schon aus dem Urteil vom 28. März 1985 (a. a. O.), daß die in Artikel 121-10 des Gesetzes vom 9. August 1963 vorgesehenen Abzuege von den gesetzlichen Altersrenten, Altersruhegeldern, Ruhegehältern und Hinterbliebenenrenten, auch wenn es an einer unmittelbaren Beziehung zwischen Beitrag und versichertem Risiko fehlt, nicht vorgenommen werden können, wenn die entsprechenden Leistungen bei Krankheit und Mutterschaft nicht zu Lasten eines Trägers dieses Mitgliedstaates gehen.

14 Abschnitt 5 von Titel III der Verordnung Nr. 1408/71, zu dem Artikel 33 gehört und der die Überschrift "Rentenberechtigte und deren Familienangehörige" trägt, gilt jedoch nur für Empfänger von Ruhegeldern oder Renten, die nach den Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten zu zahlen sind. Als Staat, der ein Ruhegeld oder eine Rente im Sinne von Artikel 33 schuldet, ist also jeder Staat anzusehen, der nach seinen Rechtsvorschriften ein Ruhegeld oder eine Rente schuldet.

15 Gemäß Artikel 1 Buchstabe j Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 sind unter dem Begriff "Rechtsvorschriften" für jeden Mitgliedstaat die bestehenden und künftigen Gesetze, Verordnungen, Satzungen und alle anderen Durchführungsvorschriften zu verstehen, die sich auf die in Artikel 4 Absätze 1 und 2 genannten Zweige und Systeme der sozialen Sicherheit beziehen.

16 Nach Absatz 2 dieser Vorschrift umfasst der Begriff "Rechtsvorschriften" aber bestehende oder künftige tarifvertragliche Vereinbarungen nicht, selbst wenn eine behördliche Entscheidung sie für allgemein verbindlich erklärt oder ihren Geltungsbereich erweitert hat, soweit diese Einschränkung nicht in den in diesem Absatz vorgesehenen Fällen durch eine Erklärung des betreffenden Mitgliedstaats aufgehoben worden ist.

17 Da die fraglichen belgischen Regelungen - wie die Kommission übrigens in ihrer Klageschrift anerkannt hat - keine Rechtsvorschriften im Sinne des Artikels 1 Buchstabe j Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 darstellen, ist Artikel 33 auf sie nicht anwendbar.

18 Nach alledem und ohne daß es nötig wäre, auf das übrige Verteidigungsvorbringen des Königreichs Belgien einzugehen, ist festzustellen, daß das Königreich Belgien nicht gegen seine Verpflichtungen aus dem EWG-Vertrag und insbesondere nicht gegen die Artikel 13 Absatz 1 und 33 der Verordnung Nr. 1408/71 verstossen hat.

Kostenentscheidung:

Kosten

19 Gemäß Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kommission mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr die Kosten aufzuerlegen.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

für Recht erkannt und entschieden:

1) Die Klage wird abgewiesen.

2) Die Kommission trägt die Kosten des Verfahrens.

Ende der Entscheidung

Zurück