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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 01.04.1993
Aktenzeichen: C-260/91
Rechtsgebiete: EWG-Vertrag, Verordnung Nr. 744/87 vom 06.03.1987


Vorschriften:

EWG-Vertrag Art. 177
EWG-Vertrag Art. 190
Verordnung Nr. 744/87 vom 06.03.1987 Art. 3 Abs. 2
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Der Grundsatz der Rechtssicherheit verbietet es zwar im allgemeinen, den Beginn der zeitlichen Geltung eines Rechtsakts der Gemeinschaft auf einen Zeitpunkt vor dessen Veröffentlichung zu legen, doch kann dies ausnahmsweise anders sein, wenn das angestrebte Ziel es verlangt und das berechtigte Vertrauen der Betroffenen gebührend beachtet ist. Allerdings müssen in der Begründung solcher Rechtsakte klar und unzweideutig die Umstände genannt werden, die die angestrebte Rückwirkung rechtfertigen.

Die Verordnung Nr. 744/87 zur Änderung der Verordnung Nr. 805/86 zur Einführung einer Abgabe auf aus Spanien eingeführtes denaturiertes Magermilchpulver und zur Abweichung von der Verordnung Nr. 1378/86 hinsichtlich der im Handel mit Spanien geltenden Beitrittsausgleichsbeträge gibt jedoch nicht die Gründe an, aus denen die neuen Modalitäten der Erhebung dieser Abgabe auf Wirtschaftsteilnehmer Anwendung finden sollen, die in dem dem Erlaß der Verordnung vorausgegangenen Monat nichtentrahmte Milch ausgeführt haben. Daraus folgt, daß die Verordnung Nr. 744/87 nicht dem Begründungsgebot des Artikels 190 des Vertrages entspricht und ihr Artikel 3 Absatz 2, wonach diese Verordnung mit Wirkung vom 12. Februar 1987 gilt, ungültig ist.


URTEIL DES GERICHTSHOFES (FUENFTE KAMMER) VOM 1. APRIL 1993. - DIVERSINTE SA UND IBERLACTA SA GEGEN ADMINISTRACION PRINCIPAL DE ADUANAS E IMPUESTOS ESPECIALES DE LA JUNQUERA. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: TRIBUNAL ECONOMICO-ADMINISTRATIVO CENTRAL - SPANIEN. - GUELTIGKEIT DER RUECKWIRKUNG DER ABGABE AUF BESTIMMTE ARTEN MILCHPULVER AUS SPANIEN. - VERBUNDENE RECHTSSACHEN C-260/91 UND C-261/91.

Entscheidungsgründe:

1 Das Tribunal Económico Administrativo Central Madrid hat mit Beschlüssen vom 2. Oktober 1991, beim Gerichtshof eingegangen am 14. Oktober 1991, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag eine Frage nach der Gültigkeit der Rückwirkung des Artikels 3 Absatz 2 der Verordnung (EWG) Nr. 744/87 der Kommission vom 16. März 1987 zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 805/86 zur Einführung einer Abgabe auf aus Spanien eingeführtes denaturiertes Magermilchpulver und zur Abweichung von der Verordnung (EWG) Nr. 1378/86 hinsichtlich der im Handel mit Spanien geltenden Beitrittsausgleichsbeträge (ABl. L 75, S. 14; nachstehend: streitige Verordnung) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen den Gesellschaften spanischen Rechts Diversinte und Iberlacta einerseits und der Administracíon Principal de Aduanas de la Junquera andererseits (nachstehend: Zollverwaltung).

3 Zwischen dem 28. Februar und dem 2. März 1987 führte Iberlacta 207 Tonnen Milchpulver mit 12 % Fettgehalt, das zur Verwendung als Tierfutter denaturiert war, in die Bundesrepublik Deutschland aus. Zwischen dem 3. und dem 5. März 1987 führte Diversinte 120 Tonnen eines ähnlichen Erzeugnisses mit 18 % Fettgehalt mit der gleichen Bestimmung aus.

4 Die streitige Verordnung wurde am 17. März 1987 im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften veröffentlicht. Nach der Verordnung (EWG) Nr. 805/86 der Kommission vom 19. März 1986 zur Einführung einer Abgabe auf aus Spanien eingeführtes denaturiertes Magermilchpulver (ABl. L 75, S. 14) in der Fassung der Verordnung (EWG) Nr. 3956/86 der Kommission vom 23. Dezember 1986 (ABl. L 365, S. 57) war bis zu diesem Zeitpunkt auf die Ausfuhr von Magermilch, die vor dem 1. März 1986 nach Spanien eingeführt und nach den dort geltenden Vorschriften denaturiert worden war, eine Abgabe erhoben worden. Diese Abgabe wurde durch die streitige Verordnung auf jede Art von Milchpulver ohne Rücksicht auf den Fettgehalt ausgedehnt, das nach den gleichen Vorschriften denaturiert und aus Spanien nach vorheriger Einfuhr wieder ausgeführt wurde. Nach ihrem Artikel 3 Absatz 2 galt diese Verordnung mit Wirkung vom 12. Februar 1987.

5 In Durchführung dieser Verordnung forderte die Zollverwaltung Diversinte und Iberlacta auf, diese Abgabe zu entrichten, was diese auch taten, obwohl sie ihre Zahlungspflicht grundsätzlich bestritten. Nach Auffassung dieser Gesellschaften war die streitige Verordnung nämlich unwirksam, weil sie Rückwirkung habe, ohne die Voraussetzungen zu erfuellen, bei deren Vorliegen der Gerichtshof eine Rückwirkung billige.

6 Die beiden Firmen riefen sodann in erster Instanz das Tribunal Económico Administrativo Provincial Gerona (Spanien) und in der Berufungsinstanz das Tribunal Económica Administrativo Madrid an.

7 Das letztgenannte Gericht hat das Verfahren ausgesetzt und den Gerichtshof ersucht, sich im Wege der Vorabentscheidung "zur Gültigkeit der Rückwirkung des Artikels 3 Absatz 2 der Verordnung (EWG) Nr. 744/87 der Kommission vom 6. März 1987 zu äussern".

8 Wegen weiterer Einzelheiten des Ausgangsverfahrens, des Verfahrensablaufs und der beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

Zur Gültigkeit der Rückwirkung der streitigen Verordnung

9 Wie das vorlegende Gericht zu Recht ausgeführt hat, verbietet es nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes der Grundsatz der Rechtssicherheit zwar im allgemeinen, den Beginn der zeitlichen Geltung eines Rechtsakts der Gemeinschaft auf einen Zeitpunkt vor dessen Veröffentlichung zu legen; dies kann aber ausnahmsweise dann anders sein, wenn das angestrebte Ziel es verlangt und das berechtigte Vertrauen der Betroffenen gebührend beachtet ist (vgl. zuletzt Urteil vom 11. Juli 1991 in der Rechtssache C-368/89, Crispoltoni, Slg. 1991, I-3695, Randnr. 17).

10 Indessen ist zwar nach dieser Rechtsprechung eine Rückwirkung von Entscheidungen der Gemeinschaftsorgane nicht notwendig ausgeschlossen, doch müssen in der Begründung derartiger Entscheidungen die Umstände genannt werden, die die angestrebte Rückwirkung rechtfertigen (vgl. Beschluß vom 1. Februar 1984 in der Rechtssache 1/84 R, Ilford/Kommission, Slg. 1984, 423, Randnr. 19).

11 Wie der Gerichtshof nämlich bereits in seinem Urteil vom 14. Februar 1990 in der Rechtssache C-350/88 (Delacre/Kommission, Slg. 1990, I-395, Randnr. 15) entschieden hat, dient die nach Artikel 190 EWG-Vertrag notwendige Begründung dem Zweck, den Betroffenen zur Wahrnehmung ihrer Rechte die tragenden Gründe für die Maßnahme zur Kenntnis zu bringen und dem Gerichtshof die Ausübung seiner Kontrolle zu ermöglichen. Sie muß daher die Überlegungen des Gemeinschaftsorgans, daß den angefochtenen Rechtsakt erlassen hat, klar und unzweideutig wiedergeben.

12 Die streitige Verordnung vom 16. März 1987 gibt an keiner Stelle eine Begründung dafür, daß sie auf den 12. Februar 1987 zurückwirkt. In der dritten Begründungserwägung heisst es hierzu lediglich: "Damit sich bei dem Erzeugnis, das Gegenstand dieser Verordnung ist, keine spekulationsbedingten Handelsströme entwickeln, sollten ihre Durchführungsvorschriften schnellstmöglich angewandt werden können." Diese Begründungserwägung lässt bestenfalls erkennen, warum diese Verordnung sofort anwendbar ist. Sie gibt hingegen keine Gründe dafür an, daß die Abgabe Wirtschaftsteilnehmer trifft, die in dem dem Erlaß der Verordnung vorausgegangenen Monat nichtentrahmte Milch ausgeführt haben.

13 Aufgrund dieser Ungenauigkeiten ist der Gerichtshof nicht in der Lage, zu kontrollieren, inwieweit die Rückwirkung durch den Zweck der Verordnung gerechtfertigt war und ob das berechtigte Vertrauen der betroffenen Wirtschaftsteilnehmer beachtet worden ist.

14 Unter diesen Umständen ist festzustellen, daß die streitige Verordnung dem Begründungsgebot des Artikels 190 des Vertrages nicht entspricht.

15 Auf die Frage des vorlegenden Gerichts ist daher zu antworten, daß Artikel 3 Absatz 2 der Verordnung (EWG) Nr. 744/87 der Kommission vom 16. März 1987 zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 805/86 zur Einführung einer Abgabe auf aus Spanien eingeführtes denaturiertes Magermilchpulver und zur Abweichung von der Verordnung (EWG) Nr. 1378/86 hinsichtlich der im Handel mit Spanien geltenden Beitrittsausgleichsbeträge, wonach die Verordnung mit Wirkung vom 12. Februar 1987 gilt, ungültig ist.

Kostenentscheidung:

Kosten

16 Die Auslagen der griechischen Regierung und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien der Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in den bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreitigkeiten; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

auf die ihm vom Tribunal Económico Administrativo Central Madrid durch Beschlüsse vom 2. Oktober 1991 vorgelegte Frage für Recht erkannt:

Artikel 3 Absatz 2 der Verordnung (EWG) Nr. 744/87 der Kommission vom 16. März 1987 zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 805/86 zur Einführung einer Abgabe auf aus Spanien eingeführtes denaturiertes Magermilchpulver und zur Abweichung von der Verordnung (EWG) Nr. 1378/86 hinsichtlich der im Handel mit Spanien geltenden Beitrittsausgleichsbeträge, wonach diese Verordnung mit Wirkung vom 12. Februar 1987 gilt, ist ungültig.

Ende der Entscheidung

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