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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 03.12.1992
Aktenzeichen: C-264/90
Rechtsgebiete: EWGV, VO Nr. 804/68/EWG, VO Nr. 857/84/EWG


Vorschriften:

EWGV Art. 177
VO Nr. 804/68/EWG Art. 5c
VO Nr. 857/84/EWG Art. 3a
VO Nr. 857/84/EWG Art. 2
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Bei der mit der Verordnung Nr. 857/84 erfolgten Regelung der zusätzlichen Abgabe für Milch war zu berücksichtigen, daß ein Erzeuger, der einen mit einer nach der Verordnung Nr. 1078/77 eingegangenen Verpflichtung zur Nichtvermarktung oder Umstellung belasteten Betrieb mit den von seinem Vorgänger eingegangenen Verpflichtungen übernommen und deshalb die Prämie gemäß Artikel 6 dieser Verordnung erhalten hat, ebenso wie ein Erzeuger, der während des gesamten Nichtvermarktungs- oder Umstellungszeitraums durch eine solche Verpflichtung gebunden war, darauf vertrauen durfte, daß er nach dem Ende seiner Verpflichtung nicht Beschränkungen unterworfen würde, die ihn wegen dieser Verpflichtung in besonderer Weise beeinträchtigen.

Die Antikumulierungsvorschrift des Artikels 3a Absatz 1 zweiter Gedankenstrich der Verordnung Nr. 857/84, wonach nur jenen durch eine Verpflichtung nach der Verordnung Nr. 1078/77 gebundenen Erzeugern eine spezifische Referenzmenge zugeteilt wird, die nicht schon eine Referenzmenge unter den Bedingungen gemäß anderen Bestimmungen der Regelung über die zusätzliche Abgabe erhalten haben, erlegt aber gerade dieser Erzeugerkategorie solche Beschränkungen auf, da sie sie von der Möglichkeit ausschließt, für den Betrieb, für den eine solche Verpflichtung eingegangen worden ist, eine Referenzmenge zu erhalten, während ein entsprechendes Kumulierungsverbot für die Erzeuger, die während des Referenzjahres nicht durch eine solche Verpflichtung gebunden waren, nicht besteht. Die genannte Vorschrift verletzt somit das berechtigte Vertrauen der betroffenen Wirtschaftsteilnehmer darauf, daß ihre vor dem Inkrafttreten der Regelung über die zusätzliche Abgabe eingegangenen Verpflichtungen nur eine begrenzte Tragweite haben würden, und ist insoweit ungültig.


URTEIL DES GERICHTSHOFES (DRITTE KAMMER) VOM 3. DEZEMBER 1992. - HEINRICH WEHRS GEGEN HAUPTZOLLAMT LUENEBURG. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: FINANZGERICHT HAMBURG - DEUTSCHLAND. - ZUSAETZLICHE ABGABE AUF MILCH. - RECHTSSACHE C-264/90.

Entscheidungsgründe:

1 Das Finanzgericht Hamburg hat mit Beschluß vom 12. Juli 1990, beim Gerichtshof eingegangen am 4. September 1990, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag eine Frage nach der Gültigkeit des Artikels 3a Absatz 1 zweiter Gedankenstrich der Verordnung (EWG) Nr. 857/84 des Rates vom 31. März 1984 über Grundregeln für die Anwendung der Abgabe gemäß Artikel 5c der Verordnung (EWG) Nr. 804/68 im Sektor Milch und Milcherzeugnisse (ABl. L 90, S. 13) in der Fassung der Verordnung (EWG) Nr. 764/89 des Rates vom 20. März 1989 (ABl. L 84, S. 2) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen Heinrich Wehrs (im folgenden: Kläger) und dem Hauptzollamt Lüneburg wegen dessen Weigerung, dem Kläger im Rahmen des Systems der zusätzlichen Abgabe für Milch eine Referenzmenge zu gewähren.

3 Der Kläger, ein in der Bundesrepublik Deutschland niedergelassener Landwirt, hatte aufgrund seiner Milchlieferungen in dem von der Bundesrepublik Deutschland gewählten Referenzjahr 1983 eine Referenzmenge von 183 816 kg Milch erhalten. Er verlangt die Erhöhung dieser Referenzmenge aufgrund des am 23. März 1984, d. h. vor dem Inkrafttreten des Systems der zusätzlichen Abgabe, getätigten Kaufs eines landwirtschaftlich genutzten Grundstücks von 2,5 ha, das Teil eines früher zur Milcherzeugung genutzten Betriebs war. Dessen Eigentümer hatte die Milcherzeugung am 10. Januar 1981 für vier Jahre eingestellt, um einer auf der Grundlage der Verordnung (EWG) Nr. 1078/77 des Rates vom 17. Mai 1977 zur Einführung einer Prämienregelung für die Nichtvermarktung von Milch und Milcherzeugnissen und die Umstellung der Milchkuhbestände (ABl. L 131, S. 1) eingegangenen Verpflichtung zur Umstellung nachzukommen. Der Kläger hatte diese Verpflichtung für das von ihm erworbene Grundstück übernommen.

4 Die zuständige Landwirtschaftskammer hatte dem Antrag des Klägers zunächst stattgegeben und seine Referenzmenge um 6 820 kg erhöht. Das Hauptzollamt Lüneburg veranlasste jedoch den Widerruf dieser Entscheidung mit der Begründung, daß der Kläger gemäß Artikel 3a Absatz 1 zweiter Gedankenstrich der Verordnung Nr. 857/84 in der Neufassung von der Zuteilung einer vorläufigen spezifischen Referenzmenge ausgeschlossen sei, weil ihm bereits eine aufgrund seiner Milchlieferungen im Jahr 1983 berechnete Referenzmenge gemäß Artikel 2 der Verordnung Nr. 857/84 zugestanden habe.

5 Da das vom Kläger angerufene Finanzgericht Hamburg der Ansicht ist, daß die Entscheidung von der Gültigkeit des Artikels 3a Absatz 1 zweiter Gedankenstrich der Verordnung Nr. 857/84 in der Neufassung abhängt, hat es das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Ist Artikel 3a Absatz 1 zweiter Gedankenstrich der Verordnung (EWG) Nr. 857/84 des Rates in der Fassung der Verordnung (EWG) Nr. 764/89 des Rates insoweit gültig, als die Übernehmer einer gemäß der Verordnung (EWG) Nr. 1078/77 des Rates gewährten Prämie von der Zuteilung einer vorläufigen spezifischen Referenzmenge ausgeschlossen sind, wenn sie eine Referenzmenge nach Artikel 2 der Verordnung (EWG) Nr. 857/84 erhalten haben?

6 Wegen weiterer Einzelheiten des Ausgangsverfahrens, der einschlägigen Gemeinschaftsbestimmungen, des Verfahrensablaufs sowie der vor dem Gerichtshof abgegebenen schriftlichen Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

7 Einleitend ist darauf hinzuweisen, daß die Gemeinschaftsregelung über die zusätzliche Abgabe für Milch ursprünglich keine besondere Bestimmung enthielt, die die Zuteilung einer Referenzmenge an Erzeuger vorsah, die in Erfuellung einer nach der Verordnung Nr. 1078/77 eingegangenen Verpflichtung in dem vom betreffenden Mitgliedstaat gewählten Referenzjahr keine Milch geliefert hatten. In den Urteilen vom 28. April 1988 in den Rechtssachen 120/86 (Mulder, Slg. 1988, 2321, Randnr. 28) und 170/86 (von Deetzen, Slg. 1988, 2355, Randnr. 17) hat der Gerichtshof jedoch entschieden, daß diese Regelung ungültig ist, weil sie unter Verletzung des Grundsatzes des Vertrauensschutzes erlassen worden ist.

8 In diesen Urteilen hat der Gerichtshof festgestellt, daß ein Wirtschaftsteilnehmer, der seine Erzeugung für eine bestimmte Zeit freiwillig eingestellt hatte, nicht darauf vertrauen durfte, daß er die Erzeugung unter denselben Bedingungen wie den vorher geltenden würde wiederaufnehmen können und daß er eventuell inzwischen erlassenen marktpolitischen oder strukturpolitischen Bestimmungen nicht unterworfen würde (Urteil Mulder, Randnr. 23; Urteil von Deetzen, Randnr. 12); dagegen durfte ein solcher Wirtschaftsteilnehmer, wenn er durch eine Handlung der Gemeinschaft dazu veranlasst worden war, die Vermarktung im Allgemeininteresse und gegen Zahlung einer Prämie für eine begrenzte Zeit einzustellen, darauf vertrauen, daß er nach dem Ende seiner Verpflichtung nicht Beschränkungen unterworfen würde, die ihn gerade deswegen in besonderer Weise beeinträchtigten, weil er die von der Gemeinschaftsregelung gebotenen Möglichkeiten in Anspruch genommen hatte (Urteil Mulder, Randnr. 24; Urteil von Deetzen, Randnr. 13).

9 Aufgrund dieser Urteile erließ der Rat am 20. März 1989 die Verordnung Nr. 764/89. Mit ihr wurde in die Verordnung Nr. 857/84 ein neuer Artikel 3a eingefügt, der im wesentlichen bestimmt, daß die Erzeuger, die in Erfuellung einer nach der Verordnung Nr. 1078/77 eingegangenen Verpflichtung in dem Referenzjahr keine Milch geliefert haben, unter bestimmten Voraussetzungen eine spezifische Referenzmenge erhalten, die auf der Grundlage der Menge Milch oder Milchäquivalent berechnet wird, die sie innerhalb der zwölf Monate vor dem Monat der Einreichung des Antrags auf Gewährung der Nichtvermarktungs- oder Umstellungsprämie geliefert bzw. verkauft haben.

10 Mit Artikel 3a Absatz 1 zweiter Gedankenstrich wurde jedoch eine sogenannte "Antikumulierungs"-Regel aufgestellt, nach der nur jenen Erzeugern eine solche spezifische Referenzmenge zugeteilt wird, die nicht schon eine Referenzmenge unter den Bedingungen gemäß anderen Bestimmungen der Regelung über die zusätzliche Abgabe erhalten haben.

11 Insbesondere ist vorgesehen, daß der Übernehmer einer Prämie Artikel 3a nur in Anspruch nehmen kann, wenn nachgewiesen ist, daß er nicht früher eine Referenzmenge unter den allgemeinen Bedingungen des Artikels 2 der Verordnung Nr. 857/84 erhalten hat.

12 Um diese letztgenannte Voraussetzung, deren Anwendung im Ausgangsverfahren zum Ausschluß des Erzeugers von der Zuteilung einer Referenzmenge für den Betrieb, dessen Prämie er übernommen hat, führt, geht es in dem vorliegenden Ersuchen um Beurteilung der Gültigkeit.

13 Es ist festzustellen, daß ein Erzeuger, der wie im Ausgangsfall einen mit einer Verpflichtung zur Nichtvermarktung oder Umstellung belasteten Betrieb mit den von seinem Vorgänger eingegangenen Verpflichtungen übernommen und deshalb die Prämie gemäß Artikel 6 der Verordnung Nr. 1078/77 erhalten hat, ebenso wie ein Erzeuger, der während des gesamten Nichtvermarktungs- oder Umstellungszeitraums durch eine solche Verpflichtung gebunden war, darauf vertrauen durfte, daß er nach dem Ende seiner Verpflichtung nicht Beschränkungen unterworfen würde, die ihn wegen dieser Verpflichtung in besonderer Weise beeinträchtigen.

14 Die fragliche Antikumulierungsvorschrift erlegt aber dieser Erzeugerkategorie solche Beschränkungen auf, da sie sie von der Möglichkeit ausschließt, für den Betrieb, für den eine Verpflichtung gemäß der Verordnung Nr. 1078/77 eingegangen worden ist, eine Referenzmenge zu erhalten, während eine solche Rechtsfolge mangels eines entsprechenden Kumulierungsverbots für die Erzeuger, die während des Referenzjahres nicht durch eine solche Verpflichtung gebunden waren, nicht vorgesehen ist.

15 Die streitige Vorschrift verletzt somit das berechtigte Vertrauen der betroffenen Wirtschaftsteilnehmer darauf, daß ihre vor dem Inkrafttreten der Regelung über die zusätzliche Abgabe für Milch eingegangenen Verpflichtungen nur eine begrenzte Tragweite haben würden. Die Vorschrift ist demnach wegen Verletzung des Grundsatzes des Vertrauensschutzes für ungültig zu erklären, ohne daß Veranlassung bestuende, die übrigen im Verfahren erhobenen Einwände gegen die Gültigkeit dieser Vorschrift zu prüfen.

16 Demnach ist auf die gestellte Frage zu antworten, daß Artikel 3a Absatz 1 zweiter Gedankenstrich der Verordnung Nr. 857/84 in der Fassung der Verordnung Nr. 764/89 insoweit ungültig ist, als er die Übernehmer einer gemäß der Verordnung Nr. 1078/77 gewährten Prämie, die eine Referenzmenge nach Artikel 2 der Verordnung Nr. 857/84 erhalten haben, von der Zuteilung einer spezifischen Referenzmenge ausschließt.

Kostenentscheidung:

Kosten

17 Die Auslagen des Rates der Europäischen Gemeinschaften und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit. Die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

auf die ihm vom Finanzgericht Hamburg mit Beschluß vom 12. Juli 1990 vorgelegte Frage für Recht erkannt:

Artikel 3a Absatz 1 zweiter Gedankenstrich der Verordnung (EWG) Nr. 857/84 des Rates vom 31. März 1984 in der Fassung der Verordnung (EWG) Nr. 764/89 des Rates vom 20. März 1989 ist insoweit ungültig, als er die Übernehmer einer gemäß der Verordnung (EWG) Nr. 1078/77 des Rates vom 17. Mai 1977 gewährten Prämie, die eine Referenzmenge nach Artikel 2 der Verordnung (EWG) Nr. 857/84 erhalten haben, von der Zuteilung einer spezifischen Referenzmenge ausschließt.

Ende der Entscheidung

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