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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 15.05.2003
Aktenzeichen: C-266/01
Rechtsgebiete: Brüsseler Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen durch den Gerichtshof


Vorschriften:

Brüsseler Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen durch den Gerichtshof Art. 1
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Artikel 1 Absatz 1 des Übereinkommens vom 27. September 1968 in der Fassung des Übereinkommens vom 9. Oktober 1978 über den Beitritt des Königreichs Dänemark, Irlands und des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland, des Übereinkommens vom 25. Oktober 1982 über den Beitritt der Republik Griechenland und des Übereinkommens vom 26. Mai 1989 über den Beitritt des Königreichs Spanien und der Portugiesischen Republik ist dahin auszulegen, dass

- eine Klage, mit der ein Vertragsstaat von einer Privatperson die Erfuellung eines privatrechtlichen Bürgschaftsvertrags verlangt, der geschlossen wurde, um einem Dritten die Erbringung einer von diesem Staat geforderten und festgelegten Sicherheit zu ermöglichen, unter den Begriff der Zivil- und Handelssachen" im Sinne des Satzes 1 dieser Bestimmung fällt, sofern die Rechtsbeziehung zwischen dem Gläubiger und dem Bürgen, wie sie sich aus dem Bürgschaftsvertrag ergibt, keine Ausübung von Befugnissen durch den Staat darstellt, die von den im Verhältnis zwischen Privatpersonen geltenden Regeln abweichen;

- eine Klage, mit der ein Vertragsstaat von einer Privatperson die Erfuellung eines privatrechtlichen Bürgschaftsvertrags verlangt, der die Zahlung einer Zollschuld sicherstellen soll, nicht unter den Begriff der Zollsachen" im Sinne des Satzes 2 dieser Bestimmung fällt, wenn die Rechtsbeziehung zwischen dem Staat und dem Bürgen, die sich aus diesem Vertrag ergibt, keine Ausübung von Befugnissen durch den Staat darstellt, die von den im Verhältnis zwischen Privatpersonen geltenden Regeln abweichen, und zwar auch dann, wenn der Bürge Verteidigungsmittel geltend machen kann, die eine Prüfung des Bestehens und des Inhalts der Zollschuld erforderlich machen.

( vgl. Randnrn. 36, 44 und Tenor )


Urteil des Gerichtshofes (Fünfte Kammer) vom 15. Mai 2003. - Préservatrice foncière TIARD SA gegen Staat der Nederlanden. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Hoge Raad der Nederlanden - Niederlande. - Brüsseler Übereinkommen - Artikel 1 - Anwendungsbereich - Begriff 'Zivil- und Handelssachen' - Begriff 'Zollsachen' - Klage aus einem Bürgschaftsvertrag zwischen dem Staat und einem Versicherungsunternehmen - Vertrag, der geschlossen wurde, um eine den Transportunternehmensverbänden als Hauptschuldnern vom Staat gemäß Artikel 6 des TIR-Übereinkommens auferlegte Bedingung zu erfüllen. - Rechtssache C-266/01.

Parteien:

In der Rechtssache C-266/01

wegen eines dem Gerichtshof gemäß dem Protokoll vom 3. Juni 1971 betreffend die Auslegung des Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen durch den Gerichtshof vom Hoge Raad der Nederlanden (Niederlande) in dem bei diesem anhängigen Rechtsstreit

Préservatrice foncière TIARD SA

gegen

Staat der Nederlanden

vorgelegten Ersuchens um Vorabentscheidung über die Auslegung von Artikel 1 des genannten Übereinkommens vom 27. September 1968 (ABl. 1972, L 299, S. 32) in der Fassung des Übereinkommens vom 9. Oktober 1978 über den Beitritt des Königreichs Dänemark, Irlands und des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland (ABl. L 304, S. 1 und - geänderter Text - S. 77), des Übereinkommens vom 25. Oktober 1982 über den Beitritt der Republik Griechenland (ABl. L 388, S. 1) und des Übereinkommens vom 26. Mai 1989 über den Beitritt des Königreichs Spanien und der Portugiesischen Republik (ABl. L 285, S. 1)

erlässt

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Wathelet sowie der Richter D. A. O. Edward, A. La Pergola, P. Jann (Berichterstatter) und A. Rosas,

Generalanwalt: P. Léger,

Kanzler: L. Hewlett, Hauptverwaltungsrätin,

unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen

- der niederländischen Regierung, vertreten durch H. G. Sevenster als Bevollmächtigte,

- der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch A.-M. Rouchaud und H. van Vliet als Bevollmächtigte,

aufgrund des Sitzungsberichts,

nach Anhörung der mündlichen Ausführungen der Préservatrice foncière TIARD SA, vertreten durch R. S. Meijer, advocaat, der niederländischen Regierung, vertreten durch N. A. J. Bel, und der Kommission, vertreten durch A.-M. Rouchaud und H. van Vliet, in der Sitzung vom 17. Oktober 2002,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 5. Dezember 2002

folgendes

Urteil

Entscheidungsgründe:

1 Der Hoge Raad der Nederlanden hat mit Urteil vom 18. Mai 2001, beim Gerichtshof eingegangen am 5. Juni 2001, gemäß dem Protokoll vom 3. Juni 1971 betreffend die Auslegung des Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen durch den Gerichtshof zwei Fragen nach der Auslegung von Artikel 1 dieses Übereinkommens (ABl. 1972, L 299, S. 32) in der Fassung des Übereinkommens vom 9. Oktober 1978 über den Beitritt des Königreichs Dänemark, Irlands und des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland (ABl. L 304, S. 1, und - geänderte Fassung - S. 77), des Übereinkommens vom 25. Oktober 1982 über den Beitritt der Republik Griechenland (ABl. L 388, S. 1) und des Übereinkommens vom 26. Mai 1989 über den Beitritt des Königreichs Spanien und der Portugiesischen Republik (ABl. L 285, S. 1) (im Folgenden: Brüsseler Übereinkommen) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen dem niederländischen Staat und der Préservatrice foncière TIARD SA (im Folgenden: PFA) über die Erfuellung eines Bürgschaftsvertrags, durch den sich PFA verpflichtet hat, die Zölle zu entrichten, für deren Zahlung die vom niederländischen Staat zur Ausstellung von Carnets TIR ermächtigten niederländischen Transportunternehmensverbände einzustehen haben.

Rechtlicher Rahmen

Brüsseler Übereinkommen

3 Artikel 1 Absatz 1 des Brüsseler Übereinkommens bestimmt:

Dieses Übereinkommen ist in Zivil- und Handelssachen anzuwenden, ohne dass es auf die Art der Gerichtsbarkeit ankommt. Es erfasst insbesondere nicht Steuer- und Zollsachen sowie verwaltungsrechtliche Angelegenheiten."

TIR-Übereinkommen

4 Das Zollübereinkommen über den internationalen Warentransport mit Carnets TIR (im Folgenden: TIR-Übereinkommen) wurde am 14. November 1975 in Genf unterzeichnet. Das Königreich der Niederlande ist Vertragspartei dieses Übereinkommens. Mit der Verordnung (EWG) Nr. 2112/78 des Rates vom 25. Juli 1978 (ABl. L 252, S. 1) wurde es im Namen der Europäischen Gemeinschaft genehmigt.

5 Das TIR-Übereinkommen bestimmt u. a., dass für Waren, die in dem durch das Übereinkommen eingeführten TIR-Verfahren befördert werden, keine Entrichtung oder Hinterlegung von Eingangs- oder Ausgangsabgaben bei den Durchgangszollstellen gefordert wird.

6 Voraussetzung für diese Erleichterungen ist nach dem TIR-Übereinkommen, dass die Waren während des gesamten Transports von einem einheitlichen Papier, dem Carnet TIR, begleitet werden, das der Kontrolle der Ordnungsgemäßheit des Vorgangs dient. Das Übereinkommen verlangt weiter, dass für den Warentransport eine Bürgschaft von Verbänden geleistet wird, die von den Vertragsparteien nach Artikel 6 zugelassen worden sind.

7 Artikel 6 Absatz 1 des TIR-Übereinkommens, der zu Kapitel II (Ausgabe der Carnets TIR - Haftung der bürgenden Verbände") gehört, bestimmt in seiner zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt geltenden Fassung:

Jede Vertragspartei kann gegen Sicherheiten und unter Bedingungen, die sie festsetzt, Verbänden die Bewilligung erteilen, entweder selbst oder durch die mit ihnen in Verbindung stehenden Verbände Carnets TIR auszugeben und die Bürgschaft zu übernehmen."

8 Im Fall von Unregelmäßigkeiten im Zusammenhang mit dem TIR-Transport, insbesondere bei Nichterledigung des Carnet TIR, werden die Zölle und Eingangs- oder Ausgangsabgaben fällig. Der Inhaber des Carnet TIR - grundsätzlich der Beförderer - ist der unmittelbare Schuldner. Entrichtet er die fälligen Beträge nicht, so haftet gemäß Artikel 8 Absatz 1 des TIR-Übereinkommens neben ihm der nationale Verband gesamtschuldnerisch" für die Zahlung dieser Beträge.

Das Ausgangsverfahren

9 Mit Bescheid vom 5. März 1991 erteilte der niederländische Finanzminister nach Artikel 6 des TIR-Übereinkommens drei niederländischen Transportunternehmensverbänden (im Folgenden: die beliehenen niederländischen Verbände) die Bewilligung, Carnets TIR auszugeben. Nach Nummer 1 dieses Bescheides verpflichten diese Verbände sich bedingungslos zur Zahlung der von den Inhabern der Carnets TIR zu entrichtenden Zölle und Abgaben, für die sie gesamtschuldnerisch haften. Nach Nummer 5 müssen die beliehenen niederländischen Verbände eine Sicherheit für die Erfuellung ihrer Verpflichtungen leisten. Ferner muss sich nach dieser Nummer derjenige, der die Sicherheit stellt, verpflichten, alle Beträge zu zahlen, die der niederländische Finanzminister von den beliehenen niederländischen Verbänden fordert. Nach Nummer 19 tritt der Bescheid erst in Kraft, wenn der niederländische Finanzminister die in Nummer 5 vorgesehene Sicherheit gebilligt hat.

10 Diese Sicherheit wurde von PFA gestellt. In verschiedenen Urkunden hat sie sich gegenüber dem niederländischen Staat als Bürgin und Gesamtschuldnerin verpflichtet, selbstschuldnerisch für die Eingangs- und Ausgangsabgaben einzustehen, die die Inhaber der von den nationalen Transportunternehmensverbänden ausgegebenen Carnets TIR nach den zoll- und abgabenrechtlichen Bestimmungen schulden.

11 Am 20. November 1996 erhob der niederländische Staat bei der Rechtbank Rotterdam (Niederlande) gegen PFA Klage auf Zahlung von 41 917 063 NLG zuzüglich der gesetzlichen Zinsen an ihn. Diese Klage war auf die Bürgschaftsverpflichtungen gestützt, die PFA gegenüber dem niederländischen Staat eingegangen war, und richtete sich auf Zahlung der Eingangs- und Ausgangsabgaben, die die drei beliehenen niederländischen Verbände schuldeten.

12 PFA machte die Unzuständigkeit der Rechtbank Rotterdam geltend, da der Rechtsstreit in den Anwendungsbereich des Brüsseler Übereinkommens falle und das zuständige Gericht nach dessen Vorschriften zu bestimmen sei.

13 Die Rechtbank Rotterdam und - im zweiten Rechtszug - der Gerechtshof Den Haag (Niederlande) wiesen die Einrede der Unzuständigkeit zurück. Das letztgenannte Gericht vertrat die Auffassung, dass der niederländische Staat in Ausübung einer öffentlich-rechtlichen Befugnis gehandelt habe, als er Transportunternehmensverbände vorbehaltlich der Annahme der von diesen geleisteten Bürgschaft zur Ausgabe von Carnets TIR ermächtigt habe, und dass der Bürgschaftsvertrag mit PFA von diesem Staat in Ausübung derselben Befugnis geschlossen worden sei. Es war ferner der Ansicht, die von PFA zu begleichenden Schulden stellten Zollschulden dar.

14 Der von PFA angerufene Hoge Raad der Nederlanden hegt Zweifel an der Richtigkeit dieser Erwägungen und hat daher beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1. Ist eine Klage, die der Staat aufgrund eines privatrechtlichen Bürgschaftsvertrags erhebt, den er in Erfuellung einer von ihm aufgrund des Artikels 6 Absatz 1 des TIR-Übereinkommens von 1975 und daher in Ausübung einer hoheitlichen Befugnis gestellten Bedingung geschlossen hat, als Zivil- oder Handelssache im Sinne von Artikel 1 des Brüsseler Übereinkommens zu betrachten?

2. Ist ein vom Staat angestrengter Rechtsstreit, der einen privatrechtlichen Bürgschaftsvertrag zum Gegenstand hat, deshalb als Zollsache im Sinne von Artikel 1 des Brüsseler Übereinkommens zu betrachten, weil der Beklagte sich mit Einwänden verteidigen kann, die die Prüfung und die Feststellung des Bestehens und des Inhalts der Zollschulden, auf die sich der Vertrag bezieht, erforderlich machen?

Zur ersten Vorlagefrage

15 Diese Frage des vorlegenden Gerichts geht im Wesentlichen dahin, ob Artikel 1 Absatz 1 des Brüsseler Übereinkommens dahin auszulegen ist, dass eine Klage, mit der ein Vertragsstaat von einer Privatperson die Erfuellung eines privatrechtlichen Bürgschaftsvertrags verlangt, der geschlossen wurde, um einem Dritten die Erbringung einer von diesem Staat geforderten und festgelegten Sicherheit zu ermöglichen, unter den Begriff der Zivil- und Handelssachen" im Sinne des Satzes 1 dieser Bestimmung fällt.

Beim Gerichtshof eingereichte Erklärungen

16 PFA, die niederländische Regierung und die Kommission sind übereinstimmend der Auffassung, dass der Begriff der Zivil- und Handelssachen" im Sinne von Artikel 1 des Brüsseler Übereinkommens autonom auszulegen sei. Sie betonen ferner einhellig, dass Rechtsstreitigkeiten zwischen einer Behörde und einer Privatperson in den Anwendungsbereich des Brüsseler Übereinkommens fallen könnten, sofern die Behörde nicht in Ausübung hoheitlicher Befugnisse tätig geworden sei.

17 Sie vertreten jedoch unterschiedliche Auffassungen, soweit es um die Anwendung dieser Grundsätze auf das Ausgangsverfahren geht.

18 Die niederländische Regierung schließt sich der Einschätzung des Gerechtshof Den Haag an. Ihrer Auffassung nach besteht ein Zusammenhang zwischen dem Bürgschaftsvertrag und dem System der Abgaben und Zölle, deren Zahlung er sicherstellen soll; dieser ergebe sich daraus, dass die Bürgschaft eine Bedingung gewesen sei, ohne deren Erfuellung die öffentlich-rechtlichen Beziehungen zwischen dem Staat und den beliehenen niederländischen Verbänden nicht zu Stande gekommen wären. Der Inhalt des Bürgschaftsvertrags folge unmittelbar aus einer öffentlich-rechtlichen Regelung, wie sich daraus ergebe, dass die darin enthaltenen Klauseln beinahe wörtlich die Bestimmungen des Bescheides vom 5. März 1991 betreffend die Anerkennung nationaler Transportunternehmerverbände wiedergäben. Durch den Abschluss des Bürgschaftsvertrags habe PFA sich verpflichtet, an dem durch das TIR-Übereinkommen eingeführten öffentlich-rechtlichen System der Erhebung von Zöllen und Abgaben teilzunehmen. Angesichts all dessen sei es unerheblich, dass der Vertrag die Form eines privatrechtlichen Bürgschaftsvertrags angenommen habe.

19 Demgegenüber vertreten PFA und die Kommission die Auffassung, der niederländische Staat habe in seiner Beziehung zu PFA nicht in Ausübung hoheitlicher Befugnisse gehandelt. Der niederländische Staat habe PFA keine Verpflichtung auferlegt; diese habe den Bürgschaftsvertrag freiwillig geschlossen und sei frei, ihn unter Einhaltung einer Kündigungsfrist zu beenden. Die Forderung des niederländischen Staates gegen PFA sei ausschließlich im Bürgschaftsvertrag begründet, der in den Bereich des Privatrechts falle.

Antwort des Gerichtshofes

20 Nach ständiger Rechtsprechung können, da Artikel 1 des Brüsseler Übereinkommens dessen Anwendungsbereich bezeichnen soll und sichergestellt werden muss, dass sich aus dem Übereinkommen für die Vertragsstaaten und die betroffenen Personen so weit wie möglich gleiche und einheitliche Rechte und Pflichten ergeben, die in dieser Bestimmung verwendeten Ausdrücke nicht als bloße Verweisung auf das innerstaatliche Recht des einen oder anderen beteiligten Staates verstanden werden. Der Begriff der Zivil- und Handelssachen" ist daher als autonomer Begriff anzusehen, bei dessen Auslegung die Zielsetzungen und die Systematik des Übereinkommens sowie die allgemeinen Rechtsgrundsätze, die sich aus der Gesamtheit der innerstaatlichen Rechtsordnungen ergeben, berücksichtigt werden müssen (Urteile vom 14. Oktober 1976 in der Rechtssache 29/76, LTU, Slg. 1976, 1541, Randnr. 3, vom 22. Februar 1979 in der Rechtssache 133/78, Gourdain, Slg. 1979, 733, Randnr. 3, vom 16. Dezember 1980 in der Rechtssache 814/79, Rüffer, Slg. 1980, 3807, Randnr. 7, vom 21. April 1993 in der Rechtssache C-172/91, Sonntag, Slg. 1993, I-1963, Randnr. 18, und vom 14. November 2002 in der Rechtssache C-271/00, Baten, Slg. 2002, I-10489, Randnr. 28).

21 Wie der Gerichtshof klargestellt hat, führt diese Auslegung dazu, dass bestimmte gerichtliche Entscheidungen wegen der Natur der zwischen den Parteien bestehenden Rechtsbeziehungen oder wegen des Gegenstands des Rechtsstreits vom Anwendungsbereich des Brüsseler Übereinkommens ausgeschlossen sind (Urteile LTU, Randnr. 4, und Baten, Randnr. 29).

22 So können dem Gerichtshof zufolge zwar bestimmte Entscheidungen, die in Verfahren ergehen, in denen sich eine Behörde und eine Privatperson gegenüberstehen, unter das Brüsseler Übereinkommen fallen, doch verhält es sich anders, wenn die Behörde einen Rechtsstreit im Zusammenhang mit der Ausübung hoheitlicher Befugnisse führt (Urteile LTU, Randnr. 4, Rüffer, Randnr. 8, und Baten, Randnr. 30).

23 Um diese Grundsätze in einem Rechtsstreit wie dem des Ausgangsverfahrens anzuwenden, müssen daher die zwischen den Parteien bestehenden Rechtsbeziehungen ermittelt sowie die Grundlage der erhobenen Klage und die Modalitäten ihrer Erhebung bestimmt werden (vgl. in diesem Sinn Urteil Baten, Randnr. 31).

24 Vorab ist festzustellen, dass, wie die niederländische Regierung vorträgt, PFA sich nicht nur als Bürgin verpflichtet hat, sondern auch als Gesamtschuldnerin, die die geschuldeten Zölle und Abgaben selbstschuldnerisch zu zahlen hat.

25 Die Frage, ob eine Gesamtschuldvereinbarung den Charakter eines Bürgschaftsvertrags verändert oder lediglich einige seiner Wirkungen ändert, ist nach nationalem Recht zu beurteilen.

26 Jedenfalls ist festzustellen, dass sich in der vorliegenden Rechtssache das vorlegende Gericht, das den Charakter der Beziehung zwischen PFA und dem niederländischen Staat zu untersuchen hat, in den Vorabentscheidungsfragen, die es dem Gerichtshof vorgelegt hat, ausschließlich auf einen Bürgschaftsvertrag" bezogen hat. Bei der Beantwortung dieser Fragen ist daher davon auszugehen, dass die Klage sich nur gegen PFA als Bürgin und nicht als Gesamtschuldnerin richtet.

27 Nach den allgemeinen Grundsätzen, die sich aus den Rechtssystemen der Vertragsstaaten ergeben, handelt es sich bei einem Bürgschaftsvertrag um ein Dreiecksverhältnis, in dem der Bürge sich gegenüber dem Gläubiger verpflichtet, die vom Hauptschuldner eingegangenen Verpflichtungen zu erfuellen, sofern dieser sie nicht selbst erfuellt.

28 Ein solcher Vertrag begründet für den Bürgen eine neue Verpflichtung, nämlich für die Erfuellung der Hauptpflicht, die dem Schuldner obliegt, einzustehen. Der Bürge tritt nicht an die Stelle des Schuldners, sondern steht lediglich für die Zahlung von dessen Schuld ein, entsprechend den im Bürgschaftsvertrag aufgestellten oder gesetzlich vorgesehenen Bedingungen.

29 Die so begründete Verpflichtung hat akzessorischen Charakter in dem Sinne, dass der Bürge vom Gläubiger nur in Anspruch genommen werden kann, wenn die Hauptschuld fällig ist, und dass die vom Bürgen übernommene Verpflichtung nicht über diejenige des Hauptschuldners hinausgehen kann. Diese Akzessorietät bedeutet jedoch nicht, dass die rechtliche Regelung, die für die vom Bürgen übernommene Verpflichtung gilt, in jeder Hinsicht mit der für die Hauptverpflichtung geltenden rechtlichen Regelung identisch sein muss (vgl. in diesem Sinn Urteil vom 23. März 2000 in der Rechtssache C-208/98, Berliner Kindl Brauerei, Slg. 2000, I-1741).

30 Um die erste Frage zu beantworten, muss daher geprüft werden, ob die Rechtsbeziehung zwischen dem niederländischen Staat und PFA, wie sie sich aus den Bürgschaftsvertrag ergibt, durch eine Wahrnehmung hoheitlicher Befugnisse durch den Gläubigerstaat insofern geprägt ist, als Befugnisse wahrgenommen werden, die von den im Verhältnis zwischen Privatpersonen geltenden Regeln abweichen (zu diesem Kriterium vgl. Urteil Sonntag, Randnr. 22).

31 Zwar ist es Sache des vorlegenden Gerichts, diese Prüfung vorzunehmen, doch erscheint es sinnvoll, dass der Gerichtshof im Licht der bei ihm eingereichten Erklärungen einige Klarstellungen hinsichtlich der zu berücksichtigenden Gesichtspunkte vornimmt.

32 Erstens ist festzustellen, dass die Rechtsbeziehung zwischen dem niederländischen Staat und PFA nicht durch das TIR-Übereinkommen geregelt ist. Zwar legt Kapitel II dieses Übereinkommens die Verpflichtungen eines bürgenden nationalen Verbands fest, dem von einem Vertragsstaat nach Artikel 6 des Übereinkommens eine Bewilligung erteilt wird, doch enthält dieses in der zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt geltenden Fassung keine Vorschriften, die den Umfang der etwaigen Verpflichtungen aus einer Bürgschaft festlegen würden, die ein Staat als Voraussetzung für die Ermächtigung der bürgenden nationalen Verbände verlangt hat.

33 Zweitens sind die Umstände zu berücksichtigen, unter denen der Vertrag geschlossen wurde. Aus den Akten des Ausgangsverfahrens ergibt sich, dass PFA die Verpflichtungen gegenüber dem niederländischen Staat aus freiem Willen eingegangen ist. Nach den von der niederländischen Regierung unwidersprochenen Angaben der Kommission haben PFA und die Hauptschuldner, d. h. die beliehenen niederländischen Verbände, die Höhe der Gegenleistung für die Bürgschaft frei festgesetzt. PFA und die Kommission haben in der mündlichen Verhandlung ferner darauf hingewiesen, dass es PFA freisteht, den Bürgschaftsvertrag - unter Einhaltung einer Kündigungsfrist von dreißig Tagen - jederzeit zu beenden.

34 Drittens sind die vertraglichen Bestimmungen zu berücksichtigen, die den Umfang der Verpflichtungen des Bürgen festlegen. In diesem Zusammenhang kann die im Ausgangsverfahren von der niederländischen Regierung zur Sprache gebrachte Übereinstimmung zwischen den Bestimmungen des Bescheides vom 5. März 1991 betreffend die Anerkennung nationaler Transportunternehmerverbände und den Bestimmungen des Übereinkommens, die die von PFA eingegangenen Verpflichtungen zur Sicherheitsleistung festlegen, nicht als Beweis für die Ausübung hoheitlicher Befugnisse durch den niederländischen Staat gegenüber dem Bürgen angesehen werden. Dass die Hauptverpflichtung und die Verpflichtungen des Bürgen übereinstimmen, folgt nämlich aus der Akzessorietät des Bürgschaftsvertrags. Im Ausgangsverfahren ist es von geringer Bedeutung, dass der Umfang der Verpflichtung von PFA nach Maßgabe der Verpflichtungen der beliehenen niederländischen Verbände bestimmt wird, da feststeht, dass diese Verpflichtung PFA nicht auferlegt wurde, sondern eine Folge ihrer Willenserklärung ist.

35 Im Hinblick auf die Behauptung der niederländischen Regierung, PFA habe darauf verzichtet, bestimmte Vorschriften des niederländischen Bürgerlichen Gesetzbuchs - wie die Einrede der Aufrechnung, der Vorausklage und der Ausschließung der Solidarhaftung - geltend zu machen, ist festzustellen, dass solche Vereinbarungen im Geschäftsverkehr üblich sind. Sie könnten nur dann eine Ausübung hoheitlicher Befugnisse durch den niederländischen Staat gegenüber dem Bürgen darstellen, wenn sie die Grenzen der den Parteien durch die für den Vertrag geltenden Rechtsvorschriften eingeräumten Freiheit überschritten, was vom vorlegenden Gericht festgestellt werden muss.

36 Aufgrund all dessen ist auf die erste Frage zu antworten, dass Artikel 1 Absatz 1 des Brüsseler Übereinkommens dahin auszulegen ist, dass eine Klage, mit der ein Vertragsstaat von einer Privatperson die Erfuellung eines privatrechtlichen Bürgschaftsvertrags verlangt, der geschlossen wurde, um einem Dritten die Erbringung einer von diesem Staat geforderten und festgelegten Sicherheit zu ermöglichen, unter den Begriff der Zivil- und Handelssachen" im Sinne des Satzes 1 dieser Bestimmung fällt, sofern die Rechtsbeziehung zwischen dem Gläubiger und dem Bürgen, wie sie sich aus dem Bürgschaftsvertrag ergibt, keine Ausübung von Befugnissen durch den Staat darstellt, die von den im Verhältnis zwischen Privatpersonen geltenden Regeln abweichen.

Zur zweiten Vorlagefrage

37 Diese Frage des vorlegenden Gerichts geht im Wesentlichen dahin, ob Artikel 1 Absatz 1 des Brüsseler Übereinkommens dahin auszulegen ist, dass eine Klage, mit der ein Vertragsstaat von einer Privatperson die Erfuellung eines privatrechtlichen Bürgschaftsvertrags verlangt, der die Zahlung einer Zollschuld sicherstellen soll, unter den Begriff der Zollsachen" im Sinne des Satzes 2 dieser Bestimmung fällt, wenn der Bürge Verteidigungsmittel geltend machen kann, die eine Prüfung des Bestehens und des Inhalts der Zollschuld erforderlich machen.

38 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass Artikel 1 Absatz 1 Satz 2 des Brüsseler Übereinkommens durch das Übereinkommen vom 9. Oktober 1978 über den Beitritt des Königreichs Dänemark, Irlands und des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland zum Brüsseler Übereinkommen eingefügt wurde, um beispielhaft die Gebiete aufzuführen, die nicht in den Anwendungsbereich des Brüsseler Übereinkommens fallen (vgl. den Bericht von P. Schlosser zu diesem Übereinkommen, ABl. 1979, C 59, S. 71, Nr. 23). Dieser Satz soll lediglich unterstreichen, dass Zollsachen" nicht unter den Begriff Zivil- und Handelssachen" fallen. Diese Klarstellung hat jedoch nicht zur Folge, dass die Tragweite dieses Begriffes begrenzt oder geändert würde.

39 Hieraus folgt, dass das Kriterium, anhand dessen die Grenzen des Begriffes Zollsachen" festgelegt werden können, demjenigen entsprechen muss, das für den Begriff Zivil- und Handelssachen" angewandt wird.

40 Somit ist, wie in Randnummer 36 dieses Urteils ausgeführt, festzustellen, dass eine Klage, mit der ein Vertragsstaat von einer Privatperson die Erfuellung eines privatrechtlichen Bürgschaftsvertrags verlangt, der geschlossen wurde, um die Zahlung der Zollschuld eines Dritten sicherzustellen, unter den Begriff der Zivil- und Handelssachen" fällt, sofern die Rechtsbeziehung zwischen dem Gläubiger und dem Bürgen, wie sie sich aus dem Bürgschaftsvertrag ergibt, keine Ausübung von Befugnissen darstellt, die von den im Verhältnis zwischen Privatpersonen geltenden Regeln abweichen.

41 Die Möglichkeit, dass der Bürge Verteidigungsmittel geltend machen kann, die eine Prüfung erforderlich machen, ob die durch die Bürgschaft gesicherte Zollschuld eingefordert werden kann, tut dieser Feststellung keinen Abbruch.

42 Bei der Feststellung, ob ein Rechtsstreit in den Anwendungsbereich des Brüsseler Übereinkommens fällt, ist nämlich nur der Gegenstand dieses Rechtsstreits zu berücksichtigen. Es würde gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit, eines der Ziele dieses Übereinkommens, verstossen, wenn dessen Anwendbarkeit von der Existenz einer Vorfrage abhinge, die von den Parteien jederzeit aufgeworfen werden kann (vgl. in diesem Sinn Urteile vom 25. Juli 1991 in der Rechtssache C-190/89, Rich, Slg. 1991, I-3855, Randnr. 26, und vom 20. Januar 1994 in der Rechtssache C-129/92, Owens Bank, Slg. 1994, I-117, Randnr. 34).

43 Hat ein Rechtsstreit die Erfuellung einer Bürgschaftsverpflichtung unter Bedingungen zum Gegenstand, die die Annahme rechtfertigen, dass diese Verpflichtung in den Anwendungsbereich des Brüsseler Übereinkommens fällt, so hat der Umstand, dass der Bürge Verteidigungsmittel betreffend die Möglichkeit, die Hauptschuld einzufordern, geltend machen kann, die auf vom Anwendungsbereich des Brüsseler Übereinkommens ausgeschlossene Gebiete gestützt sind, keinen Einfluss auf die Einbeziehung des Rechtsstreits selbst in den Anwendungsbereich dieses Übereinkommens.

44 Aus alledem folgt, dass Artikel 1 Absatz 1 des Brüsseler Übereinkommens dahin auszulegen ist, dass eine Klage, mit der ein Vertragsstaat von einer Privatperson die Erfuellung eines privatrechtlichen Bürgschaftsvertrags verlangt, der die Zahlung einer Zollschuld sicherstellen soll, nicht unter den Begriff der Zollsachen" im Sinne des Satzes 2 dieser Bestimmung fällt, wenn die Rechtsbeziehung zwischen dem Staat und dem Bürgen, die sich aus diesem Vertrag ergibt, keine Ausübung von Befugnissen durch den Staat darstellt, die von den im Verhältnis zwischen Privatpersonen geltenden Regeln abweichen, und zwar auch dann, wenn der Bürge Verteidigungsmittel geltend machen kann, die eine Prüfung des Bestehens und des Inhalts der Zollschuld erforderlich machen.

Kostenentscheidung:

Kosten

45 Die Auslagen der niederländischen Regierung und der Kommission, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

auf die ihm vom Hoge Raad der Nederlanden mit Urteil vom 18. Mai 2001 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

Artikel 1 Absatz 1 des Übereinkommens vom 27. September 1968 in der Fassung des Übereinkommens vom 9. Oktober 1978 über den Beitritt des Königreichs Dänemark, Irlands und des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland, des Übereinkommens vom 25. Oktober 1982 über den Beitritt der Republik Griechenland und des Übereinkommens vom 26. Mai 1989 über den Beitritt des Königreichs Spanien und der Portugiesischen Republik ist dahin auszulegen, dass

- eine Klage, mit der ein Vertragsstaat von einer Privatperson die Erfuellung eines privatrechtlichen Bürgschaftsvertrags verlangt, der geschlossen wurde, um einem Dritten die Erbringung einer von diesem Staat geforderten und festgelegten Sicherheit zu ermöglichen, unter den Begriff der Zivil- und Handelssachen" im Sinne des Satzes 1 dieser Bestimmung fällt, sofern die Rechtsbeziehung zwischen dem Gläubiger und dem Bürgen, wie sie sich aus dem Bürgschaftsvertrag ergibt, keine Ausübung von Befugnissen durch den Staat darstellt, die von den im Verhältnis zwischen Privatpersonen geltenden Regeln abweichen;

- eine Klage, mit der ein Vertragsstaat von einer Privatperson die Erfuellung eines privatrechtlichen Bürgschaftsvertrags verlangt, der die Zahlung einer Zollschuld sicherstellen soll, nicht unter den Begriff der Zollsachen" im Sinne des Satzes 2 dieser Bestimmung fällt, wenn die Rechtsbeziehung zwischen dem Staat und dem Bürgen, die sich aus diesem Vertrag ergibt, keine Ausübung von Befugnissen durch den Staat darstellt, die von den im Verhältnis zwischen Privatpersonen geltenden Regeln abweichen, und zwar auch dann, wenn der Bürge Verteidigungsmittel geltend machen kann, die eine Prüfung des Bestehens und des Inhalts der Zollschuld erforderlich machen.

Ende der Entscheidung

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