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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 12.06.1997
Aktenzeichen: C-266/95
Rechtsgebiete: VO (EWG) Nr. 1408/71, EG-Vertrag, BKGG


Vorschriften:

VO (EWG) Nr. 1408/71 Art. 73
EG-Vertrag Art. 48
EG-Vertrag Art. 51
BKGG § 1
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

3 Eine Person, die in Deutschland wohnt und arbeitet, während ihre Kinder in einem anderen Mitgliedstaaten wohnen, und die im Einverständnis mit ihrem Arbeitgeber unbezahlten Urlaub genommen hat, fällt unter den Begriff "Arbeitnehmer" im Sinne von Artikel 1 Buchstabe a Ziffer i der Verordnung Nr. 1408/71, soweit sie gegen ein Risiko oder gegen mehrere Risiken, die von den Zweigen eines Systems der sozialen Sicherheit für Arbeitnehmer oder Selbständige erfasst werden, pflichtversichert oder freiwillig weiterversichert ist.

Jedoch ist Arbeitnehmer für die Zwecke der Gewährung von Familienleistungen nach deutschem Recht gemäß Artikel 73 der Verordnung nur, wer der Definition des Artikels 1 Buchstabe a Ziffer ii in Verbindung mit Anhang I Abschnitt I Unterabschnitt C der Verordnung entspricht, d. h., wer in einem der in diesem Anhang genannten Systeme pflichtversichert ist. Könnte sich nämlich ein Erwerbstätiger in einer Lage, wie sie oben beschrieben wurde, auf eine der anderen Definitionen des "Arbeitnehmers" in Artikel 1 Buchstabe a der Verordnung berufen, um deutsche Familienleistungen zu erhalten, so hätte diese Bestimmung des Anhangs im Ergebnis keine praktische Wirksamkeit.

Anhang I Abschnitt I Unterabschnitt C der Verordnung verstösst bei dieser Auslegung gegen keine Bestimmung des Vertrages. Entspricht nämlich ein Arbeitnehmer, der sich in der beschriebenen Lage befindet, nicht der Definition der erwähnten Bestimmungen in Verbindung miteinander, und wird er insbesondere nicht vom Anhang erfasst, so hängt die Frage der Gewährung der Familienleistungen von der Anwendung der nationalen Regelung und nicht von derjenigen des Anhangs ab.

Im übrigen verleiht Artikel 73 der Verordnung nicht selbst einen Anspruch auf solche Leistungen, sondern er soll insbesondere verhindern, daß ein Mitgliedstaat die Gewährung oder die Höhe von Familienleistungen davon abhängig macht, daß die Familienangehörigen des Erwerbstätigen im Mitgliedstaat der Leistung wohnen, und damit Erwerbstätige davon abhält, von ihrem Recht auf Freizuegigkeit Gebrauch zu machen.

4 Die Anwendung einer nationalen Regelung, nach der Arbeitnehmer, deren Kinder in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, für volle Kalendermonate im Rahmen eines längeren unbezahlten Urlaubs anders als Arbeitnehmer, deren Kinder im betreffenden Staat wohnen, keinen Anspruch auf Familienleistungen haben, verstösst gegen Artikel 48 Absatz 2 des Vertrages.

Da sich nämlich eine solche Regelung auf nichts stützen kann, was sie objektiv rechtfertigen könnte, diskriminiert sie Wanderarbeitnehmer, da meistens deren Kinder im Ausland wohnen.


Urteil des Gerichtshofes (Sechste Kammer) vom 12. Juni 1997. - Pascual Merino García gegen Bundesanstalt für Arbeit. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Bundessozialgericht - Deutschland. - Soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer - Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 - Persönlicher Geltungsbereich - Begriff des Arbeitnehmers - Familienleistungen. - Rechtssache C-266/95.

Entscheidungsgründe:

1 Das Bundessozialgericht hat mit Beschluß vom 20. Juni 1995, beim Gerichtshof eingegangen am 8. August 1995, Fragen nach der Auslegung und der Gültigkeit des Anhangs I Abschnitt I Unterabschnitt C der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 vom 2. Juni 1983 (ABl. L 230, S. 6) geänderten und aktualisierten Fassung, geändert durch die Verordnung Nr. 3427/89 des Rates vom 30. Oktober 1989 (ABl. L 331, S. 1; Verordnung), zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen Pascual Merino García (Kläger) und der Bundesanstalt für Arbeit, die es ablehnte, dem Kläger für die Monate Februar 1986 und Februar 1987, in denen er sich im unbezahlten Urlaub befand, Kindergeld zu gewähren.

Zur Verordnung

3 In Artikel 1 Buchstabe a der Verordnung werden die Begriffe "Arbeitnehmer" und "Selbständiger" definiert als jede Person,

"i) die gegen ein Risiko oder gegen mehrere Risiken, die von den Zweigen eines Systems der sozialen Sicherheit für Arbeitnehmer oder Selbständige erfasst werden, pflichtversichert oder freiwillig weiterversichert ist;

ii) die im Rahmen eines für alle Einwohner oder die gesamte erwerbstätige Bevölkerung geltenden Systems der sozialen Sicherheit gegen ein Risiko oder gegen mehrere Risiken pflichtversichert ist, die von den Zweigen erfasst werden, auf die diese Verordnung anzuwenden ist,

- wenn diese Person aufgrund der Art der Verwaltung oder der Finanzierung dieses Systems als Arbeitnehmer oder Selbständiger unterschieden werden kann oder

- wenn sie bei Fehlen solcher Kriterien im Rahmen eines für Arbeitnehmer oder Selbständige errichteten Systems oder eines Systems der Ziffer iii) gegen ein anderes in Anhang I bestimmtes Risiko pflichtversichert ist oder wenn auf sie bei Fehlen eines solchen Systems in dem betreffenden Mitgliedstaat die in Anhang I enthaltene Definition zutrifft;

iii) die gegen mehrere Risiken, die von den unter diese Verordnung fallenden Zweigen erfasst werden, im Rahmen eines für die gesamte Landbevölkerung nach den Kriterien des Anhangs I geschaffenen einheitlichen Systems der sozialen Sicherheit pflichtversichert ist;

iv) die gegen ein Risiko oder gegen mehrere Risiken, die von den unter diese Verordnung fallenden Zweigen erfasst werden, im Rahmen eines für Arbeitnehmer, für Selbständige, für alle Einwohner eines Mitgliedstaats oder für bestimmte Gruppen von Einwohnern geschaffenen Systems der sozialen Sicherheit eines Mitgliedstaats freiwillig versichert ist,

- wenn sie im Lohn- oder Gehaltsverhältnis beschäftigt ist oder eine selbständige Tätigkeit ausübt oder

- wenn sie früher im Rahmen eines für Arbeitnehmer oder Selbständige desselben Mitgliedstaats errichteten Systems gegen das gleiche Risiko pflichtversichert war".

4 Nach Artikel 13 Absatz 1 der Verordnung unterliegen Personen, für die diese Verordnung gilt, grundsätzlich den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats.

5 Gemäß Artikel 13 Absatz 2 Buchstabe a unterliegt eine Person, die im Gebiet eines Mitgliedstaats im Lohn- oder Gehaltsverhältnis beschäftigt ist, den Rechtsvorschriften dieses Staates, und zwar auch dann, wenn sie im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnt oder ihr Arbeitgeber oder das Unternehmen, das sie beschäftigt, seinen Wohnsitz oder Betriebssitz im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats hat.

6 Nach Artikel 73 der Verordnung hat ein Arbeitnehmer oder ein Selbständiger, der den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats unterliegt, für seine Familienangehörigen, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des ersten Staates, als ob diese Familienangehörigen im Gebiet dieses Staates wohnten.

7 Anhang I Abschnitt I Unterabschnitt C der Verordnung lautet wie folgt:

C. Deutschland

"Ist ein deutscher Träger der zuständige Träger für die Gewährung der Familienleistungen gemäß Titel III Kapitel 7 der Verordnung, so gilt im Sinne des Artikels 1 Buchstabe a) Ziffer ii) der Verordnung

a) als Arbeitnehmer, wer für den Fall der Arbeitslosigkeit pflichtversichert ist oder im Anschluß an diese Versicherung Krankengeld oder entsprechende Leistungen erhält;

b) als Selbständiger, wer eine Tätigkeit als Selbständiger ausübt und

- in einer Versicherung der selbständig Erwerbstätigen für den Fall des Alters versicherungs- oder beitragspflichtig ist,

oder

- in der gesetzlichen Rentenversicherung versicherungspflichtig ist."

Zur nationalen Regelung

8 Nach § 1 Absatz 1 Nummer 1 des Bundeskindergeldgesetzes (BGBl. 1964 I S. 265; BKGG) hat Anspruch auf Kindergeld für seine Kinder und die ihnen durch § 2 Absatz 1 Gleichgestellten, wer im Geltungsbereich dieses Gesetzes einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat.

9 Nach § 2 Absatz 5 Nummer 1 BKGG werden Kinder, die weder einen Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich des BKGG haben, nicht berücksichtigt.

10 Nach § 9 BKGG wird das Kindergeld vom Beginn des Monats an, in dem die Anspruchsvoraussetzungen erfuellt sind, bis zum Ende des Monats gewährt, in dem die Anspruchsvoraussetzungen wegfallen.

11 Nach § 42 Absatz 2 bleiben die Bestimmungen der Gemeinschaftsverordnungen vom BKGG unberührt.

12 Nach § 311 Nummer 1 der Reichsversicherungsordnung (RGBl. 1924 I S. 799; RVO) bleibt die Mitgliedschaft Versicherungspflichtiger in der Krankenversicherung erhalten, solange das Arbeitsverhältnis ohne Entgeltzahlung fortbesteht, längstens jedoch für drei Wochen.

13 Nach § 104 Absatz 1 Sätze 2 und 3 des Arbeitsförderungsgesetzes (BGBl. 1969 I S. 582; AFG) dienen Zeiten, für die kein Arbeitsentgelt gezahlt wird, nicht zur Erfuellung der Anwartschaft auf Arbeitslosengeld, sofern sie jeweils vier Wochen überschreiten.

Sachverhalt

14 Der Kläger ist spanischer Staatsangehöriger, in Deutschland wohnhaft und dort als Arbeitnehmer beschäftigt. Seine drei Kinder wohnen in Spanien.

15 Am 19. Dezember 1989 beantragte er bei der Bundesanstalt für Arbeit für seine Kinder nach deutschem Recht Kindergeld für die Zeit von Januar 1986 bis Dezember 1988 einschließlich der Zeiten, in denen er im Einverständnis mit seinem Arbeitgeber unbezahlten Urlaub genommen hatte, nämlich vom 20. Januar bis 2. März 1986 und vom 13. Januar bis 2. März 1987. Nach den Akten wurde durch diesen Urlaub sein Arbeitsverhältnis nicht beendet.

16 Die Bundesanstalt für Arbeit gewährte ihm das beantragte Kindergeld für diesen Zeitraum mit Ausnahme der Monate Februar 1986 und Februar 1987 (die streitigen Monate). Nach ihrer Ansicht konnte der Kläger gemäß § 104 Absatz 1 AFG in Verbindung mit Anhang I Abschnitt I Unterabschnitt C Buchstabe a (Anhang) nicht mehr als Arbeitnehmer im Sinne von Artikel 73 der Verordnung angesehen werden, da die beiden streitigen Zeiten unbezahlten Urlaubs vier Wochen überschritten.

17 Der Kläger erhob mit Klageschrift vom 19. Februar 1990 beim Sozialgericht Mannheim Klage gegen die Bundesanstalt für Arbeit auf Zahlung des Kindergelds für die beiden streitigen Monate. Diese Klage wurde vom Sozialgericht Mannheim mit Urteil vom 14. Oktober 1992 abgewiesen, die Berufung vom Landessozialgericht Baden-Württemberg mit Urteil vom 21. September 1993 zurückgewiesen.

18 Am 27. Mai 1994 legte der Kläger Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts ein. Mit dieser Revision machte er geltend, er sei Arbeitnehmer im Sinne von Artikel 73 der Verordnung; der Anhang diskriminiere Arbeitnehmer aus der Gemeinschaft, deren Kinder in einem anderen Mitgliedstaat wohnten.

Die Vorlagefragen

19 Das Bundessozialgericht führt in seinem Vorlagebeschluß aus, daß der Kläger für die streitigen Monate weder nach dem BKGG noch nach Artikel 1 Buchstabe a in Verbindung mit Artikel 73 und dem Anhang der Verordnung Anspruch auf Kindergeld habe. Da es jedoch Zweifel an der Gültigkeit des Anhangs hat, hat es das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen vorgelegt:

1. Ist Anhang I Abschnitt I Unterabschnitt C der Verordnung Nr. 1408/71 insoweit mit dem EG-Vertrag, insbesondere dessen Artikel 48 Absatz 2, vereinbar, als er dazu führt, daß Arbeitnehmern mit Kindern mit Wohnsitz im Ausland bei längerem unbezahltem Urlaub für die hiervon erfassten vollen Kalendermonate kein Kindergeld zusteht, wohl aber solchen Arbeitnehmern, deren Kinder ihren Wohnsitz in Deutschland haben?

2. Im Falle der Ungültigkeit des Anhangs I Abschnitt I Unterabschnitt C der Verordnung Nr. 1408/71: Folgt hieraus, daß "Arbeitnehmer" im Sinne des Artikels 73 der Verordnung Nr. 1408/71 auch jede Person ist, die von ihrem Arbeitgeber aufgrund freiwilliger Vereinbarung unbezahlt freigestellt wird? Oder gelten insoweit Einschränkungen (z. B. hinsichtlich der Dauer der Freistellung)?

20 Mit seinen Vorlagefragen begehrt das nationale Gericht zunächst Auskunft darüber, ob Arbeitnehmer für die Zwecke der Zahlung von Kindergeld nach deutschem Recht gemäß Artikel 73 der Verordnung nur ist, wer der Definition des Artikels 1 Buchstabe a Ziffer ii in Verbindung mit dem Anhang entspricht. Bejahendenfalls möchte es sodann wissen, ob der Anhang in Anbetracht des Artikels 48 Absatz 2 EG-Vertrag gültig ist. Falls der Anhang gültig ist, möchte es weiter wissen, ob die Anwendung einer nationalen Regelung, nach der Arbeitnehmer, deren Kinder in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, für volle Kalendermonate im Rahmen eines längeren unbezahlten Urlaubs anders als Arbeitnehmer, deren Kinder in dem betreffenden Staat wohnen, keinen Anspruch auf Familienleistungen haben, gegen Artikel 48 Absatz 2 verstösst. Diese drei Gesichtspunkte sind nacheinander zu untersuchen.

Zur Auslegung des Anhangs

21 Der persönliche Geltungsbereich der Verordnung wird durch Artikel 2 definiert, der zu Titel I - Allgemeine Vorschriften - gehört. Gemäß Artikel 2 Absatz 1 gilt die Verordnung u. a. "für Arbeitnehmer und Selbständige, für welche die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, soweit sie Staatsangehörige eines Mitgliedstaats sind".

22 Der in dieser Bestimmung verwendete Begriff "Arbeitnehmer" ist in Artikel 1 Buchstabe a der Verordnung definiert. Er bezeichnet jede Person, die im Rahmen eines der in Artikel 1 Buchstabe a aufgeführten Systeme der sozialen Sicherheit unter den dort genannten Voraussetzungen gegen die in dieser Vorschrift angeführten Risiken versichert ist (Urteil vom 3. Mai 1990 in der Rechtssache C-2/89, Kits van Heijningen, Slg. 1990, I-1755, Randnr. 9).

23 Eine Person in der Lage des Klägers fällt unter den Begriff "Arbeitnehmer" insbesondere im Sinne von Artikel 1 Buchstabe a Ziffer i der Verordnung, soweit sie gegen ein Risiko oder gegen mehrere Risiken, die von den Zweigen eines Systems der sozialen Sicherheit für Arbeitnehmer oder Selbständige erfasst werden, pflichtversichert oder freiwillig weiterversichert ist.

24 Wie der Gerichtshof in seinem Urteil vom 30. Januar 1997 in den verbundenen Rechtssachen C-4/95 und C-5/95 (Stöber und Pereira, Slg. 1997, I-0000, Randnr. 29), in dem es um Selbständige ging, festgestellt hat, haben gemäß dem Anhang, auf den Artikel 1 Buchstabe a Ziffer ii der Verordnung Nr. 1408/71 verweist, nur solche Erwerbstätige Anspruch auf die deutschen Familienleistungen gemäß Titel III Kapitel 7 der Verordnung, die in einem der dort genannten Systeme pflichtversichert sind (vgl. auch Urteil vom 10. Oktober 1996 in den verbundenen Rechtssachen C-245/94 und C-312/94, Höver und Zachow, Slg. 1996, I-0000, Randnr. 29).

25 Könnte sich ein Erwerbstätiger in einer Lage, wie sie dem Ausgangsverfahren zugrunde liegt, auf eine der anderen Definitionen des "Arbeitnehmers" in Artikel 1 Buchstabe a berufen, um deutsche Familienleistungen zu erhalten, so hätte diese Bestimmung des Anhangs im Ergebnis keine praktische Wirksamkeit (Urteil Stöber und Pereira, a. a. O., Randnr. 32).

26 Daher ist Arbeitnehmer für die Zwecke der Gewährung von Familienleistungen nach deutschem Recht gemäß Artikel 73 der Verordnung nur, wer der Definition des Artikels 1 Buchstabe a Ziffer ii in Verbindung mit dem Anhang entspricht.

Zur Gültigkeit des Anhangs

27 Artikel 51 EG-Vertrag sieht eine Koordinierung, nicht aber eine Harmonisierung des Rechts der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit vor. Die materiellen und verfahrensmässigen Unterschiede zwischen den Systemen der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten und damit den Ansprüchen der dort Beschäftigten werden somit durch diese Bestimmung nicht berührt (insbes. Urteil vom 15. Januar 1986 in der Rechtssache 41/84, Pinna, Slg. 1986, 1, Randnr. 20).

28 Artikel 73 der Verordnung soll insbesondere verhindern, daß ein Mitgliedstaat die Gewährung oder die Höhe von Familienleistungen davon abhängig macht, daß die Familienangehörigen des Erwerbstätigen im Mitgliedstaat der Leistung wohnen, und damit Erwerbstätige davon abhält, von ihrem Recht auf Freizuegigkeit Gebrauch zu machen (Urteil Höver und Zachow, a. a. O., Randnr. 34).

29 Aus dem Wortlaut dieser Bestimmung ergibt sich eindeutig, daß sie nicht selbst einen Anspruch auf Familienleistungen verleiht. Familienleistungen werden nämlich aufgrund des einschlägigen nationalen Rechts, im vorliegenden Fall des BKGG, gewährt.

30 Im übrigen folgt aus dem Anhang in von ihm nicht erfassten Fällen nicht, daß Gemeinschaftsangehörige, die in Deutschland arbeiten und deren Kinder in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, keinen Anspruch auf Familienleistungen hätten. Daher hat, wie der Generalanwalt in Nummer 26 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, der Kläger seinen Anspruch auf Familienleistungen für die beiden streitigen Zeiten unbezahlten Urlaubs aufgrund des BKGG und nicht aufgrund des Anhangs verloren.

31 Somit hat die Untersuchung dieses Gesichtspunkts nichts ergeben, was gegen die Gültigkeit des Anhangs spräche.

Zur Auslegung von Artikel 48 Absatz 2 EG-Vertrag

32 Nach Ansicht des Klägers behindert § 104 Absatz 1 Sätze 2 und 3 AFG die Freizuegigkeit und führt zu einer gegen Artikel 48 Absatz 2 EG-Vertrag verstossenden Diskriminierung, da der Kläger nach dieser Bestimmung Anspruch auf Familienleistungen für seine in einem anderen Mitgliedstaat wohnenden Kinder nur für die Zeit habe, in der er Beiträge zur Arbeitslosenversicherung entrichtet habe.

33 Der Gerichtshof hat wiederholt festgestellt, daß der Gleichheitssatz des Artikels 48 Absatz 2 EG-Vertrag nicht nur offene Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit, sondern auch alle verdeckten Formen der Diskriminierung verbietet, die mit Hilfe der Anwendung anderer Unterscheidungsmerkmale tatsächlich zu demselben Ergebnis führen (Urteil Pinna, a. a. O., Randnr. 23).

34 Im Ausgangsverfahren standen dem Kläger keine Familienleistungen für seine in Spanien wohnenden Kinder zu, während solche Leistungen nach dem BKGG jedem zustehen, der im Geltungsbereich dieses Gesetzes einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, wenn auch seine unterhaltsberechtigten Kinder dort einen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben. Weiter findet Artikel 48 Absatz 2 EG-Vertrag im vorliegenden Fall Anwendung, da der Kläger aufgrund seines Beschäftigungsverhältnisses während eines innerhalb der streitigen Monate liegenden Zeitraums in Deutschland gegen das Risiko Krankheit versichert blieb.

35 Das Vorbringen der deutschen Regierung, daß § 2 Absatz 5 BKGG sowohl für deutsche als auch für ausländische Staatsangehörige gelte, deren Kinder die Wohnortvoraussetzungen nicht erfuellten, ist nicht stichhaltig. Wie der Gerichtshof nämlich in Randnummer 24 des Urteils Pinna (a. a. O.) festgestellt hat, stellt sich das Problem, daß die Familienangehörigen ausserhalb des Mitgliedstaats der Leistung wohnen, im wesentlichen für die Wanderarbeitnehmer (vgl. auch Urteil Stöber und Pereira, a. a. O., Randnr. 38).

36 Da aus den Akten nichts hervorgeht, was diese unterschiedliche Behandlung objektiv rechtfertigen könnte, ist sie diskriminierend und daher mit Artikel 48 Absatz 2 EG-Vertrag unvereinbar.

37 Daher ist dem vorlegenden Gericht zu antworten, daß Arbeitnehmer für die Zwecke der Gewährung von Familienleistungen nach deutschem Recht gemäß Artikel 73 der Verordnung nur ist, wer der Definition des Artikels 1 Buchstabe a Ziffer ii in Verbindung mit dem Anhang entspricht. Ferner hat die Prüfung der Vorlagefragen nichts ergeben, was gegen die Gültigkeit des Anhangs spräche. Jedoch verstösst die Anwendung einer nationalen Regelung, nach der Arbeitnehmer, deren Kinder in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, für volle Kalendermonate im Rahmen eines längeren unbezahlten Urlaubs anders als Arbeitnehmer, deren Kinder im betreffenden Staat wohnen, keinen Anspruch auf Familienleistungen haben, gegen Artikel 48 Absatz 2 EG-Vertrag.

Kostenentscheidung:

Kosten

38 Die Auslagen der deutschen und der spanischen Regierung sowie des Rates der Europäischen Union und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem nationalen Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

(Sechste Kammer)

auf die ihm vom Bundessozialgericht mit Beschluß vom 20. Juni 1995 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

Für die Zwecke der Gewährung von Familienleistungen nach deutschem Recht gemäß Artikel 73 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 vom 2. Juni 1983 geänderten und aktualisierten Fassung, geändert durch die Verordnung Nr. 3427/89 des Rates vom 30. Oktober 1989, ist Arbeitnehmer nur, wer der Definition gemäß Artikel 1 Buchstabe a Ziffer ii in Verbindung mit Anhang I Abschnitt I Unterabschnitt C der Verordnung entspricht. Ferner hat die Prüfung der Vorlagefragen nichts ergeben, was gegen die Gültigkeit der genannten Bestimmung des Anhangs spräche. Jedoch verstösst die Anwendung einer nationalen Regelung, nach der Arbeitnehmer, deren Kinder in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, für volle Kalendermonate im Rahmen eines längeren unbezahlten Urlaubs anders als Arbeitnehmer, deren Kinder im betreffenden Staat wohnen, keinen Anspruch auf Familienleistungen haben, gegen Artikel 48 Absatz 2 EG-Vertrag.

Ende der Entscheidung

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