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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 25.05.1993
Aktenzeichen: C-271/92
Rechtsgebiete: EWG-Vertrag


Vorschriften:

EWG-Vertrag Art. 177
EWG-Vertrag Art. 30
EWG-Vertrag Art. 36
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Artikel 30 des Vertrages ist dahin auszulegen, daß er nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, die den Verkauf von Brillenartikeln und Korrekturgläsern den Inhabern eines Augenoptiker-Diploms vorbehalten.

Nationale Rechtsvorschriften, die einer bestimmten Berufsgruppe den Vertrieb von bestimmten Erzeugnissen zuweisen, sind nämlich dadurch, daß sie die Verkäufe in eine bestimmte Richtung lenken, geeignet, die Absatzmöglichkeiten für eingeführte Erzeugnisse zu beeinträchtigen, und können unter diesen Voraussetzungen eine Maßnahme mit gleicher Wirkung wie eine mengenmässige Einfuhrbeschränkung im Sinne des Artikels 30 des Vertrages darstellen.

2. Artikel 36 des Vertrages ist dahin auszulegen, daß nationale Rechtsvorschriften, die den Verkauf von Kontaktlinsen und damit zusammenhängenden Erzeugnissen in Handelsbetrieben verbieten, die nicht von Personen geleitet oder geführt werden, die die für die Ausübung des Berufes des Augenoptikers erforderlichen Voraussetzungen erfuellen, aus Gründen des Schutzes der öffentlichen Gesundheit gerechtfertigt sind.

Solche Rechtsvorschriften bezwecken nämlich dadurch, daß sie den Verkauf dieser Erzeugnisse Fachkräften vorbehalten, die Inhaber eines Berufsdiploms sind, den Schutz der öffentlichen Gesundheit, den zu gewährleisten sie geeignet sind, und sie gehen nicht über das zur Erreichung dieses Zweckes Erforderliche hinaus.


URTEIL DES GERICHTSHOFES (SECHSTE KAMMER) VOM 25. MAI 1993. - LABORATOIRE DE PROTHESES OCULAIRES GEGEN UNION NATIONALE DES SYNDICATS D'OPTICIENS DE FRANCE, GROUPEMENT D'OPTICIENS LUNETIERS DETAILLANTS, SYNDICAT DES OPTICIENS FRANCAIS INDEPENDANTS UND SYNDICAT NATIONAL DES ADAPTEURS D'OPTIQUE DE CONTACT. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: COUR DE CASSATION - FRANKREICH. - AUSLEGUNG DER ARTIKEL 30 UND 36 EWG-VERTRAG - NATIONALE RECHTSVORSCHRIFTEN UEBER DEN VERKAUF VON KONTAKTLINSEN. - RECHTSSACHE C-271/92.

Entscheidungsgründe:

1 Die französische Cour de cassation hat mit Urteil vom 2. Juni 1992, beim Gerichtshof eingegangen am 16. Juni 1992, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag zwei Fragen nach der Auslegung der Artikel 30 und 36 des Vertrages im Hinblick auf den französischen Code de la santé publique [Gesetz über die öffentliche Gesundheit], der den Verkauf von Korrekturgläsern durch Personen, die nicht Inhaber eines Augenoptiker-Diploms oder gleichwertigen Befähigungsnachweises sind, verbietet, zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen sind im Rahmen eines Rechtsstreits aufgeworfen worden, in dem die Gesellschaft LPO, die Kontaktlinsen, intraokulare Implantate und damit zusammenhängende Gegenstände vertreibt, mehreren Berufsorganisationen der Augenoptiker gegenübersteht, nach deren Ansicht die Gesellschaft LPO gegen die Vorschriften des Code de la santé publique über den Verkauf dieser Erzeugnisse verstösst.

3 Die Cour de cassation, die in diesem Rechtsstreit in letzter Instanz angerufen worden ist, hat beschlossen, das Verfahren auszusetzen, bis der Gerichtshof im Wege der Vorabentscheidung über folgende Fragen befunden hat:

1) Ist Artikel 30 EWG-Vertrag dahin auszulegen, daß er auf den Verkauf von Kontaktlinsen und damit zusammenhängenden Erzeugnissen anwendbar ist, für den ähnliche Voraussetzungen gelten, wie sie in den Artikeln L-505 und L-508 des Code de la santé publique vorgesehen sind, die den Verkauf von Brillenartikeln und Korrekturgläsern den Inhabern eines Augenoptiker-Diploms vorbehalten?

2) Können solche Rechtsvorschriften durch zwingende Erfordernisse des Verbraucherschutzes oder aus Gründen des Schutzes der Gesundheit und des Lebens von Menschen, wie sie in Artikel 36 EWG-Vertrag aufgeführt sind, gerechtfertigt sein?

4 Wegen weiterer Einzelheiten des Ausgangsverfahrens, des Verfahrensablaufs und der schriftlichen Erklärungen gegenüber dem Gerichtshof wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

Zur ersten Frage

5 Zunächst ist festzustellen, daß das Gemeinschaftsrecht keine gemeinsamen oder harmonisierten Regeln für den Vertrieb von Kontaktlinsen enthält. Hieraus ergibt sich, daß es in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt, die in diesem Bereich anwendbaren Vorschriften zu bestimmmen, sofern die Vorschriften des Vertrages und insbesondere diejenigen über den freien Warenverkehr beachtet werden.

6 Aus der Akte des Ausgangsverfahrens und aus den schriftlichen und mündlichen Erklärungen gegenüber dem Gerichtshof geht hervor, daß die französischen Rechtsvorschriften, die Gegenstand des Ausgangsverfahrens sind, ohne Unterschied auf inländische und auf eingeführte Erzeugnisse anwendbar sind und keine unmittelbaren Auswirkungen auf die Einfuhr haben.

7 Da es sich jedoch um Rechtsvorschriften handelt, die bestimmte Vertriebsformen verbieten, ist darauf hinzuweisen, daß der Gerichtshof entschieden hat, daß nationale Rechtsvorschriften, die einer bestimmten Berufsgruppe den Vertrieb von bestimmten Erzeugnissen zuweisen, dadurch, daß sie die Verkäufe in eine bestimmte Richtung lenken, geeignet sind, die Absatzmöglichkeiten für eingeführte Erzeugnisse zu beeinträchtigen, und unter diesen Voraussetzungen eine Maßnahme mit gleicher Wirkung wie eine mengenmässige Einfuhrbeschränkung im Sinne des Artikels 30 des Vertrages darstellen können (Urteile vom 21. März 1991 in der Rechtssache C-369/88, Delattre, Slg. 1991, I-1487, Randnr. 51, und in der Rechtssache C-60/89, Monteil, Slg. 1991, I-1547, Randnr. 38).

8 Hieraus folgt, daß sich Rechtsvorschriften wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die den Verkauf von Kontaktlinsen und damit zusammenhängenden Erzeugnissen fachkundigen Zwischenhändlern vorbehalten, auf den innergemeinschaftlichen Handelsverkehr auswirken können.

9 Auf die erste Frage ist daher zu antworten, daß Artikel 30 EWG-Vertrag dahin auszulegen ist, daß er nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, die den Verkauf von Brillenartikeln und Korrekturgläsern den Inhabern eines Augenoptiker-Diploms vorbehalten.

Zur zweiten Frage

10 Bei der Frage nach der Rechtfertigung solcher Rechtsvorschriften aus Gründen des Schutzes der öffentlichen Gesundheit gemäß Artikel 36 des Vertrages ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofes (Urteil vom 25. Juli 1991 in den Rechtssachen C-1/90 und C-176/90, Aragonesa, Slg. 1991, I-4151, Randnr. 16), daß es mangels gemeinsamer oder harmonisierter Regeln Sache der Mitgliedstaaten ist, zu entscheiden, auf welchem Niveau sie den Schutz der öffentlichen Gesundheit sicherstellen wollen und wie dieses Niveau erreicht werden soll. Sie können dies jedoch nur in dem vom Vertrag vorgegebenen Rahmen, insbesondere unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismässigkeit, tun.

11 Nationale Rechtsvorschriften, die den Verkauf von Erzeugnissen zur Korrektur von Fehlern einer Funktion des menschlichen Organismus Fachkräften vorbehalten, die Inhaber eines Berufsdiploms in dem betreffenden Bereich sind, bezwecken den Schutz der öffentlichen Gesundheit. Denn auch wenn die Verschreibung in die Zuständigkeit des Augenarztes fällt, kann doch der Verkauf von Kontaktlinsen nicht als eine Handelstätigkeit wie jede andere angesehen werden, da der Verkäufer in der Lage sein muß, den Benutzern Informationen zum Gebrauch der Kontaktlinsen und zu deren Pflege zu geben.

12 Es ist hinzuzufügen, daß Rechtsvorschriften wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismässigkeit verstossen. Denn die Tatsache, daß der Verkauf von Kontaktlinsen und damit zusammenhängenden Erzeugnissen den Augenoptikern vorbehalten wird, ist geeignet, den Schutz der öffentlichen Gesundheit zu gewährleisten. Den Akten ist nicht zu entnehmen, daß derartige Rechtsvorschriften über das zur Erreichung dieses Zwecks Erforderliche hinausgehen.

13 Auf die zweite Frage ist demnach zu antworten, daß Artikel 36 des Vertrages dahin auszulegen ist, daß nationale Rechtsvorschriften, die den Verkauf von Kontaktlinsen und damit zusammenhängenden Erzeugnissen in Handelsbetrieben verbieten, die nicht von Personen geleitet oder geführt werden, die die für die Ausübung des Berufs des Augenoptikers erforderlichen Voraussetzungen erfuellen, aus Gründen des Schutzes der öffentlichen Gesundheit gerechtfertigt sind.

Kostenentscheidung:

Kosten

14 Die Auslagen der französischen Regierung, der griechischen Regierung und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)

auf die ihm von der französischen Cour de cassation mit Urteil vom 2. Juni 1992 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

1) Artikel 30 EWG-Vertrag ist dahin auszulegen, daß er nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, die den Verkauf von Brillenartikeln und Korrekturgläsern den Inhabern eines Augenoptiker-Diploms vorbehalten.

2) Artikel 36 EWG-Vertrag ist dahin auszulegen, daß nationale Rechtsvorschriften, die den Verkauf von Kontaktlinsen und damit zusammenhängenden Erzeugnissen in Handelsbetrieben verbieten, die nicht von Personen geleitet oder geführt werden, die die für die Ausübung des Berufs des Augenoptikers erforderlichen Voraussetzungen erfuellen, aus Gründen des Schutzes der öffentlichen Gesundheit gerechtfertigt sind.

Ende der Entscheidung

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