Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 01.02.1996
Aktenzeichen: C-280/94
Rechtsgebiete: Richtlinie 79/7/EWG


Vorschriften:

Richtlinie 79/7/EWG Art. 4 Abs. 1
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Der Begriff "Erwerbsbevölkerung" im Sinne von Artikel 2 der Richtlinie 79/7 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit ist sehr weit dahin definiert, daß er alle Arbeitnehmer und Selbständigen einschließlich der Arbeitsuchenden umfasst, so daß eine Person, die während des Jahres vor dem Beginn ihrer Arbeitsunfähigkeit nicht ein gewisses Einkommen aus oder im Zusammenhang mit einer Berufstätigkeit erzielt hat, nicht zwangsläufig dem persönlichen Anwendungsbereich der Richtlinie entzogen ist.

2. Die Richtlinie 79/7 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit lässt die den Mitgliedstaaten durch die Artikel 117 und 118 des Vertrages zuerkannte Zuständigkeit unberührt, ihre Sozialpolitik im Rahmen einer von der Kommission organisierten engen Zusammenarbeit und somit die Art und das Ausmaß der sozialen Schutzmaßnahmen auch im Bereich der sozialen Sicherheit sowie die konkreten Einzelheiten ihrer Durchführung festzulegen, wobei sie über einen weiten Ermessensspielraum verfügen.

Folglich steht Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/7 der Anwendung nationaler Rechtsvorschriften nicht entgegen, wonach eine Leistung bei Arbeitsunfähigkeit von der Voraussetzung abhängig ist, daß im Laufe des Jahres vor dem Beginn der Arbeitsunfähigkeit ein gewisses Einkommen aus oder im Zusammenhang mit einer Berufstätigkeit erzielt worden ist, auch wenn von dieser Voraussetzung mehr Frauen als Männer betroffen sind. Es entspricht nämlich einem berechtigten sozialpolitischen Ziel, denjenigen ein Mindesteinkommen zu garantieren, die ein Einkommen aus einer solchen Berufstätigkeit erzielt hatten, die sie infolge einer Arbeitsunfähigkeit aufgeben mussten, und die Tatsache, daß dieses Mindesteinkommen von dieser Voraussetzung abhängig gemacht wird, stellt ein Mittel dar, das zur Erreichung dieses Zweckes geeignet ist und vom nationalen Gesetzgeber bei der Ausübung seiner Zuständigkeit vernünftigerweise dafür als erforderlich angesehen werden kann.

Der Umstand, daß ein solches System ein System der reinen Volksversicherung ersetzt und die Zahl der Leistungsempfänger gegenüber dem letztgenannten System verringert, kann seine Vereinbarkeit mit dem Gemeinschaftsrecht nicht beeinträchtigen. Da das Gemeinschaftsrecht es einem Mitgliedstaat nämlich nicht verwehrt, Maßnahmen zu ergreifen, die bewirken, daß bestimmten Personengruppen Leistungen der sozialen Sicherheit entzogen werden, sofern bei diesen Maßnahmen der Grundsatz der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Sinne des Artikels 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/7 beachtet wird, steht es den Mitgliedstaaten auch frei, im Rahmen ihrer Sozialpolitik neue Modalitäten festzulegen, die eine Verringerung der Zahl derjenigen bewirken, die eine Leistung der sozialen Sicherheit erhalten.


Urteil des Gerichtshofes (Sechste Kammer) vom 1. Februar 1996. - Y. M. Posthuma-van Damme gegen Bestuur van de Bedrijfsvereniging voor Detailhandel, Ambachten en Huisvrouwen und N. Oztürk gegen Bestuur van de Nieuwe Algemene Bedrijfsvereniging. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Centrale Raad van Beroep - Niederlande. - Gleichheit von Männern und Frauen - Soziale Sicherheit - Richtlinie 79/7/EWG - Auslegung des Urteils vom 24. Februar 1994 in der Rechtssache C-343/92 (Roks u. a.). - Rechtssache C-280/94.

Entscheidungsgründe:

1 Der Centrale Raad van Beroep hat mit Beschluß vom 7. Oktober 1994, beim Gerichtshof eingegangen am 17. Oktober 1994, zwei Fragen nach der Auslegung der Richtlinie 79/7/EWG des Rates vom 19. Dezember 1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit (ABl. 1979, L 6, S. 24) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in zwei Rechtsstreitigkeiten zwischen Frau Posthuma-van Damme und dem Bestuur van de Bedrijfsvereniging voor Detailhandel, Ambachten en Huisvrouwen (Vorstand der Berufsgenossenschaft für Einzelhandel, Handwerk und Hausfrauen; im folgenden: die Detam) sowie zwischen Herrn Oztürk und dem Bestuur van de Nieuwe Algemene Bedrijfsvereniging (Vorstand der Neuen Allgemeinen Berufsgenossenschaft; im folgenden: die NAB) über die Entziehung (im Fall Posthuma-van Damme) und die Verweigerung (im Fall Oztürk) einer Leistung bei Arbeitsunfähigkeit nach der Algemene Arbeidsongeschiktheidswet (Gesetz über die allgemeine Arbeitsunfähigkeitsversicherung, im folgenden: AAW) vom 11. Dezember 1975.

3 Die betreffenden Rechtsvorschriften, die bereits im Urteil des Gerichtshofes vom 24. Februar 1994 in der Rechtssache C-343/92 (Roks u. a., Slg. 1994, I-571, Randnrn. 3 bis 8) beschrieben wurden, sind erneut kurz darzustellen.

4 Ursprünglich räumte die am 1. Oktober 1976 in Kraft getretene AAW Männern und unverheirateten Frauen nach einjähriger Arbeitsunfähigkeit einen Anspruch auf eine Leistung bei Arbeitsunfähigkeit ein, deren Höhe weder von eventuellen sonstigen Einkünften des Leistungsempfängers noch von einem bei ihm eingetretenen Einkommensverlust abhing.

5 Der Anspruch auf eine Leistung nach der AAW wurde durch die Wet invoering gelijke uitkeringsrechten voor mannen en vrouwen (Gesetz zur Einführung gleicher Leistungsansprüche für Männer und Frauen) vom 20. Dezember 1979 auf verheiratete Frauen ausgedehnt. Gleichzeitig machte dieses Gesetz den Leistungsanspruch für alle Versicherten mit Ausnahme bestimmter Gruppen von der Voraussetzung abhängig, daß der Leistungsempfänger im Laufe des Jahres vor dem Beginn der Arbeitsunfähigkeit aus oder im Zusammenhang mit seiner Arbeit ein bestimmtes Einkommen erzielt hatte, das ursprünglich mindestens 3 423,81 HFL betragen musste (im folgenden: Einkommensvoraussetzung). Diese Einkommensvoraussetzung galt für alle Versicherten, deren Arbeitsunfähigkeit nach dem 1. Januar 1979 begonnen hatte.

6 Nach den Übergangsbestimmungen des Gesetzes vom 20. Dezember 1979 hatten Männer und unverheiratete Frauen, deren Arbeitsunfähigkeit vor dem 1. Januar 1979 begonnen hatte, weiterhin einen Leistungsanspruch, ohne der Einkommensvoraussetzung genügen zu müssen. Verheiratete Frauen, deren Arbeitsunfähigkeit vor dem 1. Oktober 1975 begonnen hatte, hatten keinen Leistungsanspruch, auch wenn sie die Einkommensvoraussetzung erfuellten. Die verheirateten Frauen, deren Arbeitsunfähigkeit zwischen dem 1. Oktober 1975 und dem 1. Januar 1979 begonnen hatte, hatten nur dann einen Leistungsanspruch, wenn sie der Einkommensvoraussetzung genügten.

7 In mehreren Urteilen vom 5. Januar 1988 entschied der Centrale Raad van Beroep, daß diese Übergangsbestimmungen eine mit Artikel 26 des Internationalen Paktes vom 19. Dezember 1966 über bürgerliche und politische Rechte (UN Treaty Series, Bd. 999, S. 171) unvereinbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts darstellten und daß verheiratete Frauen, deren Arbeitsunfähigkeit vor dem 1. Januar 1979 begonnen hatte, mit Wirkung vom 1. Januar 1980, dem Tag des Inkrafttretens des Gesetzes vom 20. Dezember 1979, Anspruch auf eine Leistung nach der AAW unter den gleichen Bedingungen wie Männer, d. h. ohne Einkommensvoraussetzung, haben, auch wenn der Beginn ihrer Arbeitsunfähigkeit vor dem 1. Oktober 1975 lag.

8 Die Übergangsbestimmungen, die als diskriminierend für verheiratete Frauen angesehen wurden, wurden durch ein Gesetz vom 3. Mai 1989 aufgehoben. In dessen Artikel III ist jedoch vorgesehen, daß diejenigen, deren Arbeitsunfähigkeit vor dem 1. Januar 1979 begonnen hat und die nach dem 3. Mai 1989 einen Antrag auf Leistungen nach der AAW stellen, die Einkommensvoraussetzung erfuellen müssen; ferner wird nach Artikel IV des Gesetzes denjenigen, deren Arbeitsunfähigkeit vor dem 1. Januar 1979 begonnen hat, die Leistung nach der AAW entzogen, wenn sie die Einkommensvoraussetzung nicht erfuellen. Diese Entziehung, die ursprünglich am 1. Juni 1990 erfolgen sollte, wurde durch ein späteres Gesetz auf den 1. Juli 1991 verschoben.

9 Mit Urteil vom 23. Juni 1992 entschied der Centrale Raad van Beroep, daß die Höhe der Einkommensvoraussetzung, die 1988 4 403,52 HFL pro Jahr betrug, eine gegen Artikel 26 des obengenannten Internationalen Paktes und gegen Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/7 verstossende mittelbare Diskriminierung der Frauen darstelle und daß die Einkommensvoraussetzung als erfuellt anzusehen sei, wenn der Leistungsempfänger im Laufe des Jahres vor dem Beginn seiner Arbeitsunfähigkeit ein "gewisses Einkommen" erzielt habe.

10 Frau Posthuma-van Damme, die als Selbständige zusammen mit ihrem Ehemann in einer Tankstelle tätig war, gab ihre Berufstätigkeit gegen Ende 1974 aus gesundheitlichen Gründen auf und wurde als seit dem 1. Oktober 1976 arbeitsunfähig anerkannt. Auf die vorgenannten Urteile des Centrale Raad van Beroep vom 5. Januar 1988 beschloß die Detam am 25. Juli 1989, ihr mit Wirkung vom 14. April 1985 eine Leistung bei Arbeitsunfähigkeit nach der AAW zu gewähren. Mit Bescheid vom 26. März 1991 entzog ihr die Detam jedoch in Anwendung von Artikel IV des Gesetzes vom 3. Mai 1989 in der geänderten Fassung diese Leistung mit Wirkung vom 1. Juli 1991, weil sie in dem Jahr vor dem Eintritt ihrer Arbeitsunfähigkeit die Einkommensvoraussetzung nicht erfuellt habe.

11 Herr Oztürk war bis 1988 bei verschiedenen Arbeitgebern tätig. Danach erhielt er bis zum 17. April 1990 eine Leistung aufgrund der Rijksgröpsregeling Werkloze Werknemers (Staatliche Gruppenregelung für arbeitslose Arbeitnehmer). Später wurde er als seit dem 1. April 1989 arbeitsunfähig anerkannt. Gemäß Artikel 6 der AAW in der Fassung des Gesetzes vom 20. Dezember 1979 verweigerte die NAB ihm mit Bescheid vom 23. Oktober 1992 eine Leistung nach der AAW mit der Begründung, daß er während des Jahres vor dem Eintritt seiner Arbeitsunfähigkeit die Einkommensvoraussetzung nicht erfuellt habe.

12 Nachdem die Klagen, die sie bei der Arrondissementsrechtbank Rotterdam gegen die Bescheide über die Entziehung und die Verweigerung einer Leistung nach der AAW eingereicht hatten, als unbegründet abgewiesen worden waren, legten Frau Posthuma-van Damme und Herr Oztürk Rechtsmittel beim Centrale Raad van Beroep ein, der beschlossen hat, dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Wenn feststeht, daß von einer Einkommensvoraussetzung in einer gesetzlichen Regelung über Arbeitsunfähigkeit mehr Frauen als Männer betroffen sind:

1. (in bezug auf die Sache 1:) Ist das geltende Gemeinschaftsrecht so auszulegen, daß es der Einstellung einer Leistung bei Arbeitsunfähigkeit nach der AAW, die aufgrund einer vor dem 1. Januar 1979 eingetretenen Arbeitsunfähigkeit bezogen wird, als Folge der Anwendung des Artikels IV des Gesetzes vom 3. Mai 1989 entgegensteht, aufgrund dessen hinsichtlich der Aufrechterhaltung des Leistungsanspruchs vom 1. Juli 1991 an die Voraussetzung aufgestellt wird, daß vor dem Eintritt der Arbeitsunfähigkeit Einkommen aus oder im Zusammenhang mit Arbeit erzielt worden ist?

2. (in bezug auf die Sache 2:) Ist das geltende Gemeinschaftsrecht so auszulegen, daß es der Verweigerung einer Leistung bei Arbeitsunfähigkeit nach der AAW als Folge der Anwendung des Artikels 6 der AAW (in der seit dem Inkrafttreten des Gesetzes vom 20. Dezember 1979 geltenden Fassung und unter Berücksichtigung des Urteils des Centrale Raad van Beroep vom 23. Juni 1992) entgegensteht, wonach für die Gewährung einer Leistung die Voraussetzung gilt, daß im Laufe des Jahres vor dem Eintritt der Arbeitsunfähigkeit ° der im vorliegenden Fall für den 1. April 1989 anzunehmen ist ° Einkommen aus oder im Zusammenhang mit Arbeit erzielt worden ist?

13 Im Vorlagebeschluß stellt das vorlegende Gericht klar, daß es mit diesen Fragen wissen möchte, ob eine nach einer gesetzlichen Regelung über die Versicherung gegen Arbeitsunfähigkeit bestehende Einkommensvoraussetzung mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar ist und welche genaue Tragweite in diesem Zusammenhang den Antworten zukommt, die der Gerichtshof im vorgenannten Urteil Roks u. a. gegeben hat. Das Gericht ist der Ansicht, daß dieses Urteil aufgrund bestimmter Formulierungen Anlaß zu mehreren Auslegungen geben könne, und fragt sich insbesondere, ob die Antwort auf die dritte Frage nicht über den Rahmen hinausgehe, in dem die Frage gestellt worden sei, die darauf abgezielt habe, ob eine Bestimmung wie Artikel VI des Gesetzes vom 3. Mai 1989, die die Aufrechterhaltung des Leistungsanspruchs nachträglich von einer Voraussetzung abhängig mache, die den Verlust von Arbeitseinkommen im Jahr vor dem Eintritt der Arbeitsunfähigkeit betreffe, mit Haushaltserwägungen gerechtfertigt werden könne.

14 In Anbetracht dieser Fragen ist zunächst daran zu erinnern, daß der Gerichtshof im Urteil Roks u. a. in Beantwortung von Fragen, die ihm vom Raad van Beroep 's-Hertogenbosch zur Vorabentscheidung vorgelegt worden waren, für Recht erkannt hat, daß das Gemeinschaftsrecht der Einführung einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, die die Aufrechterhaltung des Anspruchs auf eine Leistung bei Arbeitsunfähigkeit von einer künftig sowohl für Männer als auch für Frauen geltenden Voraussetzung abhängig macht und dadurch bewirkt, daß den Frauen für die Zukunft Ansprüche entzogen werden, die sie aufgrund der unmittelbaren Wirkung des Artikels 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/7 besassen (Nummer 2 des Tenors).

15 Der Gerichtshof hat weiter für Recht erkannt, daß Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/7 der Anwendung einer nationalen Regelung, die die Gewährung einer Leistung bei Arbeitsunfähigkeit von der Erzielung eines gewissen Einkommens in dem dem Beginn der Arbeitsunfähigkeit vorausgehenden Jahr abhängig macht, wobei diese Voraussetzung zwar nicht nach dem Geschlecht unterschiedlich ist, aber viel mehr Frauen als Männer betrifft, auch dann entgegensteht, wenn der Erlaß dieser nationalen Regelung durch Haushaltserwägungen gerechtfertigt ist (Nummer 3 des Tenors).

16 Sodann ist darauf hinzuweisen, daß der Gerichtshof, als er geprüft hat, ob das Gemeinschaftsrecht der Einführung einer nationalen Regelung entgegensteht, die die Aufrechterhaltung des Anspruchs auf eine Leistung bei Arbeitsunfähigkeit von einer künftig sowohl für Männer als auch für Frauen geltenden Voraussetzung abhängig macht und dadurch bewirkt, daß den Frauen für die Zukunft Ansprüche entzogen werden, die sie aufgrund der unmittelbaren Wirkung des Artikels 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/7 besassen, sich ausdrücklich die Prüfung der Frage vorbehalten hat, ob bei einer Einkommensvoraussetzung wie der im Ausgangsverfahren streitigen als solcher der Grundsatz der Gleichbehandlung von Männern und Frauen beachtet wird (Urteil Roks u. a., a. a. O., Randnr. 29 a. E.).

17 Schließlich ist klarzustellen, daß die dritte Frage in der Rechtssache Roks u. a. ausschließlich die Frage betraf, ob eine vom vorlegenden Gericht als erwiesen dargestellte mittelbare Diskriminierung aus Gründen des Geschlechts, die sich aus der Anwendung einer Einkommensvoraussetzung wie der im Ausgangsverfahren streitigen ergab, mit Haushaltserwägungen gerechtfertigt werden könne; daher kann die negative Antwort, die der Gerichtshof insoweit gegeben hat, einer Entscheidung über etwaige andere Rechtfertigungsgründe nicht vorgreifen.

18 In Anbetracht des Vorstehenden sind die Vorabentscheidungsfragen des Centrale Raad van Beroep so zu verstehen, daß sie darauf gerichtet sind, ob Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/7 der Anwendung nationaler Rechtsvorschriften entgegensteht, wonach eine Leistung bei Arbeitsunfähigkeit von der Voraussetzung abhängig ist, daß im Laufe des Jahres vor dem Beginn der Arbeitsunfähigkeit ein gewisses Einkommen aus oder im Zusammenhang mit einer Berufstätigkeit erzielt worden ist, wenn feststeht, daß von dieser Voraussetzung mehr Frauen als Männer betroffen sind.

19 Da die Kommission in der mündlichen Verhandlung bezweifelt hat, ob Personen, die eine solche Einkommensvoraussetzung nicht erfuellen, also während des Jahres vor dem Beginn der Arbeitsunfähigkeit nicht ein gewisses Einkommen aus oder im Zusammenhang mit einer Berufstätigkeit erzielt haben, in den persönlichen Anwendungsbereich der Richtlinie 79/7 fallen, ist zunächst darauf hinzuweisen, daß die Richtlinie nach ihrem Artikel 2 "auf die Erwerbsbevölkerung ° einschließlich der selbständigen, deren Erwerbstätigkeit durch Krankheit, Unfall oder unverschuldete Arbeitslosigkeit unterbrochen ist, und der Arbeitsuchenden ° sowie auf die im Ruhestand befindlichen oder arbeitsunfähigen Arbeitnehmer und Selbständigen" Anwendung findet.

20 Wie ausserdem der Gerichtshof in den Urteilen vom 14. Dezember 1995 in der Rechtssache C-317/93 (Nolte, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 17) und in der Rechtssache C-444/93 (Megner und Scheffel, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 16) festgestellt hat, definiert diese Bestimmung den Begriff "Erwerbsbevölkerung" sehr weit dahin, daß er alle Arbeitnehmer und Selbständigen einschließlich der Arbeitsuchenden umfasst; jedoch ist die Richtlinie nicht auf Personen anwendbar, die dem Arbeitsmarkt niemals zur Verfügung standen oder ihm nicht mehr zur Verfügung stehen, ohne daß der Grund dafür im Eintritt eines der in der Richtlinie genannten Risiken liegt (in diesem Sinne auch Urteil vom 27. Juni 1989 in den Rechtssachen 48/88, 106/88 und 107/88, Achterberg-te Riele u. a., Slg. 1989, 1963, Randnr. 11).

21 Aus dem Vorstehenden ergibt sich, daß eine Person, die während des Jahres vor dem Beginn ihrer Arbeitsunfähigkeit nicht ein gewisses Einkommen aus oder im Zusammenhang mit einer Berufstätigkeit erzielt hat, nicht zwangsläufig dem persönlichen Anwendungsbereich der Richtlinie 79/7 entzogen ist.

22 Im übrigen ist darauf hinzuweisen, daß das vorlegende Gericht, das für die Beurteilung des Sachverhalts der Ausgangsverfahren und die auf der Grundlage dieses Sachverhalts zu treffende Feststellung, ob die Kläger der Ausgangsverfahren in den persönlichen Anwendungsbereich der Richtlinie 79/7 fallen, allein zuständig ist, in seinem Vorlagebeschluß ausdrücklich ausgeführt hat, daß Frau Posthuma-van Damme so anzusehen sei, als habe sie ihre Erwerbstätigkeit entweder wegen Arbeitsunfähigkeit oder wegen Arbeitslosigkeit aufgegeben, und daß Herr Oztürk seine Arbeit vor April 1989, also vor dem Beginn seiner Arbeitsunfähigkeit, wegen Arbeitslosigkeit eingestellt habe.

23 Für die Beantwortung der vorgelegten Fragen, wie sie in Randnummer 18 umformuliert worden sind, ist daran zu erinnern, daß Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/7 im Bereich der sozialen Sicherheit jegliche unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, insbesondere unter Bezugnahme auf den Ehe- oder Familienstand, und zwar im besonderen betreffend den Anwendungsbereich der Systeme der sozialen Sicherheit und die Bedingungen für den Zugang zu diesen Systemen, verbietet.

24 Nach ständiger Rechtsprechung steht diese Bestimmung der Anwendung einer nationalen Maßnahme entgegen, die zwar neutral formuliert ist, tatsächlich aber einen viel höheren Prozentsatz von Frauen als von Männern benachteiligt, sofern diese Maßnahme nicht durch objektive Faktoren gerechtfertigt ist, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben. Dies ist der Fall, wenn die gewählten Mittel einem berechtigten Ziel der Sozialpolitik des Mitgliedstaats dienen, um dessen Rechtsvorschriften es geht, und zur Erreichung des verfolgten Zweckes geeignet und dafür erforderlich sind (vgl. zuletzt Urteile Nolte, a. a. O., Randnr. 28, sowie Megner und Scheffel, a. a. O., Randnr. 24).

25 Die Detam, die NAB und die niederländische Regierung machen im wesentlichen geltend, daß das niederländische System für den Bereich der Arbeitsunfähigkeit durch die Einfügung der Einkommensvoraussetzung in die AAW durch das Gesetz vom 20. Dezember 1979 von einer reinen Volksversicherung zu einer Versicherung gegen Einkommensverlust geworden sei, die den Versicherten ein Mindesteinkommen garantiere, und daß das Gesetz vom 3. Mai 1989 durch die Bestimmung, daß die Einkommensvoraussetzung künftig für alle Versicherten, Männer wie Frauen, gleichgültig, ob verheiratet oder unverheiratet, gelte, die vor oder nach dem 1. Januar 1979 arbeitsunfähig geworden seien, den Charakter dieses Systems als einer Versicherung gegen Einkommensverlust noch verstärkt habe. Der niederländische Gesetzgeber habe dabei ein berechtigtes sozialpolitisches Ziel verfolgt, das mit zahlreichen Systemen der sozialen Sicherheit angestrebt werde und das darin bestehe, eine bestimmte Leistung denjenigen vorzubehalten, die infolge des Eintritts des Risikos, das die Leistung abdecken solle, Einkommen verloren hätten.

26 Wie der Gerichtshof im Urteil Roks u. a. (a. a. O., Randnr. 28) ausgeführt hat, lässt die Richtlinie 79/7 die den Mitgliedstaaten durch die Artikel 117 und 118 EG -Vertrag zuerkannte Zuständigkeit unberührt, ihre Sozialpolitik im Rahmen einer von der Kommission organisierten engen Zusammenarbeit und somit die Art und das Ausmaß der sozialen Schutzmaßnahmen auch im Bereich der sozialen Sicherheit sowie die konkreten Einzelheiten ihrer Durchführung festzulegen. Bei der Ausübung dieser Zuständigkeit verfügen die Mitgliedstaaten über einen weiten Ermessensspielraum (vgl. Urteile Nolte, a. a. O., Randnr. 33, sowie Megner und Scheffel, a. a. O., Randnr. 29).

27 Es ist festzustellen, daß es einem berechtigten sozialpolitischen Ziel entspricht, denjenigen ein Mindesteinkommen zu garantieren, die ein Einkommen aus oder im Zusammenhang mit einer Berufstätigkeit erzielt hatten, die sie infolge einer Arbeitsunfähigkeit aufgeben mussten, und daß die Tatsache, daß dieses Mindesteinkommen von der Voraussetzung abhängig gemacht wird, daß der Betreffende im Laufe des Jahres vor dem Beginn der Arbeitsunfähigkeit ein solches Einkommen gehabt hat, ein Mittel darstellt, das zur Erreichung dieses Zweckes geeignet ist und vom nationalen Gesetzgeber bei der Ausübung seiner Zuständigkeit vernünftigerweise dafür als erforderlich angesehen werden konnte.

28 Der Umstand, daß ein solches System ein System der reinen Volksversicherung ersetzt hat und daß sich die Zahl der Personen, denen es zugute kommen kann, später als geringer erwiesen hat als die Zahl derjenigen, die tatsächlich bei Eintritt des Risikos ein Einkommen aus oder im Zusammenhang mit einer Berufstätigkeit verloren haben, kann diese Feststellung nicht beeinträchtigen.

29 Aus der im Urteil Roks u. a. (a. a. O., Randnr. 29) angeführten und im Urteil vom 19. Oktober 1995 in der Rechtssache C-137/94 (Richardson, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 24) bestätigten Rechtsprechung des Gerichtshofes ergibt sich nämlich, daß das Gemeinschaftsrecht es einem Mitgliedstaat nicht verwehrt, Maßnahmen zu ergreifen, die bewirken, daß bestimmten Personengruppen Leistungen der sozialen Sicherheit entzogen werden, sofern bei diesen Maßnahmen der Grundsatz der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Sinne des Artikels 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/7 beachtet wird. Unter dieser Voraussetzung steht es dem Mitgliedstaat somit auch frei, im Rahmen seiner Sozialpolitik neue Modalitäten festzulegen, die eine Verringerung der Zahl derjenigen bewirken, die eine Leistung der sozialen Sicherheit erhalten.

30 Angesichts der vorstehenden Erwägungen ist auf die Fragen des vorlegenden Gerichts zu antworten, daß Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/7 der Anwendung nationaler Rechtsvorschriften nicht entgegensteht, wonach eine Leistung bei Arbeitsunfähigkeit von der Voraussetzung abhängig ist, daß im Laufe des Jahres vor dem Beginn der Arbeitsunfähigkeit ein gewisses Einkommen aus oder im Zusammenhang mit einer Berufstätigkeit erzielt worden ist, auch wenn feststeht, daß von dieser Voraussetzung mehr Frauen als Männer betroffen sind.

Kostenentscheidung:

Kosten

31 Die Auslagen der niederländischen Regierung und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien der Ausgangsverfahren ist das Verfahren ein Zwischenstreit in den bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreitigkeiten; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)

auf die ihm vom Centrale Raad van Beroep mit Beschluß vom 7. Oktober 1994 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/7/EWG des Rates vom 19. Dezember 1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit steht der Anwendung nationaler Rechtsvorschriften nicht entgegen, wonach eine Leistung bei Arbeitsunfähigkeit von der Voraussetzung abhängig ist, daß im Laufe des Jahres vor dem Beginn der Arbeitsunfähigkeit ein gewisses Einkommen aus oder im Zusammenhang mit einer Berufstätigkeit erzielt worden ist, auch wenn feststeht, daß von dieser Voraussetzung mehr Frauen als Männer betroffen sind.

Ende der Entscheidung

Zurück