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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 27.10.1993
Aktenzeichen: C-281/91
Rechtsgebiete: Sechste Mehrwertsteuerrichtlinie


Vorschriften:

Sechste Mehrwertsteuerrichtlinie Artikel 13 Teil B Buchstabe d Nr. 1
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Artikel 13 Teil B Buchstabe d Nr. 1 der Sechsten Richtlinie 77/388 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern ist dahin auszulegen, daß ein Lieferant von Gegenständen oder ein Erbringer von Dienstleistungen, der einem Kunden einen Zahlungsaufschub gegen Verzinsung einräumt, grundsätzlich einen steuerfreien Kredit im Sinne dieser Bestimmung gewährt. Wenn ein Lieferant von Gegenständen oder ein Erbringer von Dienstleistungen einem Kunden jedoch nur bis zur Lieferung einen Zahlungsaufschub gegen Zahlung von Zinsen einräumt, bilden diese Zinsen kein Entgelt für einen Kredit, sondern einen Bestandteil der für die Lieferung der Gegenstände oder die Dienstleistung empfangenen Gegenleistung im Sinne von Artikel 11 Teil A Absatz 1 Buchstabe a der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie.


URTEIL DES GERICHTSHOFES (FUENFTE KAMMER) VOM 27. OKTOBER 1993. - MUYS'EN DE WINTER'S BOUW- EN AANNEMINGSBEDRIJF BV GEGEN STAATSSECRETARIS VAN FINANCIEN. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: HOGE RAAD - NIEDERLANDE. - UMSATZSTEUERBERICHTIGUNG - SECHSTE MEHRWERTSTEUERRICHTLINIE. - RECHTSSACHE C-281/91.

Entscheidungsgründe:

1 Der Hoge Raad der Nederlanden hat mit Urteil vom 30. Oktober 1991, beim Gerichtshof eingegangen am 6. November 1991, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung von Artikel 13 Teil B Buchstabe d Nr. 1 der Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977, der Sechsten Richtlinie zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern ° Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1; im folgenden: Sechste Mehrwertsteuerrichtlinie), zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen der Firma Muys' en De Winter' s Bouw- en Aannemingsbedrijf (im folgenden: Klägerin des Ausgangsverfahrens) und dem Staatssecretaris van Financiën wegen einem von diesem erlassenen Bescheid über die Nacherhebung von Mehrwertsteuer.

3 Die Klägerin des Ausgangsverfahrens ist ein Bauunternehmen, das sogenannte "Kauf- und Bauverträge" abschließt, in denen es sich im wesentlichen entweder zur Lieferung eines Grundstücks und dem Bau oder in einigen Fällen der Vollendung des Baus einer Wohnung verpflichtet oder zum Bau eines in Appartements aufgeteilten Gebäudes und zur Lieferung eines Teils des Gebäudes und des dazugehörigen Grundstücks an den Kunden, verbunden mit dem Recht auf den ausschließlichen Gebrauch dieses Gebäudeteils zu Wohnzwecken.

4 Gemäß diesen Verträgen erfolgt die Zahlung der Vergütung für die Bauleistung in Raten, deren Fälligkeit sich nach dem Fortschritt der Bauarbeiten richtet. Der Grundstückspreis wird entweder bei oder kurz nach Abschluß des Vertrages oder in Raten zusammen mit der Vergütung für die Bauleistung entrichtet.

5 In den Verträgen wird dem Kunden jedoch das Recht eingeräumt, die Zahlung des für das Grundstück und/oder den Bau geschuldeten Betrags bis zum Zeitpunkt der Übertragung des Eigentums am Grundstück mit dem Gebäude aufzuschieben. Dieses Recht ist in der Regel an die Voraussetzung geknüpft, daß der Kunde 10 % des Gesamtpreises für das Grundstück und die Errichtung des Gebäudes bezahlt hat. In einem solchen Fall hat der Käufer für den noch offenen Betrag Zinsen zu zahlen.

6 Die niederländische Finanzverwaltung wandte auf die für die fällig gewordenen Baupreisraten geschuldeten Zinsen Artikel 11 Absatz 1 Buchstabe j Nr. 1 der Wet op omzetbelasting 1968 (Umsatzsteuergesetz von 1968) an, durch den Artikel 13 Teil B Buchstabe d Nr. 1 der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie in niederländisches Recht umgesetzt worden ist und aufgrund dessen "die Gewährung und Vermittlung von Krediten und die Verwaltung von Krediten durch die Kreditgeber" steuerfrei sind.

7 Sie lehnte die Gewährung dieser Befreiung für die zum Zeitpunkt der Lieferung fällig gewordenen Zinsen auf den Grundstückspreis jedoch ab, wenn vorgesehen war, daß dieser zum genannten Zeitpunkt zahlbar sein sollte. Daher erließ sie gegen die Klägerin des Ausgangsverfahrens einen Bescheid über die Nacherhebung von Umsatzsteuern in Höhe von ° nach Ermässigung ° 37 269,86 HFL für den Zeitraum vom 1. Januar 1981 bis 31. Dezember 1984.

8 Die Klägerin des Ausgangsverfahrens erhob gegen diesen Bescheid Klage beim Gerechtshof Den Haag. Dieser schloß sich der Auffassung der Finanzverwaltung an und begründete dies damit, daß die zwischen dem Abschluß des Vertrages und der Übertragung des Eigentums am Grundstück in Rechnung gestellten Zinsen im vorliegenden Fall nicht als Entgelt für die Gewährung eines Kredits, sondern als Bestandteil der Gegenleistung für die Lieferung des Grundstücks anzusehen seien.

9 Die Klägerin des Ausgangsverfahrens legte daraufhin Revision beim Hoge Raad der Nederlanden ein, der das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt hat:

Wenn in einem Kauf-/Bauvertrag, den ein Bauunternehmer mit einem Käufer/Besteller geschlossen hat, in bezug auf das Entgelt für das aufgrund dieses Vertrags zu liefernde Grundstück bestimmt ist, daß dieses Entgelt bei oder kurz nach dem Abschluß des Vertrags zu zahlen ist, zugleich jedoch, daß der Käufer/Besteller gegen Zahlung von Zinsen berechtigt ist, die Zahlung bis zur Lieferung aufzuschieben, sind dann diese Zinsen ihrer Art nach als Entgelt für die Gewährung eines Kredits im Sinne von Artikel 13 Teil B Buchstabe d Nr. 1 der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie anzusehen, oder bildet der als Zinsen in Rechnung gestellte Betrag einen Teil des Entgelts für die Lieferung des Grundstücks?

10 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts und des rechtlichen Rahmens des Ausgangsrechtsstreits, des Verfahrensablaufs und der beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

11 Gemäß Artikel 13 Teil B Buchstabe d Nr. 1 der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie

"befreien die Mitgliedstaaten unter den Bedingungen, die sie zur Gewährleistung einer korrekten und einfachen Anwendung der nachstehenden Befreiungen sowie zur Verhütung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Mißbräuchen festsetzen, von der Steuer:

...

d)...

1) die Gewährung und Vermittlung von Krediten und die Verwaltung von Krediten durch die Kreditgeber".

12 An erster Stelle ist darauf hinzuweisen, daß ein gegen Verzinsung gewährter Aufschub der Zahlung des Kaufpreises eines Gegenstands grundsätzlich als steuerfreie Kreditgewährung im Sinne dieser Bestimmung angesehen werden kann.

13 Die in Artikel 13 vorgesehenen Steuerbefreiungen sind zwar eng auszulegen (Urteil vom 15. Juni 1989 in der Rechtssache 348/87, Stichting Uitvöring Financiële Acties, Slg. 1989, 1737); da über die Identität des Kreditgebers oder des Kreditnehmers aber nichts näher bestimmt ist, ist der Ausdruck "Gewährung und Vermittlung von Krediten" grundsätzlich weit genug, um sich auf einen von einem Lieferanten von Gegenständen in Form eines Zahlungsaufschubs gewährten Kredit erstrecken zu können. Entgegen dem Vorbringen der Kommission folgt aus dem Wortlaut von Artikel 13 Teil B Buchstabe d Nr. 1 keineswegs, daß sich diese Bestimmung ausschließlich auf Darlehen und Kredite von Banken und Finanzinstituten bezieht.

14 Diese Auslegung wird durch das Ziel des durch die Sechste Mehrwertsteuerrichtlinie eingeführten gemeinsamen Systems gestützt, durch das insbesondere die Gleichbehandlung der Steuerpflichtigen sichergestellt werden soll. Gegen diesen Grundsatz würde nämlich verstossen, wenn ein Käufer für einen von seinem Lieferanten gewährten Kredit Steuern zahlen müsste, während ein Käufer, der einen Kredit bei einer Bank oder einem anderen Kreditgeber in Anspruch nehmen würde, insoweit von der Steuer befreit wäre.

15 Die Vorlagefrage betrifft den Sonderfall, daß der Lieferant eines Gegenstands, im vorliegenden Fall eines Grundstücks, seinem Kunden die Möglichkeit einräumt, die Zahlung des Preises lediglich bis zur Lieferung gegen Verzinsung aufzuschieben. Der Gerichtshof hat daher zu prüfen, ob auch in diesem Fall eine Kreditgewährung vorliegt.

16 In Artikel 10 Absatz 2 Unterabsatz 1 der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie heisst es u. a.:

"Der Steuertatbestand und der Steueranspruch treten zu dem Zeitpunkt ein, zu dem die Lieferung des Gegenstands oder die Dienstleistung bewirkt wird."

Somit ist die Besteuerungsgrundlage erst zum Zeitpunkt der Lieferung zu ermitteln.

17 Gemäß Artikel 11 Teil A Absatz 1 Buchstabe a der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie gehört zur Besteuerungsgrundlage

"alles, was den Wert der Gegenleistung bildet, die der Lieferer oder Dienstleistende für diese Umsätze vom Abnehmer oder Dienstleistungsempfänger oder von einem Dritten erhält oder erhalten soll".

18 Aus diesen Bestimmungen folgt für den Fall, daß der Lieferant eines Gegenstands damit einverstanden ist, daß der Käufer die Zahlung des Preises gegen Verzinsung bis zur Lieferung aufschiebt, daß diese Zinsen Teil des Gesamtwerts des Gegenstands sind, selbst wenn sie im Vertrag vom Preis unterschieden werden.

19 Auf die Vorlagefrage ist daher zu antworten, daß Artikel 13 Teil B Buchstabe d Nr. 1 der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, daß ein Lieferant von Gegenständen oder ein Erbringer von Dienstleistungen, der einem Kunden einen Zahlungsaufschub gegen Verzinsung einräumt, grundsätzlich einen steuerfreien Kredit im Sinne dieser Bestimmung gewährt. Wenn ein Lieferant von Gegenständen oder ein Erbringer von Dienstleistungen einem Kunden jedoch nur bis zur Lieferung einen Zahlungsaufschub gegen Zahlung von Zinsen einräumt, bilden diese Zinsen kein Entgelt für einen Kredit, sondern einen Bestandteil der für die Lieferung der Gegenstände oder die Dienstleistung empfangenen Gegenleistung im Sinne von Artikel 11 Teil A Absatz 1 Buchstabe a der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie.

Kostenentscheidung:

Kosten

20 Die Auslagen der niederländischen, der deutschen, der dänischen, der spanischen und der griechischen Regierung sowie der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

auf die ihm vom Hoge Raad der Nederlanden mit Urteil vom 30. Oktober 1991 vorgelegte Frage für Recht erkannt:

Artikel 13 Teil B Buchstabe d Nr. 1 der Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977, der Sechsten Richtlinie zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern ° Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage, ist dahin auszulegen, daß ein Lieferant von Gegenständen oder ein Erbringer von Dienstleistungen, der einem Kunden einen Zahlungsaufschub gegen Verzinsung einräumt, grundsätzlich einen steuerfreien Kredit im Sinne dieser Bestimmung gewährt. Wenn ein Lieferant von Gegenständen oder ein Erbringer von Dienstleistungen einem Kunden jedoch nur bis zur Lieferung einen Zahlungsaufschub gegen Zahlung von Zinsen einräumt, bilden diese Zinsen kein Entgelt für einen Kredit, sondern einen Bestandteil der für die Lieferung der Gegenstände oder die Dienstleistung empfangenen Gegenleistung im Sinne von Artikel 11 Teil A Absatz 1 Buchstabe a der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie.

Ende der Entscheidung

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