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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 18.07.2007
Aktenzeichen: C-288/05
Rechtsgebiete: SDÜ


Vorschriften:

SDÜ Art. 54
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)

18. Juli 2007

"Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen - Art. 54 - Grundsatz 'ne bis in idem' - Begriff 'dieselbe Tat' - Geschmuggelte Zigaretten - Einfuhr in mehrere Vertragsstaaten - Strafverfolgung in verschiedenen Vertragsstaaten - Begriff der 'Vollstreckung' strafrechlichter Sanktionen - Aussetzung der Strafvollstreckung - Anrechnung kurzzeitiger Untersuchungshaft - Europäischer Haftbefehl"

Parteien:

In der Rechtssache C-288/05

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 35 EU, eingereicht vom Bundesgerichtshof (Deutschland) mit Entscheidung vom 30. Juni 2005, beim Gerichtshof eingegangen am 19. Juli 2005, in dem Strafverfahren gegen

Jürgen Kretzinger,

Beteiligter:

Hauptzollamt Augsburg,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. W. A. Timmermans, des Richters J. Klucka, der Richterin R. Silva de Lapuerta sowie der Richter J. Makarczyk und L. Bay Larsen (Berichterstatter),

Generalanwältin: E. Sharpston,

Kanzler: B. Fülöp, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 4. Juli 2006,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

- von J. Kretzinger selbst, später vertreten durch Rechtsanwalt G. Dannecker,

- der Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch A. Dittrich und M. Lumma als Bevollmächtigte,

- der Tschechischen Republik, vertreten durch T. Bocek als Bevollmächtigten,

- des Königreichs Spanien, vertreten durch M. Muñoz Pérez als Bevollmächtigten,

- des Königreichs der Niederlande, vertreten durch H. G. Sevenster und C. A. H. M. ten Dam als Bevollmächtigte,

- der Republik Österreich, vertreten durch C. Pesendorfer als Bevollmächtigte,

- der Republik Polen, vertreten durch T. Nowakowski als Bevollmächtigten,

- des Königreichs Schweden, vertreten durch K. Petkovska als Bevollmächtigte,

- der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch W. Bogensberger und S. Grünheid als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 5. Dezember 2006

folgendes

Urteil

Entscheidungsgründe:

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 54 des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (ABl. 2000, L 239, S. 19, im Folgenden: SDÜ), das am 19. Juni 1990 in Schengen (Luxemburg) unterzeichnet worden ist.

2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines in Deutschland gegen Herrn Kretzinger wegen gewerbsmäßiger Steuerhehlerei eingeleiteten Strafverfahrens.

Rechtlicher Rahmen

Gemeinschaftsrecht

3 Art. 1 des Protokolls zur Einbeziehung des Schengen-Besitzstands in den Rahmen der Europäischen Union, das durch den Vertrag von Amsterdam dem Vertrag über die Europäische Union und dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft beigefügt wurde (im Folgenden: Protokoll), ermächtigte 13 Mitgliedstaaten der Europäischen Union, darunter die Bundesrepublik Deutschland und die Italienische Republik, innerhalb des institutionellen und rechtlichen Rahmens der Union sowie des EU- und des EG-Vertrags untereinander eine verstärkte Zusammenarbeit im Rahmen des Schengen-Besitzstands, wie dieser im Anhang zu diesem Protokoll festgelegt ist, zu begründen.

4 Der so festgelegte Schengen-Besitzstand umfasst u. a. das am 14. Juni 1985 in Schengen unterzeichnete Übereinkommen zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (ABl. 2000, L 239, S. 13, im Folgenden: Schengener Übereinkommen) sowie das SDÜ.

5 Nach Art. 2 Abs. 1 Unterabs. 1 des Protokolls ist ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des Vertrags von Amsterdam, dem 1. Mai 1999, der Schengen-Besitzstand für die in Art. 1 dieses Protokolls aufgeführten 13 Mitgliedstaaten sofort anwendbar.

6 Der Rat der Europäischen Union erließ gemäß Art. 2 Abs. 1 Unterabs. 2 Satz 2 des Protokolls am 20. Mai 1999 den Beschluss 1999/436/EG zur Festlegung der Rechtsgrundlagen für die einzelnen Bestimmungen und Beschlüsse, die den Schengen-Besitzstand bilden, nach Maßgabe der einschlägigen Bestimmungen des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft und des Vertrags über die Europäische Union (ABl. L 176, S. 17). Aus Art. 2 dieses Beschlusses in Verbindung mit dessen Anhang A ergibt sich, dass der Rat die Art. 34 EU und 31 EU, die zu Titel VI "Bestimmungen über die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen" des Vertrags über die Europäische Union gehören, als Rechtsgrundlagen für die Art. 54 bis 58 SDÜ festgelegt hat.

7 Art. 54 SDÜ, der zu Kapitel 3 "Verbot der Doppelbestrafung" des Titels III "Polizei und Sicherheit" gehört, sieht vor:

"Wer durch eine Vertragspartei rechtskräftig abgeurteilt worden ist, darf durch eine andere Vertragspartei wegen derselben Tat nicht verfolgt werden, vorausgesetzt, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann."

8 Der Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. L 190, S. 1, im Folgenden: Rahmenbeschluss) definiert in Art. 1 Abs. 1 den Europäischen Haftbefehl als eine justizielle Entscheidung, die in einem Mitgliedstaat ergangen ist und die Festnahme und Übergabe einer gesuchten Person durch einen anderen Mitgliedstaat u. a. zur Vollstreckung einer Strafe bezweckt.

9 Art. 3 des Rahmenbeschlusses "Gründe, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abzulehnen ist" sieht vor:

"Die Justizbehörde des Vollstreckungsstaats ... lehnt die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls ab,

1. ...

2. wenn sich aus den der vollstreckenden Justizbehörde vorliegenden Informationen ergibt, dass die gesuchte Person wegen derselben Handlung von einem Mitgliedstaat rechtskräftig verurteilt worden ist, vorausgesetzt, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsmitgliedstaats nicht mehr vollstreckt werden kann;

..."

10 Art. 5 des Rahmenbeschlusses "Vom Ausstellungsmitgliedstaat in bestimmten Fällen zu gewährende Garantien" bestimmt:

"Die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls durch die vollstreckende Justizbehörde kann nach dem Recht dieses Staates an eine der folgenden Bedingungen geknüpft werden:

1. Ist der Europäische Haftbefehl zur Vollstreckung einer Strafe ... ausgestellt worden, die in einem Abwesenheitsurteil verhängt worden ist, und ist die betroffene Person nicht persönlich vorgeladen oder nicht auf andere Weise vom Termin und vom Ort der Verhandlung, die zum Abwesenheitsurteil geführt hat, unterrichtet worden, so kann die Übergabe an die Bedingung geknüpft werden, dass die ausstellende Justizbehörde eine als ausreichend erachtete Zusicherung gibt, wonach die Person, gegen die der Europäische Haftbefehl ergangen ist, die Möglichkeit haben wird, im Ausstellungsmitgliedstaat eine Wiederaufnahme des Verfahrens zu beantragen und bei der Gerichtsverhandlung anwesend zu sein.

..."

11 Aus der im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften vom 1. Mai 1999 veröffentlichten Information über den Zeitpunkt des Inkrafttretens des Vertrags von Amsterdam (ABl. L 114, S. 56) ergibt sich, dass die Bundesrepublik Deutschland eine Erklärung nach Art. 35 Abs. 2 EU abgegeben hat, mit der sie die Zuständigkeit des Gerichtshofs für Entscheidungen gemäß Art. 35 Abs. 3 Buchst. b EU anerkannt hat.

Nationales Recht

12 Wer Erzeugnisse oder Waren illegal in einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften einführt, macht sich nach § 374 der deutschen Abgabenordnung wegen Hehlerei an den dabei entstehenden Einfuhrabgaben strafbar.

13 Um den Bestimmungen des Rahmenbeschlusses nachzukommen, erließ die Bundesrepublik Deutschland, nachdem das erste deutsche Umsetzungsgesetz mit Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Juli 2005 für nichtig erklärt worden war, das Europäische Haftbefehlsgesetz vom 20. Juli 2006 (BGBl. 2006 I S. 1721).

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

14 Herr Kretzinger transportierte zweimal, im Mai 1999 und im April 2000, von Dritten aus Nichtmitgliedstaaten der Europäischen Union nach Griechenland eingeschmuggelte Zigaretten per Lkw von Griechenland auf einer über Italien und Deutschland führenden Route mit Ziel Vereinigtes Königreich. Die Zigaretten wurden zu keiner Zeit einer zollrechtlichen Behandlung zugeführt.

15 Beim ersten Transport enthielt der Lkw eine Ladung von 34 500 Stangen Zigaretten, die am 3. Mai 1999 in Italien von der Guardia di Finanza (Finanzpolizei) beschlagnahmt wurde. Nach einer Vernehmung wurde Herr Kretzinger am 4. Mai 1999 auf freien Fuß gesetzt.

16 Mit Urteil vom 22. Februar 2001 gab die Corte di appello di Venezia der Berufung der Staatsanwaltschaft gegen den im ersten Rechtszug ergangenen Freispruch statt und verurteilte Herrn Kretzinger in Abwesenheit zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und acht Monaten, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Die Corte di appello befand ihn einer Straftat der Einfuhr und des Besitzes von 6 900 kg geschmuggelten ausländischen Tabaks sowie einer Straftat der Unterlassung der Zahlung der zugehörigen Einfuhrabgaben für schuldig. Das Urteil wurde nach italienischem Recht rechtskräftig. Die Strafe wurde in das Strafregister des Verurteilten eingetragen.

17 Beim zweiten Transport enthielt der Lkw eine Ladung von 14 927 Stangen geschmuggelter Zigaretten. Am 12. April 2000 wurde Herr Kretzinger erneut von der Guardia di Finanza festgenommen. Er befand sich für kurze Zeit in italienischer Polizei- und/oder Untersuchungshaft und kehrte dann nach Deutschland zurück.

18 Mit Urteil vom 25. Januar 2001 verurteilte ihn das Tribunale di Ancona - erneut in Abwesenheit und unter Bezugnahme auf dieselben Vorschriften des italienischen Rechts - zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren ohne Strafaussetzung zur Bewährung. Auch dieses Urteil wurde rechtskräftig. Diese - nicht vollstreckte - Freiheitsstrafe wurde ebenfalls in das Strafregister des Verurteilten eingetragen.

19 Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass es trotz mehrfacher Klärungsversuche nicht sicher habe ermitteln können, welche Einfuhrabgaben genau von diesen Urteilen erfasst seien, insbesondere ob mit beiden Urteilen oder einem von ihnen etwa auch eine Zollhinterziehung ausgeurteilt worden sei.

20 In Kenntnis dieser italienischen Entscheidungen verurteilte das Landgericht Augsburg Herrn Kretzinger zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und zehn Monaten für den ersten sowie einem Jahr für den zweiten Transport. Seinen Schuldfeststellungen legte das Landgericht dabei die Hehlerei an den bei der Einfuhr geschmuggelter Waren nach Griechenland dort entstandenen Einfuhrabgaben zugrunde, die nach § 374 der Abgabenordnung strafbar ist.

21 Das Landgericht Augsburg lehnte ein Verfahrenshindernis nach Art. 54 SDÜ ab und führte dazu aus, dass die beiden in Italien rechtskräftig verhängten Strafen noch nicht vollstreckt seien. Obwohl den beiden Verurteilungen in Italien und seinen eigenen Entscheidungen in tatsächlicher Hinsicht dieselben Zigarettentransporte zugrunde lägen, greife Artikel 54 SDÜ nicht ein.

22 Herr Kretzinger rief den Bundesgerichtshof an, der Zweifel an der Vereinbarkeit der Begründung des Landgerichts Augsburg mit Art. 54 SDÜ geäußert hat.

23 Zunächst hat der Bundesgerichtshof Zweifel, wie der Begriff "dieselbe Tat" im Sinne von Art. 54 SDÜ auszulegen ist.

24 Was sodann den Begriff "Vollstreckung" betrifft, hält der Bundesgerichtshof, nach dessen Auffassung eine Freiheitsstrafe wie die für den ersten Transport, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde, grundsätzlich unter Art. 54 SDÜ fällt, für zweifelhaft, ob auch eine kurze Untersuchungshaft den Strafklageverbrauch auslöst.

25 Zum Vorliegen eines Verfahrenshindernisses nach Art. 54 SDÜ schließlich bemerkt der Bundesgerichtshof, dass die italienischen Stellen nach dem Rahmenbeschluss keine Bemühungen zur Vollstreckung des wegen des zweiten Transports ergangenen Strafurteils gegen Herrn Kretzinger unternommen hätten, und wirft die Frage auf, ob und gegebenenfalls welche Auswirkungen die Normen des Rahmenbeschlusses auf die Auslegung dieses Artikels haben.

26 Unter diesen Umständen hat der Bundesgerichtshof das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Bezieht sich die strafrechtliche Verfolgung auf "dieselbe Tat" im Sinne von Art. 54 SDÜ, wenn ein Angeklagter wegen der Einfuhr geschmuggelten ausländischen Tabaks nach Italien und des dortigen Besitzes sowie wegen des Unterlassens der Zahlung der Grenzabgabe für den Tabak bei der Einfuhr durch ein italienisches Gericht verurteilt worden ist und danach durch ein deutsches Gericht im Hinblick auf die zeitlich zuvor erfolgte Übernahme der nämlichen Ware in Griechenland wegen Hehlerei an den (formal) griechischen Einfuhrabgaben, welche bei der zuvor von Dritten bewirkten Einfuhr entstanden sind, verurteilt wird, sofern der Angeklagte von Anfang an vorhatte, die Ware nach Übernahme in Griechenland über Italien nach Großbritannien zu transportieren?

2. Ist eine Sanktion im Sinne von Art. 54 SDÜ "bereits vollstreckt" oder wird eine Sanktion "gerade vollstreckt",

a) wenn der Angeklagte zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde, deren Vollstreckung nach dem Recht des Urteilsstaats zur Bewährung ausgesetzt worden ist;

b) wenn der Angeklagte kurzfristig in Polizei- und/oder Untersuchungshaft genommen worden ist und dieser Freiheitsentzug nach dem Recht des Urteilsstaates auf eine spätere Vollstreckung der Haftstrafe anzurechnen wäre?

3. Beeinflusst es die Auslegung des Begriffs der Vollstreckung im Sinne des Art. 54 SDÜ,

a) dass es der (Erst-)Urteilsstaat mit der innerstaatlichen Umsetzung des Rahmenbeschlusses in der Hand hat, sein nach innerstaatlichem Recht rechtskräftiges Urteil jederzeit einer Vollstreckung zuzuführen;

b) dass einem Rechtshilfeersuchen des Urteilsstaates zur Auslieferung des Verurteilten oder zur Vollstreckung des Urteils im Inland deshalb nicht ohne weiteres Folge zu leisten wäre, weil das Urteil in Abwesenheit erging?

Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs

27 Aus Randnr. 11 dieses Urteils geht hervor, dass der Gerichtshof im vorliegenden Fall nach Art. 35 EU für die Entscheidung über die Auslegung von Art. 54 SDÜ und, soweit in der vorliegenden Rechtssache relevant, des Rahmenbeschlusses zuständig ist.

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

28 Mit dieser Frage möchte der Bundesgerichtshof wissen, welches das maßgebende Kriterium für die Anwendung des Begriffs "dieselbe Tat" im Sinne von Art. 54 SDÜ ist, und insbesondere, ob rechtswidrige Vorgänge, die in der Übernahme geschmuggelten ausländischen Tabaks in einem Vertragsstaat sowie in der Einfuhr in einen anderen Vertragsstaat und dem dortigen Besitz bestehen, hierunter fallen, wenn der in zwei Vertragsstaaten verfolgte Angeklagte von Anfang an vorhatte, den Tabak nach der ersten Übernahme über mehrere Vertragsstaaten zu einem endgültigen Bestimmungsort zu transportieren.

29 Insoweit hat der Gerichtshof bereits in Randnr. 36 des Urteils vom 9. März 2006, Van Esbroeck (C-436/04, Slg. 2006, I-2333), zum einen festgestellt, dass das einzige maßgebende Kriterium für die Anwendung von Art. 54 SDÜ das der Identität der materiellen Tat ist, verstanden als das Vorhandensein eines Komplexes unlösbar miteinander verbundener Tatsachen; zum anderen hat er in Randnr. 42 desselben Urteils festgestellt, dass das Kriterium unabhängig von der rechtlichen Qualifizierung dieser Tatsachen oder von dem geschützten rechtlichen Interesse gilt (vgl. auch Urteil vom 28. September 2006, Van Straaten, C-150/05, Slg. 2006, I-9327, Randnrn. 48 und 53).

30 Infolgedessen ist erstens irrelevant, dass Herrn Kretzinger im ersten Vertragsstaat (Italien) die Nichtanmeldung der Zigaretten und/oder die Unterlassung der Zahlung der bei der Einfuhr nach Italien entstandenen Einfuhrabgaben zum Vorwurf gemacht wurde, während der Strafvorwurf im anderen Vertragsstaat (Deutschland) die erste Übernahme des geschmuggelten Tabaks in Griechenland zum Gegenstand hatte.

31 Zweitens ist die Identität der materiellen Tat, verstanden als das Vorhandensein eines Komplexes unlösbar miteinander verbundener Tatsachen, unabhängig von dem geschützten rechtlichen Interesse festzustellen, das von einem Vertragsstaat zum anderen unterschiedlich sein kann.

32 Die deutsche und die spanische Regierung haben jedoch in der mündlichen Verhandlung, die nach der Verkündung des Urteils Van Esbroeck stattgefunden hat, die Auffassung vertreten, das auf der Identität der materiellen Tat beruhende Kriterium sei in der Weise anzuwenden, dass es den zuständigen nationalen Instanzen erlaubt sein müsse, bei der Beurteilung eines Komplexes konkreter Umstände auch das geschützte rechtliche Interesse zu berücksichtigen.

33 Hierzu ist festzustellen, dass wegen der fehlenden Harmonisierung der nationalen Strafvorschriften Erwägungen, die auf dem geschützten rechtlichen Interesse beruhen, ebenso viele Hindernisse für die Freizügigkeit im Schengen-Raum errichten würden, wie es Strafrechtssysteme in den Vertragsstaaten gibt (vgl. Urteil Van Esbroeck, Randnr. 35).

34 Daher ist zu bekräftigen, dass sich die zuständigen nationalen Instanzen, die festzustellen haben, ob eine Identität der materiellen Tat vorliegt, auf die Prüfung zu beschränken haben, ob die Tat einen Komplex von Tatsachen darstellt, die in zeitlicher und räumlicher Hinsicht sowie nach ihrem Zweck unlösbar miteinander verbunden sind (vgl. in diesem Sinne Urteil Van Esbroeck, Randnr. 38), ohne dass es auf Erwägungen im Hinblick auf das geschützte rechtliche Interesse ankommt.

35 Soweit es um einen Fall wie den im Ausgangsverfahren geht, hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass die strafbaren Handlungen, die in der Ausfuhr und der Einfuhr derselben illegalen Waren bestehen und in verschiedenen Vertragsstaaten des SDÜ strafrechtlich verfolgt worden sind, Vorgänge sind, die unter den Begriff "dieselbe Tat" im Sinne von Art. 54 SDÜ fallen können (vgl. in diesem Sinne Urteile Van Esbroeck, Randnr. 42, und Van Straaten, Randnr. 51, sowie vom 28. September 2006, Gasparini u. a., C-467/04, Slg. 2006, I-9199, Randnr. 57).

36 Transporte geschmuggelter Zigaretten wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die mit dem mehrfachen Übertritt von Binnengrenzen des Schengen-Raums verbunden sind, können daher einen Komplex von Tatsachen bilden, der unter den Begriff "dieselbe Tat" fällt. Die endgültige Beurteilung ist jedoch insoweit Sache der zuständigen nationalen Instanzen, die feststellen müssen, ob die fragliche materielle Tat einen Komplex von Tatsachen darstellt, die in zeitlicher und räumlicher Hinsicht sowie nach ihrem Zweck unlösbar miteinander verbunden sind.

37 Aufgrund dieser Erwägungen ist auf die erste Frage zu antworten, dass Artikel 54 SDÜ dahin auszulegen ist, dass

- das maßgebende Kriterium für die Anwendung dieses Artikels das der Identität der materiellen Tat, verstanden als das Vorhandensein eines Komplexes unlösbar miteinander verbundener Tatsachen, ist, unabhängig von der rechtlichen Qualifizierung dieser Tatsachen oder von dem geschützten rechtlichen Interesse;

- Handlungen, die in der Übernahme geschmuggelten ausländischen Tabaks in einem Vertragsstaat sowie in der Einfuhr in einen anderen Vertragsstaat und dem dortigen Besitz bestehen und sich dadurch auszeichnen, dass der in zwei Vertragsstaaten verfolgte Angeklagte von Anfang an vorhatte, den Tabak nach der ersten Übernahme über mehrere Vertragsstaaten zu einem endgültigen Bestimmungsort zu transportieren, Vorgänge sind, die unter den Begriff "dieselbe Tat" im Sinne von Art. 54 SDÜ fallen können. Die endgültige Beurteilung ist insoweit Sache der zuständigen nationalen Instanzen.

Zur zweiten Frage Buchstabe a

38 Mit dieser Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die von einem Gericht eines Vertragsstaats verhängte Sanktion im Sinne von Art. 54 SDÜ "bereits vollstreckt" worden ist oder "gerade vollstreckt" wird, wenn ein Angeklagter nach dem Recht dieses Vertragsstaats zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt worden ist.

39 Es ist erstens daran zu erinnern, dass nach Art. 54 SDÜ das Verbot strafrechtlicher Verfolgung wegen derselben Tat im Fall einer Verurteilung wie der im Ausgangsverfahren nur unter der Voraussetzung gilt, dass "die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann" (im Folgenden: Vollstreckungsbedingung).

40 Zweitens ist, wie die Generalanwältin in den Nrn. 44 und 45 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, der Mechanismus, der es dem nationalen Gericht erlaubt, die Vollstreckung einer Strafe zur Bewährung auszusetzen, wenn die rechtlichen Voraussetzungen erfüllt sind, in den Strafrechtssystemen der Vertragsstaaten bekannt.

41 Herr Kretzinger, die Regierungen, die in der vorliegenden Rechtssache Erklärungen abgegeben haben, und die Kommission der Europäischen Gemeinschaften erklären übereinstimmend, dass, wer zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden sei, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde, als strafrechtlich verfolgt, für schuldig befunden und verurteilt zu gelten habe, mit allen Folgen, die das betreffende Rechtssystem daran knüpfe.

42 Hierzu ist festzustellen, dass eine Freiheitsstrafe, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt worden ist, insofern, als mit ihr das rechtswidrige Verhalten eines Verurteilten bestraft wird, eine Sanktion im Sinne von Art. 54 SDÜ ist. Sie ist als Strafe zu betrachten, die "gerade vollstreckt" wird, sobald das Urteil vollstreckbar geworden ist und solange die Bewährungszeit dauert. Anschließend, nach Ablauf der Bewährungszeit, ist die Strafe als "bereits vollstreckt" im Sinne von Art. 54 SDÜ anzusehen.

43 Diese Auslegung, wonach eine Freiheitsstrafe, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt worden ist, ebenfalls die Vollstreckungsbedingung erfüllt, wird, wie insbesondere die tschechische Regierung und die Kommission ausgeführt haben, dadurch untermauert, dass es widersprüchlich wäre, einerseits jeden tatsächlich vollstreckten Freiheitsentzug als Vollstreckung im Sinne von Art. 54 SDÜ zu betrachten und andererseits auszuschließen, dass Sanktionen, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt worden ist und die normalerweise wegen weniger schwerer Straftaten verhängt werden, die in diesem Artikel enthaltene Vollstreckungsbedingung erfüllen können, und dadurch eine erneute Strafverfolgung zu ermöglichen.

44 Daher ist auf die zweite Frage Buchstabe a zu antworten, dass die von einem Gericht eines Vertragsstaats verhängte Sanktion im Sinne von Art. 54 SDÜ "bereits vollstreckt" worden ist oder "gerade vollstreckt" wird, wenn der Angeklagte nach dem Recht dieses Vertragsstaats zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt worden ist.

Zur zweiten Frage Buchstabe b

45 Mit dieser Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die von einem Gericht eines Vertragsstaats verhängte Sanktion im Sinne von Art. 54 SDÜ "bereits vollstreckt" worden ist oder "gerade vollstreckt" wird, wenn der Angeklagte kurzfristig in Polizei- und/oder Untersuchungshaft genommen worden ist und dieser Freiheitsentzug nach dem Recht des Urteilsstaats auf eine spätere Vollstreckung der Haftstrafe anzurechnen wäre.

46 Insoweit ist zu prüfen, ob für den Fall, dass die anderen Voraussetzungen des Art. 54 SDÜ erfüllt sind, ein kurzer Freiheitsentzug wie die Polizei- und/oder Untersuchungshaft, der vollstreckt wurde, bevor die Verurteilung im ersten Vertragsstaat rechtskräftig geworden ist, und dessen Dauer auf die der rechtskräftig verhängten Strafe anzurechnen ist, bewirken könnte, dass die Vollstreckungsbedingung von vornherein erfüllt und dadurch eine erneute Strafverfolgung in einem zweiten Vertragsstaat ausgeschlossen ist.

47 In der mündlichen Verhandlung hat Herr Kretzinger u. a. geltend gemacht, in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens, in dem der Urteilsstaat eine unbedingte Freiheitsstrafe nicht habe vollstrecken lassen, ohne dass er aus rechtlichen Gründen daran gehindert gewesen wäre, gelte die Vollstreckungsbedingung seit der Vergemeinschaftung des Schengen-Besitzstands grundsätzlich nicht mehr.

48 Demgegenüber haben die sieben Regierungen, die schriftliche Erklärungen beim Gerichtshof eingereicht haben, und die Kommission vorgetragen, dass Zeiten der Polizei- oder Untersuchungshaft nicht ohne Weiteres als Vollstreckung einer Sanktion im Sinne von Art. 54 SDÜ anzusehen seien.

49 Hierzu ist zu bemerken, dass Art. 54 SDÜ schon seinem Wortlaut nach nicht gelten kann, bevor der Betroffene "rechtskräftig abgeurteilt worden ist". In Gerichtsverfahren liegen jedoch sowohl die Polizeihaft als auch die Untersuchungshaft vor dem rechtskräftigen Urteil.

50 Daraus folgt, wie die Generalanwältin in Nr. 59 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, dass Art. 54 SDÜ für solche Zeiten des Freiheitsentzugs nicht gelten kann, auch wenn diese nach dem nationalen Recht bei der anschließenden Vollstreckung einer gegebenenfalls verhängten Freiheitsstrafe berücksichtigt werden müssen.

51 Diese Auslegung wird, wie die deutsche, die spanische und die österreichische Regierung sowie die Kommission bemerkt haben, dadurch bestätigt, dass die Untersuchungshaft einem ganz anderen Zweck dient als die in Art. 54 SDÜ vorgesehene Vollstreckungsbedingung. Während nämlich mit der Untersuchungshaft eher ein präventiver Zweck verfolgt wird, soll die Vollstreckungsbedingung verhindern, dass ein in einem ersten Vertragsstaat rechtskräftig Verurteilter dann, wenn dieser Staat die verhängte Strafe nicht hat vollstrecken lassen, nicht mehr wegen derselben Tat verfolgt werden kann und somit letztlich einer Strafe entgeht.

52 Folglich ist auf die zweite Frage Buchstabe b zu antworten, dass die von einem Gericht eines Vertragsstaats verhängte Sanktion nicht im Sinne von Art. 54 SDÜ "bereits vollstreckt" worden ist oder "gerade vollstreckt" wird, wenn der Angeklagte kurzfristig in Polizei- und/oder Untersuchungshaft genommen worden ist und dieser Freiheitsentzug nach dem Recht des Urteilsstaats auf eine spätere Vollstreckung der Haftstrafe anzurechnen wäre.

Zur dritten Frage

53 Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob und inwieweit die Bestimmungen des Rahmenbeschlusses die Auslegung des Begriffs der Vollstreckung im Sinne von Art. 54 SDÜ beeinflussen.

54 Im Hinblick auf die Beantwortung dieser Frage ist zunächst klarzustellen, dass, nachdem der Rahmenbeschluss in Deutschland mit Wirkung vom 2. August 2006 umgesetzt worden ist, die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls wieder möglich ist und daher nicht von vornherein ausgeschlossen werden kann, dass die Bestimmungen des Rahmenbeschlusses im Ausgangsverfahren von Bedeutung sind.

55 Außerdem gilt der Rahmenbeschluss nach seinem Art. 32 für Ersuchen im Zusammenhang mit Handlungen, die wie im Ausgangsverfahren vor Ablauf der Frist zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses, d. h. dem 1. Januar 2004, begangen wurden, sofern der Vollstreckungsmitgliedstaat keine Erklärung abgegeben hat, dass er diese Ersuchen auch weiterhin nach der vor diesem Zeitpunkt geltenden Auslieferungsregelung behandeln wird. Die Bundesrepublik Deutschland hat keine dahin gehende Erklärung abgegeben.

Zur dritten Frage Buchstabe a

56 Mit dieser Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob der Umstand, dass ein Mitgliedstaat aufgrund des Rahmenbeschlusses einen Europäischen Haftbefehl ausstellen kann, um einen nach seinem innerstaatlichen Recht rechtskräftig Verurteilten festnehmen zu lassen und das betreffende Urteil zu vollstrecken, die Auslegung des Begriffs der Vollstreckung im Sinne von Art. 54 SDÜ beeinflusst.

57 In der mündlichen Verhandlung hat Herr Kretzinger ausgeführt, infolge der dem Urteilsstaat durch den Rahmenbeschluss von Rechts wegen eingeräumten Möglichkeit, einen Europäischen Haftbefehl zu erlassen, um ein rechtskräftiges Urteil zu vollstrecken, sei die Vollstreckungsbedingung als erfüllt anzusehen, weshalb die zuständigen deutschen Gerichte ihn nicht mehr strafrechtlich verfolgen dürften.

58 Die sieben Regierungen, die schriftliche Erklärungen abgegeben haben, und die Kommission sind dagegen der Ansicht, dass der Rahmenbeschluss überhaupt keinen Einfluss auf die Auslegung von Art. 54 SDÜ habe, und tragen vor, dass die dem Urteilsstaat offenstehende Möglichkeit, einen Europäischen Haftbefehl zu erlassen, für sich genommen nicht ausreiche, um die Vollstreckungsbedingung zu erfüllen, nach der die Sanktionen tatsächlich vollstreckt werden müssten.

59 Hierzu ist festzustellen, dass die von Herrn Kretzinger befürwortete Auslegung von Art. 54 SDÜ im Gegensatz zum Wortlaut dieser Vorschrift stünde, die abgesehen vom Vorliegen einer rechtskräftigen Verurteilung wegen derselben Tat ausdrücklich verlangt, dass auch die Vollstreckungsbedingung erfüllt ist.

60 Diese Vollstreckungsbedingung kann definitionsgemäß nicht erfüllt sein, wenn, wie es im Ausgangsverfahren der Fall ist, ein Europäischer Haftbefehl nach einer strafrechtlichen Verurteilung in einem ersten Mitgliedstaat gerade zu dem Zweck ausgestellt würde, damit eine Freiheitsstrafe vollstreckt werden kann, die noch nicht im Sinne von Art. 54 SDÜ vollstreckt worden ist.

61 Diese Feststellung wird durch den Rahmenbeschluss selbst bestätigt, der in Art. 3 Nr. 2 den ersuchten Mitgliedstaat verpflichtet, die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls abzulehnen, wenn sich aus den der vollstreckenden Justizbehörde vorliegenden Informationen ergibt, dass die gesuchte Person wegen derselben Handlung von einem Mitgliedstaat rechtskräftig abgeurteilt worden ist, und im Fall einer Verurteilung die Vollstreckungsbedingung erfüllt ist.

62 Darüber hinaus wird dieses Ergebnis, wie die spanische und die österreichische Regierung sowie die Kommission bemerkt haben, dadurch gestützt, dass die Auslegung von Art. 54 SDÜ nicht von den Bestimmungen des Rahmenbeschlusses abhängen kann, ohne dass es zu Rechtsunsicherheit käme, die sich zum einen daraus ergäbe, dass die durch den Rahmenbeschluss gebundenen Mitgliedstaaten nicht sämtlich durch das SDÜ gebunden sind, das zudem auch für bestimmte Drittstaaten gilt, und zum anderen daraus, dass der Anwendungsbereich des Europäischen Haftbefehls begrenzt ist, was nicht der Fall ist bei Art. 54 SDÜ, der für alle Straftaten gilt, die von den Vertragsstaaten dieses Übereinkommens geahndet werden.

63 Der Umstand, dass eine rechtskräftig verhängte Freiheitsstrafe nach Übergabe eines Verurteilten durch einen anderen Staat im Urteilsstaat vollstreckt werden könnte, kann daher nicht die Auslegung des Begriffs der Vollstreckung im Sinne von Art. 54 SDÜ beeinflussen.

64 Daher ist auf die dritte Frage Buchstabe a zu antworten, dass es nicht die Auslegung des Begriffs der Vollstreckung im Sinne von Art. 54 SDÜ beeinflussen kann, dass ein Mitgliedstaat, in dem eine Person nach innerstaatlichem Recht rechtskräftig verurteilt worden ist, aufgrund des Rahmenbeschlusses einen Europäischen Haftbefehl ausstellen kann, um diese Person zur Vollstreckung des Urteils festnehmen zu lassen.

Zur dritten Frage Buchstabe b

65 Mit der dritten Frage Buchstabe b möchte das vorlegende Gericht wissen, ob es die Auslegung des Begriffs der Vollstreckung im Sinne von Art. 54 SDÜ beeinflusst, dass in dem durch Art. 5 Nr. 1 des Rahmenbeschlusses geschaffenen System der Vollstreckungsmitgliedstaat nicht ohne Weiteres verpflichtet ist, einen Europäischen Haftbefehl zu vollstrecken, der zur Vollstreckung eines Abwesenheitsurteils ausgestellt worden ist.

66 Aus den Randnrn. 59 bis 64 des vorliegenden Urteils ergibt sich, dass die für einen Mitgliedstaat bestehende Möglichkeit der Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls keinen Einfluss auf die Auslegung des Begriffs der Vollstreckung im Sinne von Art. 54 SDÜ hat. Wie die spanische Regierung und die Kommission zutreffend vorgetragen haben, verliert diese Feststellung in einem Fall, wie er im Ausgangsverfahren geschildert wird, nicht dadurch ihre Gültigkeit, dass das Urteil, auf das möglicherweise ein Europäischer Haftbefehl gestützt wird, in Abwesenheit ergangen ist.

67 Daher braucht in der vorliegenden Rechtssache nicht die Frage geprüft zu werden, ob ein Abwesenheitsurteil, dessen Vollstreckbarkeit nach Art. 5 Nr. 1 des Rahmenbeschlusses von Bedingungen abhängig gemacht werden kann, als eine Entscheidung anzusehen ist, mit der eine Person im Sinne von Art. 54 SDÜ "rechtskräftig abgeurteilt worden ist".

68 Folglich erübrigt sich eine Antwort auf die dritte Frage Buchstabe b.

Kostenentscheidung:

Kosten

69 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Tenor:

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:

1. Art. 54 des am 19. Juni 1990 in Schengen unterzeichneten Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen ist dahin auszulegen, dass

- das maßgebende Kriterium für die Anwendung dieses Artikels das der Identität der materiellen Tat, verstanden als das Vorhandensein eines Komplexes unlösbar miteinander verbundener Tatsachen, ist, unabhängig von der rechtlichen Qualifizierung dieser Tatsachen oder von dem geschützten rechtlichen Interesse;

- Handlungen, die in der Übernahme geschmuggelten ausländischen Tabaks in einem Vertragsstaat sowie in der Einfuhr in einen anderen Vertragsstaat und dem dortigen Besitz bestehen und sich dadurch auszeichnen, dass der in zwei Vertragsstaaten verfolgte Angeklagte von Anfang an vorhatte, den Tabak nach der ersten Übernahme über mehrere Vertragsstaaten zu einem endgültigen Bestimmungsort zu transportieren, Vorgänge sind, die unter den Begriff "dieselbe Tat" im Sinne dieses Art. 54 fallen können. Die endgültige Beurteilung ist insoweit Sache der zuständigen nationalen Instanzen.

2. Die von einem Gericht eines Vertragsstaats verhängte Sanktion ist im Sinne von Art. 54 des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen "bereits vollstreckt" worden oder wird "gerade vollstreckt", wenn der Angeklagte nach dem Recht dieses Vertragsstaats zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt worden ist.

3. Die von einem Gericht eines Vertragsstaats verhängte Sanktion ist im Sinne von Art. 54 des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen weder "bereits vollstreckt" worden noch wird sie "gerade vollstreckt", wenn der Angeklagte kurzfristig in Polizei- und/oder Untersuchungshaft genommen worden ist und dieser Freiheitsentzug nach dem Recht des Urteilsstaats auf eine spätere Vollstreckung der Haftstrafe anzurechnen wäre.

4. Es kann nicht die Auslegung des Begriffs der Vollstreckung im Sinne von Art. 54 des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen beeinflussen, dass ein Mitgliedstaat, in dem eine Person nach innerstaatlichem Recht rechtskräftig verurteilt worden ist, aufgrund des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten einen Europäischen Haftbefehl ausstellen kann, um diese Person zur Vollstreckung des Urteils festnehmen zu lassen.

Ende der Entscheidung

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