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Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 17.09.1996
Aktenzeichen: C-289/94
Rechtsgebiete: Richtlinie 83/189/EWG vom 28.03.1983, EGV


Vorschriften:

Richtlinie 83/189/EWG vom 28.03.1983 Art. 8
Richtlinie 83/189/EWG vom 28.03.1983 Art. 9 Abs. 3
Richtlinie 83/189/EWG vom 28.03.1983 Art. 1 Nr. 5
EGV Art. 169
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. In der vorprozessualen Phase des Vertragsverletzungsverfahrens soll das Aufforderungsschreiben den Gegenstand des Rechtsstreits eingrenzen und dem Mitgliedstaat, der zur Äusserung aufgefordert wird, die notwendigen Angaben zur Vorbereitung seiner Verteidigung an die Hand geben.

Zwar muß die mit Gründen versehene Stellungnahme im Sinne von Artikel 169 des Vertrages eine detaillierte und zusammenhängende Darlegung der Gründe enthalten, aus denen die Kommission zu der Überzeugung gelangt ist, daß der betreffende Mitgliedstaat gegen eine ihm nach dem Vertrag obliegende Verpflichtung verstossen hat, doch können an die Genauigkeit des Aufforderungsschreibens, das zwangsläufig nur in einer ersten knappen Zusammenfassung der Beanstandungen bestehen kann, keine so strengen Anforderungen gestellt werden.

2. Im Rahmen eines Verfahrens nach Artikel 169 des Vertrages ist das Vorliegen einer Vertragsverletzung anhand der Situation zu beurteilen, in der sich der Mitgliedstaat bei Ablauf der in der mit Gründen versehenen Stellungnahme festgesetzten Frist befand; später eingetretene Änderungen können vom Gerichtshof nicht berücksichtigt werden.

3. Eine nationale Regelung, die einige Aspekte der Qualität der zur Aufnahme von eßbaren Muscheln bestimmten Gewässer betrifft, ist, da nach ihr nur Muscheln vermarktet werden können, die in Gewässern gezuechtet worden sind, die den in ihr vorgesehenen technischen Spezifikationen entsprechen, als eine technische Vorschrift anzusehen, für die die Mitteilungspflicht gemäß Artikel 8 der Richtlinie 83/189 über ein Informationsverfahren auf dem Gebiet der Normen und technischen Vorschriften gilt.

4. Aus Artikel 1 Nr. 1 der Richtlinie 83/189 über ein Informationsverfahren auf dem Gebiet der Normen und technischen Vorschriften in der Fassung der Richtlinie 88/182 geht hervor, daß der Begriff technische Spezifikation Produktionsmethoden und -verfahren für Arzneimittel im Sinne des Artikels 1 der Richtlinie 65/65 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften über Arzneispezialitäten einschließt.

Eine nationale Regelung, durch die für die Vermarktung von Arzneispezialitäten aus Rinderorganen und -gewebe verbindliche neue technische Spezifikationen eingeführt werden, stellt daher eine technische Vorschrift im Sinne von Artikel 1 Nr. 5 der Richtlinie 83/189 dar, die der Kommission gemäß Artikel 8 dieser Richtlinie mitgeteilt werden muß.


Urteil des Gerichtshofes (Sechste Kammer) vom 17. September 1996. - Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen Italienische Republik. - Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats - Verpflichtung zur vorherigen Mitteilung aufgrund der Richtlinie 83/189/EWG. - Rechtssache C-289/94.

Entscheidungsgründe:

1 Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat mit Klageschrift, die am 24. Oktober 1994 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 169 EG-Vertrag Klage erhoben auf Feststellung, daß die Italienische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus den Artikeln 8 und 9 der Richtlinie 83/189/EWG des Rates vom 28. März 1983 über ein Informationsverfahren auf dem Gebiet der Normen und technischen Vorschriften (ABl. L 109, S. 8) in der Fassung der Richtlinie 88/182/EWG des Rates vom 22. März 1988 (ABl. L 81, S. 75) verstossen hat, daß sie die vier Dekrete des Gesundheitsministeriums, die Dekrete Nr. 256 vom 1. August 1990 und Nr. 257 vom 1. August 1990, sowie die Dekrete vom 1. September 1990 und vom 7. Juni 1991 erlassen hat, ohne sie der Kommission im Entwurfszustand mitgeteilt zu haben.

2 Das italienische Gesundheitsministerium hat in der Gazzetta ufficiale della Repubblica italiana (im folgenden: GURI) die vier folgenden Ministerialdekrete veröffentlicht:

° das Ministerialdekret Nr. 256 vom 1. August 1990 zur Änderung des Ministerialdekrets vom 27. April 1978 über die mikrobiologischen, biologischen, chemischen und physikalischen Eigenschaften der Zonen, in denen Bänke und natürliche Vorkommen an eßbaren Muscheln angesiedelt sind, und der für die Muschelzucht bestimmten Zonen zu deren Einteilung in zugelassene, unter bestimmten Bedingungen zugelassene und verbotene Zonen (GURI, Supplemento ordinario Nr. 211 vom 10. September 1990);

° das Ministerialdekret Nr. 257 vom 1. August 1990 zur Änderung des Ministerialdekrets vom 5. Oktober 1978 über die mikrobiologischen, chemischen und biologischen Eigenschaften eßbarer Muscheln je nach ihrem Verwendungszweck. Modalitäten der Entnahme von eßbaren Muscheln, die während verschiedener Phasen der Erzeugung und der Vermarktung Untersuchungen zu unterziehen sind (GURI, Supplemento ordinario Nr. 211 vom 10. September 1990);

° das Dekret vom 1. September 1990 über die Analysemethoden zur Feststellung des Vorhandenseins von biotoxischen Algen in Muscheln sowie die qualitative und quantitative Bestimmung der Besiedelung mit Phytoplankton in zur Muschelzucht bestimmten Meeresgewässern (GURI Nr. 218 vom 18. September 1990);

° das Dekret vom 7. Juni 1991 über Maßnahmen betreffend Arzneispezialitäten aus Rinderorganen und -gewebe (GURI Nr. 135 vom 11. Juni 1991).

3 Die Kommission ist der Auffassung, diese vier Dekrete (im folgenden: streitige Dekrete) hätten ihr gemäß Artikel 8 Absatz 1 der Richtlinie 83/189 in der Fassung der Richtlinie 88/182 (im folgenden: Richtlinie 83/189) im Entwurfsstadium mitgeteilt werden müssen. Diese Vorschrift verpflichtet die Mitgliedstaaten, der Kommission unverzueglich jeden Entwurf einer technischen Vorschrift zu übermitteln, es sei denn, es handelt sich lediglich um eine vollständige Übertragung einer internationalen oder europäischen Norm, und kurz die Gründe anzugeben, die die Festlegung einer derartigen technischen Vorschrift erforderlich machen. Die Kommission unterrichtet die anderen Mitgliedstaaten unverzueglich von dem Entwurf.

4 Der in diesem Artikel 8 verwendete Begriff der technischen Vorschrift ist in Artikel 1 Nr. 5 der Richtlinie 83/189 wie folgt definiert:

"Technische Spezifikationen einschließlich der einschlägigen Verwaltungsvorschriften, deren Beachtung de jure oder de facto für die Vermarktung oder Verwendung in einem Mitgliedstaat oder in einem grossen Teil dieses Staates verbindlich ist, ausgenommen die von den örtlichen Behörden festgelegten technischen Spezifikationen."

5 Artikel 9 Absatz 3 der Richtlinie 83/189 bestimmt:

"Die Absätze 1, 2 und 2a gelten nicht, wenn ein Mitgliedstaat aus dringenden Gründen des Gesundheitsschutzes von Menschen und Tieren, der Erhaltung von Pflanzen oder der Sicherheit gezwungen ist, ohne Möglichkeit vorheriger Konsultation in kürzester Frist technische Vorschriften auszuarbeiten, um sie unverzueglich zu erlassen und durchzuführen. Der Mitgliedstaat gibt in der in Artikel 8 genannten Mitteilung die Gründe für die Dringlichkeit dieser Maßnahmen an. Die Kommission trifft geeignete Maßnahmen, falls dieses Verfahren mißbräuchlich in Anspruch genommen wird."

6 Artikel 10 der Richtlinie 83/189 sieht folgendes vor:

"Die Artikel 8 und 9 gelten nicht, wenn die Mitgliedstaaten Verpflichtungen aufgrund von Gemeinschaftsrichtlinien und -verordnungen erfuellen; dies gilt auch für Engagements aus einer internationalen Übereinkunft, aufgrund derer einheitliche technische Spezifikationen in der Gemeinschaft zu erlassen sind."

7 Die Kommission war der Auffassung, daß es sich bei den streitigen Dekreten um technische Vorschriften handele, die ihr gemäß Artikel 8 der Richtlinie 83/189 im Entwurfsstadium hätten mitgeteilt werden müssen und forderte die italienische Regierung mit Schreiben vom 12. März 1991 und vom 12. Februar 1992 auf, sich ihr gegenüber zu äussern.

8 Mit Fernschreiben vom 18. April 1991 bzw. 31. März 1992 antwortete die italienische Regierung, die Nichtmitteilung der streitigen Dekrete sei auf die Notwendigkeit zurückzuführen, die Modalitäten der Qualitätskontrolle von Muschelgewässern und von zum Verzehr bestimmten Muscheln wegen des Auftretens toxischer Algen sowie aus Gründen der Dringlichkeit zu aktualisieren.

9 Trotz dieser Erklärungen richtete die Kommission am 2. Dezember 1991 und am 23. Oktober 1992 zwei mit Gründen versehene Stellungnahmen an die Italienische Republik, in denen sie darauf hinwies, daß ° wie sich aus Artikel 9 Absatz 3 der Richtlinie 83/189 ergebe ° auch das Vorliegen dringlicher Gründe die italienische Regierung nicht von der Verpflichtung befreie, die streitigen Dekrete im Entwurfszustand mitzuteilen, und in denen sie die italienische Regierung aufforderte, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um den Stellungnahmen binnen zwei Monaten nachzukommen.

10 Die Italienische Republik hat auf die beiden mit Gründen versehenen Stellungnahmen nicht geantwortet und daraufhin nichts unternommen.

11 Unter diesen Voraussetzungen hat die Kommission die vorliegende Klage eingereicht.

Zur Zulässigkeit der Klage

12 Die Italienische Republik macht gegen die Zulässigkeit der Klage drei Rügen geltend.

Zur ersten Rüge

13 Die Italienische Republik macht geltend, die an sie gerichteten Mahnschreiben seien allgemein und unzulänglich formuliert gewesen. Die Kommission habe nämlich lediglich generell und abstrakt behauptet, daß es sich bei den streitigen Dekreten um technische Vorschriften handele, ohne zu erklären oder zu belegen, aus welchen Gründen sie zu dieser Schlußfolgerung gelangt sei. Die italienische Regierung sei demzufolge in diesem Stadium nicht in die Lage versetzt worden, die Gründe zu erfahren, auf die die Klage gestützt sei, und demgemäß ihr Verteidigungsvorbringen sachgerecht zu entwickeln.

14 Die Kommission trägt in diesem Zusammenhang vor, von der italienischen Regierung sei im Vorverfahren niemals in Frage gestellt worden, daß die streitigen Dekrete die Rechtsnatur von technischen Vorschriften hätten. Sie habe die Möglichkeit gehabt, die Anwendbarkeit der Richtlinie 83/189 zu bestreiten, sie habe es aber vorgezogen, diese als gegeben anzusehen und habe dabei das Gewicht stärker auf die Dringlichkeit gelegt, um zu rechtfertigen, daß die betroffenen Dekrete nicht vorher mitgeteilt worden seien.

15 Die Kommission kann nach Artikel 169 des Vertrages nur dann eine Vertragsverletzungsklage beim Gerichtshof erheben, wenn sie dem betreffenden Mitgliedstaat zuvor Gelegenheit zur Äusserung gegeben hat. Nach ständiger Rechtsprechung soll das Mahnschreiben somit in der vorprozessualen Phase des Vertragsverletzungsverfahrens den Gegenstand des Rechtsstreits eingrenzen und dem Mitgliedstaat, der zur Äusserung aufgefordert wird, die notwendigen Angaben zur Vorbereitung seiner Verteidigung an die Hand geben (siehe u. a. Urteile vom 28. März 1985 in der Rechtssache 274/83, Kommission/Italien, Slg. 1985, 1077, Randnr. 19, und vom 15. November 1988 in der Rechtssache 229/87, Kommission/Griechenland, Slg. 1988, 6347, Randnrn. 11 und 12).

16 Zwar muß die mit Gründen versehene Stellungnahme im Sinne von Artikel 169 des Vertrages eine detaillierte und zusammenhängende Darlegung der Gründe enthalten, aus denen die Kommission zu der Überzeugung gelangt ist, daß der betreffende Mitgliedstaat gegen eine ihm nach dem Vertrag obliegende Verpflichtung verstossen hat, an die Genauigkeit des Mahnschreibens, das zwangsläufig nur in einer ersten knappen Zusammenfassung der Beanstandungen bestehen kann, können dagegen keine so strengen Anforderungen gestellt werden. Nichts hindert daher die Kommission daran, in der mit Gründen versehenen Stellungnahme die Vorwürfe näher darzulegen, die sie in der schriftlichen Aufforderung zur Äusserung bereits in allgemeiner Form erhoben hat (siehe u. a. Urteil Kommission/Italien, a. a. O., Randnr. 21).

17 In der vorliegenden Rechtssache war die Vertragsverletzung, die der italienischen Regierung zur Last gelegt wurde und die darin bestand, daß diese die technische Vorschriften enthaltenden streitigen Dekrete erlassen hatte, ohne sie zuvor im Entwurfsstadium der Kommission mitzuteilen, wie es die Richtlinie 83/189 vorschreibt, in den Mahnschreiben vom 12. März 1991 und vom 12. Februar 1992 hinreichend genau bezeichnet. Durch dieses Schreiben konnte die italienische Regierung also darüber unterrichtet werden, welcher Art die gegen sie gerichteten Vorwürfe waren; dadurch wurde ihr die Möglichkeit gegeben, sich zu verteidigen, was sie mit den beiden Fernschreiben vom 18. April 1991 und vom 31. März 1992 auch getan hat.

18 Die erste Unzulässigkeitsrüge ist daher zurückzuweisen.

Zur zweiten Rüge

19 Die italienische Regierung wirft der Kommission vor, zu keinem Zeitpunkt des Vorverfahrens den späteren Erlaß des Decreto-legge Nr. 530 vom 30. Dezember 1992 (GURI, Supplemento ordinario vom 11. Januar 1993) berücksichtigt zu haben, durch das die Richtlinie 91/492/EWG des Rates vom 15. Juli 1991 zur Festlegung von Hygienevorschriften für die Erzeugung und Vermarktung lebender Muscheln (ABl. L 268, S. 1) habe umgesetzt werden sollen. Dieses Dekret sei der Kommission mitgeteilt worden; diese habe im übrigen am 27. Januar 1993 eine ausführliche Stellungnahme abgegeben.

20 Nach ständiger Rechtsprechung ist das Vorliegen einer Vertragsverletzung anhand der Situation zu beurteilen, in der sich der Mitgliedstaat bei Ablauf der Frist, die in der mit Gründen versehenen Stellungnahme festgesetzt wurde, befand, und können später eingetretene Veränderungen vom Gerichtshof nicht berücksichtigt werden (Urteil vom 2. Mai 1996 in der Rechtssache C-133/94, Slg. 1996, I-0000, Randnr. 17).

21 In der vorliegenden Rechtssache ist das Dekret Nr. 530 aber nach Ablauf der durch die mit Gründen versehene Stellungnahme vom 2. Dezember 1991 gesetzten Frist erlassen worden.

22 Auch die zweite Unzulässigkeitsrüge ist folglich zurückzuweisen.

Zur dritten Rüge

23 Die italienische Regierung macht geltend, mindestens für zwei der streitigen Dekrete, nämlich das Dekret Nr. 257 vom 1. August 1990 und das Dekret vom 1. September 1990 gelte die Verpflichtung zur Mitteilung gemäß Artikel 10 der Richtlinie 83/189 nicht. Diese beiden Dekrete fielen ebenfalls in den Anwendungsbereich der Richtlinie 91/492, deren Durchführungsbestimmungen sie geworden seien, so daß die sie betreffende mit Gründen versehene Stellungnahme, die die Kommission am 2. Dezember 1991, d. h. nach dem Erlaß der Richtlinie 91/492, abgegeben habe, völlig unerheblich geworden sei. Die Aussetzung der beiden streitigen Dekrete und ihre spätere Mitteilung im Entwurfsstadium zu verlangen, würde nämlich darauf hinauslaufen, einen Mitgliedstaat daran zu hindern, Vorschriften des Gesundheitsschutzes in Kraft zu lassen, die einer Richtlinie entsprechen, die bereits veröffentlicht sei, deren Durchführungsfrist aber noch laufe.

24 Dieses Vorbringen kann sich auf die Zulässigkeit der vorliegenden Klage nicht auswirken. Die Frage, ob die Italienische Republik von ihrer Verpflichtung zur Mitteilung der beiden Dekrete gemäß Artikel 10 der Richtlinie 83/189 befreit war, gehört nämlich im vorliegenden Rechtsstreit zur Prüfung der Begründetheit.

25 Auch die dritte Unzulässigkeitsrüge ist daher zurückzuweisen; die vorliegende Klage ist folglich zulässig.

Zur Begründetheit

26 Die Kommission macht geltend, die Gründe für die Dringlichkeit, auf die sich die Italienische Republik in ihren Antworten auf die Mahnschreiben berufen habe, könnten nicht rechtfertigen, daß es an einer Mitteilung der streitigen Dekrete im Entwurfsstadium gänzlich fehle. Zwar erlaube Artikel 9 Absatz 3 der Richtlinie 83/189 den Mitgliedstaaten, von dem ihnen in den vorstehenden Absätzen vorgegebenen Fristen für die Beibehaltung des Status quo aus dringenden Gründen des Gesundheitsschutzes für Menschen und Tieren, der Erhaltung von Pflanzen oder der Sicherheit abzuweichen. Auch das Vorliegen derartiger Gründe entbinde die Mitgliedstaaten jedoch nicht von der Verpflichtung, die Entwürfe der betreffenden Dekrete mitzuteilen, da Artikel 9 Absatz 3 Satz 2 bestimme: "Der Mitgliedstaat gibt in der in Artikel 8 genannten Mitteilung die Gründe für die Dringlichkeit dieser Maßnahmen an." Im vorliegenden Fall seien aber weder die Entwürfe der Dekrete noch die Gründe für die Dringlichkeit ihres Erlasses der Kommission mitgeteilt worden. Unter diesen Voraussetzungen habe die Italienische Republik gegen ihre Verpflichtungen aus den Artikeln 8 und 9 der Richtlinie 83/189 verstossen.

27 In ihrer Klagebeantwortung und in ihrer Gegenerwiderung beruft sich die Italienische Republik nicht mehr auf die Gründe für die Dringlichkeit, die sie in ihren Antworten auf die Mahnschreiben zur Sprache gebracht und ausgeführt hatte, um das Fehlen einer Mitteilung zu rechtfertigen.

28 Entgegen dem Vorbringen der Kommission braucht folglich nicht geprüft zu werden, ob die Italienische Republik dadurch, daß sie der Kommission die Gründe nicht angegeben hat, die den sofortigen Erlaß der streitigen Dekrete rechtfertigten, gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 9 der Richtlinie 83/189 verstossen hat.

29 Dagegen ist zu beurteilen, ob die vier streitigen Dekrete ° wie die Italienische Republik geltend macht ° nicht unter die Verpflichtung zur Mitteilung gemäß Artikel 8 der Richtlinie 83/189 fallen, und zwar entweder, weil sie keine technischen Vorschriften im Sinne von Artikel 1, Nr. 5 dieser Richtlinie darstellen, oder weil durch sie Gemeinschaftsrichtlinien umgesetzt werden sollen und sie unter Artikel 10 der Richtlinie 83/189 fallen.

Zum Ministerialdekret Nr. 256 vom 1. August 1990

30 Erstens vertritt die Italienische Republik die Auffassung, das Dekret Nr. 256 falle nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie 83/189, da die Bestimmungen, die es enthalte, keine technischen Vorschriften im Sinne von Artikel 1 Nr. 5 der Richtlinie darstellten. Dieses Dekret betreffe die Qualität von Gewässern, die zur Zucht von eßbaren Muscheln bestimmt seien, und nicht die für deren Vermarktung vorgeschriebenen Merkmale.

31 Dieses Vorbringen ist zurückzuweisen.

32 Zwar betrifft das Dekret Nr. 256 einige Aspekte der Qualität der zur Aufnahme von eßbaren Muscheln bestimmten Gewässer, es schafft jedoch, wie die Kommission zu Recht unterstreicht, einen sehr engen Zusammenhang zwischen der Qualität der Zuchtgewässer und der Vermarktung von zum menschlichen Verzehr bestimmten Muscheln. Es können somit nur Muscheln vermarktet werden, die in Gewässern gezuechtet worden sind, die den durch das Dekret Nr. 256 eingeführten technischen Spezifikationen entsprechen. Die Beachtung dieser Spezifikationen, die verbindlich sind, hat daher unmittelbare Auswirkungen auf die Vermarktung der Muscheln, so daß das Dekret Nr. 256 als eine technische Vorschrift anzusehen ist, für die die Mitteilungspflicht gemäß Artikel 8 der Richtlinie 83/189 gilt.

33 Zweitens macht die Italienische Republik geltend, da das Dekret Nr. 256 die Gewässerqualität betreffe, beziehe es sich auf eine Materie, die durch die Richtlinie 79/923/EWG des Rates vom 30. Oktober 1979 über die Qualitätsanforderungen an Muschelgewässer (ABl. L 281, S. 47) geregelt sei; diese Richtlinie werde in den Begründungserwägungen des Dekrets genannt. Die italienische Regierung ist daher der Ansicht, daß sie gemäß Artikel 10 der Richtlinie 83/189 nicht verpflichtet gewesen sei, dieses Dekret der Kommission mitzuteilen.

34 Auch diesem Vorbringen der italienischen Regierung ist nicht zu folgen.

35 Durch das Dekret Nr. 256 sollen nämlich lediglich die Artikel 4 und 6 des bereits zitierten Ministerialdekrets vom 27. April 1978 über die Qualität von Muschelgewässern aufgrund des Auftretens von toxischen Mikroalgen in einigen italienischen Küstenzonen der Adria aktualisiert werden. Da durch diese neue Umweltsituation Gefahren für den Verbraucher entstehen, wollte die Italienische Republik Schutz- und Vorsorgemaßnahmen u. a. durch eine Intensivierung der Entnahme von Proben bei Wasser und bei Muscheln ergreifen, um der Gefahr einer Verunreinigung zuvorzukommen. Das Dekret Nr. 256 ist keineswegs an die Stelle des Dekrets vom 27. April 1978 getreten, sondern es aktualisiert dieses Dekret lediglich dadurch, daß es detailliertere und strengere Kriterien für die Überwachung von Muschelgewässern schafft.

36 Was die Richtlinie 79/923 angeht, so hat sie einen viel weiteren Anwendungsbereich als das Dekret Nr. 256. Sie sieht nicht nur den Ausbau der Verfahren zur Probeentnahme und regelmässig wiederkehrende Kontrollen der Muschelgewässer nach dem Auftreten von neuen toxischen Mikroalgen vor, sondern sie legt ein allgemeines Programm für die fortschreitende Verminderung der Wasserverschmutzung fest und führt ein komplexes System für die Einstufung der für die Muschelzucht bestimmten Gewässer ein. Diese Ziele werden nur teilweise mit dem Dekret Nr. 256 verfolgt, dessen Anwendungsbereich eindeutig stärker beschränkt ist.

37 Das Dekret Nr. 256 stellt daher keine Maßnahme zur Umsetzung der Richtlinie 79/923 dar, die die Anwendung des Artikels 10 der Richtlinie 83/189 rechtfertigen kann, und hätte der Kommission folglich gemäß Artikel 8 der letztgenannten Richtlinie mitgeteilt werden müssen.

Zum Dekret Nr. 257 vom 1. August 1990 und zum Dekret vom 1. September 1990

38 Die Italienische Republik macht geltend, die bereits zitierte Richtlinie 91/492 sei am 15. Juli 1991 erlassen worden, d. h. bevor die Kommission am 2. Dezember 1991 die mit Gründen versehene Stellungnahme betreffend das Dekret Nr. 257 vom 1. August 1990 und das Dekret vom 1. September 1990 versandt habe. Sie ist daher der Ansicht, diese beiden Dekrete seien zu Durchführungsvorschriften der Richtlinie 91/492 geworden und sie sei daher gemäß Artikel 10 der Richtlinie 83/189 von der Verpflichtung befreit gewesen, sie der Kommission mitzuteilen.

39 Diesem Vorbringen ist nicht zu folgen.

40 Durch das Dekret Nr. 257 ist nämlich Artikel 8 des bereits zitierten Ministerialdekrets vom 5. Oktober 1978 über die mikrobiologischen, chemischen und biologischen Eigenschaften von Muscheln aus den gleichen Gründen, die auch zum Erlaß der Verordnung Nr. 256 geführt haben, lediglich geändert worden.

41 Durch das Ministerialdekret vom 1. September 1990 dagegen wurde ein neues Analyseverfahren zur Feststellung des Vorhandenseins von toxischen Mikroalgen in Muscheln und in zur Muschelzucht bestimmten Gewässern eingeführt.

42 Diese beiden Dekrete hatten also ° wie das Dekret Nr. 256 ° ein beschränktes Ziel, das darin bestand, das Auftreten von neuen toxischen Mikroalgen dadurch zu verhindern, daß die vorhandenen Analysemethoden ausgebaut und neue Analysemethoden eingeführt wurden.

43 Die Richtlinie 91/492 enthält aber viel weiter gefasste Vorschriften über die Vermarktung nicht nur von Muscheln, sondern auch von Meeresgastropoden, Tunikata und Echinodermen. Sie legt nämlich neue Anforderungen für alle Stufen der Ernte, der Behandlung, der Lagerung, der Beförderung und des Vertriebs der Muscheln fest; durch sie wird auch ein Registrierungs- und Kennzeichnungssystem eingeführt, das es ermöglicht, die Herkunft jeder einzelnen Partie aus gesundheitlichen Gründen zu ermitteln.

44 Darüber hinaus wird das Fehlen einer unmittelbaren Verbindung zwischen der Richtlinie 91/492 und den beiden hier betroffenen Dekreten durch das Vorbringen der italienischen Regierung bestätigt, diese Richtlinie sei im italienischen Recht durch das bereits zitierte Decreto-legge Nr. 530 vom 30. Dezember 1992 umgesetzt worden, das nach ihrem eigenen Vorbringen die einzige Regelung zur Durchführung der Richtlinie 91/492 darstellt und für das die Kommission am 27. Januar 1993 eine ausführliche Stellungnahme versandt hat, in der sie dieses Dekret insoweit beanstandet, als es für ein drittes in der Richtlinie 91/492 nicht vorgesehenes Toxin (NSP) gelte.

45 Da das Dekret Nr. 257 vom 1. August 1990 und das Dekret vom 1. September 1990 keine Maßnahmen zur Umsetzung der Richtlinie 91/492 darstellten, die die Anwendung des Artikels 10 der Richtlinie 83/189 hätten rechtfertigen können, waren sie der Kommission gemäß Artikel 8 der letztgenannten Richtlinie mitzuteilen.

Zum Dekret vom 7. Juni 1991

46 Die italienische Regierung trägt vor, das Dekret vom 7. Juni 1991, das Maßnahmen in bezug auf Arzneispezialitäten aus Rinderorganen und -gewebe vorsehe, sei eine Reaktion auf Befürchtungen, die durch die Verbreitung von Infektionskrankheiten bei Rindern (insbesondere die bovine spongiforme Enzephalopathie, bekannter unter der Bezeichnung "Rinderwahnsinn") geweckt worden seien. Um das Auftreten von spezifischen Viren oder Krankheitserregern in diesen Arzneispezialitäten zu verhindern, hätten die italienischen Behörden es vorgezogen, weitere Unterlagen und Analysen zusätzlich zu den zur Begründung der Anträge auf Genehmigung des Inverkehrbringens seinerzeit vorgelegten zu fordern, statt eine allgemeine Aussetzung dieser Genehmigungen zu beschließen.

47 Die italienische Regierung ist der Ansicht, derartige Maßnahmen fielen in den Rahmen der Befugnisse, die den Mitgliedstaaten durch die Richtlinie 65/65/EWG des Rates vom 26. Januar 1965 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften über Arzneispezialitäten in ihrer später geänderten Fassung (ABl. 1965, Nr. 22, S. 369) zuerkannt worden seien. Diese Befugnisse schlössen nämlich die Möglichkeit ein, daß die Mitgliedstaaten Genehmigungen für das Inverkehrbringen aussetzten oder widerriefen und daß sie eine Ergänzung der Unterlagen zur Begründung des ursprünglichen Antrags auf Genehmigung für das Inverkehrbringen verlangten.

48 In ihrer Antwort auf eine schriftliche Frage des Gerichtshofes hat die italienische Regierung vorgetragen, die Ausdehnung des Anwendungsbereichs der Richtlinie 83/189 auf Produktionsmethoden und -verfahren für Arzneimittel im Sinne der Richtlinie 65/65 durch die Richtlinie 88/182 könne den Geltungsbereich der speziellen Regelung dieses sehr delikaten Sektors, für den die Richtlinie 65/65 gelte, nicht ändern oder einschränken, insbesondere in der Weise, daß die Kontroll- und Prüfungsbefugnisse berührt würden, die die nationalen Stellen im Rahmen der speziellen Regelung über die Registrierung von Arzneispezialitäten besässen.

49 Die italienische Regierung ist folglich der Auffassung, daß nur die nationalen Maßnahmen, die Arzneispezialitäten zum Gegenstand hätten, die nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie 65/65 fielen, unter das in der Richtlinie 83/189 vorgesehene Informationsverfahren fallen dürften.

50 Diesem Vorbringen ist nicht zu folgen.

51 Aus Artikel 1 Nr. 1 der Richtlinie 83/189 geht hervor, daß der Begriff technische Spezifikation Produktionsmethoden und -verfahren für Arzneimittel im Sinne des Artikels 1 der Richtlinie 65/65 einschließt.

52 Das Dekret vom 7. Juni 1991, durch das für die Vermarktung von Arzneispezialitäten aus Rinderorganen und -gewebe verbindliche neue technische Spezifikationen eingeführt werden, stellt daher eine technische Vorschrift im Sinne von Artikel 1 Nr. 5 der Richtlinie 83/189 dar und hätte der Kommission mitgeteilt werden müssen.

53 Es ist daher festzustellen, daß die Italienische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 8 der Richtlinie 83/189 verstossen hat, daß sie die vier streitigen Dekrete erlassen hat, ohne sie im Entwurfsstadium der Kommission mitgeteilt zu haben.

Kostenentscheidung:

Kosten

54 Gemäß Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Italienische Republik mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

1. Die Italienische Republik hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 8 der Richtlinie 83/189/EWG des Rates vom 28. März 1983 über ein Informationsverfahren auf dem Gebiet der Normen und technischen Vorschriften in der Fassung der Richtlinie 88/182/EWG des Rates vom 22. März 1988 verstossen, daß sie vier Dekrete des Gesundheitsministeriums, die Dekrete Nr. 256 vom 1. August 1990 und Nr. 257 vom 1. August 1990 sowie die Dekrete vom 1. September 1990 und vom 7. Juni 1991, erlassen hat, ohne sie im Entwurfsstadium der Kommission mitgeteilt zu haben.

2. Die Italienische Republik trägt die Kosten des Verfahrens.

Ende der Entscheidung

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