Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 26.02.1991
Aktenzeichen: C-292/89
Rechtsgebiete: EWGV


Vorschriften:

EWGV Art. 48
EWGV Art. 48 Abs. 3
EWGV Art. 177
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Zur Freizuegigkeit der Arbeitnehmer nach Artikel 48 EWG-Vertrag gehört auch das Recht der Angehörigen der Mitgliedstaaten, sich in den anderen Mitgliedstaaten frei zu bewegen und sich dort aufzuhalten, um eine Stelle zu suchen. Der Aufenthalt des Stellensuchenden kann zeitlich begrenzt werden; die praktische Wirksamkeit des Artikels 48 ist jedoch nur gewahrt, wenn dem Betroffenen ein angemessener Zeitraum eingeräumt wird, um im Aufnahmemitgliedstaat von Stellenangeboten, die seinen beruflichen Qualifikationen entsprechen, Kenntnis nehmen und sich gegebenenfalls bewerben zu können.

Das Gemeinschaftsrecht regelt die Länge dieses Zeitraums nicht. Es verwehrt es daher dem Recht eines Mitgliedstaats nicht, einen Angehörigen eines anderen Mitgliedstaats, der zum Zweck der Stellensuche in sein Gebiet eingereist ist, unbeschadet einer Klagemöglichkeit auszuweisen, wenn er nach sechs Monaten keine Stelle gefunden hat, sofern der Betroffene nicht nachweist, daß er weiterhin und mit begründeter Aussicht auf Erfolg Arbeit sucht.

2. Eine Erklärung, die in das Protokoll der Ratssitzung aufgenommen wurde, in der eine Bestimmung des abgeleiteten Rechts angenommen wurde, kann zur Auslegung dieser Bestimmung nicht herangezogen werden, wenn der Inhalt der Erklärung in der fraglichen Bestimmung keinen Ausdruck gefunden und somit keine rechtliche Bedeutung hat.


URTEIL DES GERICHTSHOFES VOM 26. FEBRUAR 1991. - THE QUEEN GEGEN IMMIGRATION APPEAL TRIBUNAL, EX PARTE GUSTAFF DESIDERIUS ANTONISSEN. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: HIGH COURT OF JUSTICE, QUEEN'S BENCH DIVISION - VEREINIGTES KOENIGREICH. - FREIZUEGIGKEIT DER ARBEITNEHMER - AUFENTHALTSRECHT - ARBEITSUCHE - BEFRISTUNG. - RECHTSSACHE C-292/89.

Entscheidungsgründe:

1 Der High Court of Justice, Queen' s Bench Division, hat mit Beschluß vom 14. Juni 1989, beim Gerichtshof eingegangen am 21. September 1989, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag zwei Fragen nach der Auslegung des Gemeinschaftsrechts über die Freizuegigkeit von Arbeitnehmern und über das Aufenthaltsrecht von Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten, die in einem anderen Mitgliedstaat Arbeit suchen, zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen dem belgischen Staatsangehörigen Gustaff Desiderius Antonissen (Betroffener) und dem Innenminister, der ihn am 27. November 1987 aus dem Vereinigten Königreich ausgewiesen hat.

3 Der Betroffene reiste im Oktober 1984 in das Vereinigte Königreich ein. Als er am 30. März 1987 vom Crown Court Liverpool wegen rechtswidrigen Kokainbesitzes und

wegen Kokainbesitzes mit der Absicht des Weiterverkaufs jeweils zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde, hatte er noch keine Stelle gefunden. Am 21. Dezember 1987 wurde der Strafrest zur Bewährung ausgesetzt.

4 Die Ausweisung erfolgte gemäß Section 3 (5) (b) des Immigration Act 1971, wonach der Innenminister Ausländer ausweisen kann, wenn die Ausweisung im öffentlichen Interesse liegt.

5 Gegen die Ausweisung erhob der Betroffene Klage beim Immigration Appeal Tribunal. Dabei machte er geltend, als Gemeinschaftsangehöriger unterstehe er dem Schutz der Richtlinie 64/221/EWG des Rates vom 25. Februar 1964 zur Koordinierung der Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind (ABl. Nr. 56, S. 850). Das Gericht folgte dem nicht; da der Betroffene im Vereinigten Königreich seit mehr als sechs Monaten nach Arbeit suche, könne er einem Gemeinschaftsarbeitnehmer nicht gleichgestellt werden und sich nicht auf diese Richtlinie berufen. Das Gericht stützte sich insoweit auf Paragraph 143 des zur Durchführung des Immigration Act erlassenen Statement of Changes in Immigration Rules (HC 169), wonach ein Angehöriger eines Mitgliedstaats ausgewiesen werden kann, wenn er sechs Monate nach seiner Einreise in das Vereinigte Königreich noch keine Stelle gefunden hat und keine andere berufliche Tätigkeit ausübt.

6 Gegen das klageabweisende Urteil hat der Betroffene ein Rechtsmittel zum High Court of Justice, Queen' s Bench Division, eingelegt; dieser hat das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Bei der Entscheidung darüber, ob ein Angehöriger eines Mitgliedstaats, der in einem anderen Mitgliedstaat Arbeit sucht, mit der Folge als "Arbeitnehmer" im Sinne von Artikel 48 EWG-Vertrag behandelt werden muß, daß er vorbehaltlich der Richtlinie 64/221 des Rates vom 25. Februar 1964 vor der Ausweisung geschützt ist, stellt sich folgende Frage: Kann der Gesetzgeber des zweiten Mitgliedstaats vorschreiben, daß ein solcher Staatsangehöriger aus seinem Gebiet (unbeschadet einer Klagemöglichkeit) ausgewiesen werden kann, wenn er sechs Monate nach der Einreise in dieses Gebiet keine Arbeit angenommen hat?

2. Welche Bedeutung muß das Gericht eines Mitgliedstaats bei der Beantwortung dieser Frage einer Erklärung beimessen, die im Protokoll der Ratssitzung enthalten ist, in der die Richtlinie 68/360 angenommen wurde?

7 Weitere Einzelheiten des Sachverhalts, des einschlägigen Rechts sowie der beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen finden sich im Sitzungsbericht, auf den verwiesen wird. Der Akteninhalt ist im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

8 Die Vorlagefragen des nationalen Gerichts gehen in der Sache dahin, ob das Gemeinschaftsrecht über die Freizuegigkeit der Arbeitnehmer es dem Recht eines Mitgliedstaats verwehrt, einen Angehörigen eines anderen Mitgliedstaats, der zum Zwecke der Stellensuche in sein Gebiet eingereist ist, unbeschadet einer Klagemöglichkeit auszuweisen, wenn er nach sechs Monaten keine Stelle gefunden hat.

9 Hierzu wurde vorgebracht, nach dem Wortlaut des Artikels 48 EWG-Vertrag werde den Gemeinschaftsangehörigen Freizuegigkeit im Gebiet der Mitgliedstaaten nur gewährt, um sich um tatsächlich angebotene Stellen zu bewerben (Absatz 3 Buchstaben a und b); das Aufenthaltsrecht in diesen Staaten sei hingegen an die Ausübung einer Beschäftigung gebunden (Absatz 3 Buchstabe c).

10 Diese Auslegung schlösse für die Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats das Recht aus, sich frei in die anderen Staaten zu begeben und sich dort aufzuhalten, um eine Stelle zu suchen; sie ist irrig.

11 Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofes gehört die Freizuegigkeit der Arbeitnehmer nämlich zu den Grundlagen der Gemeinschaft; die einschlägigen Bestimmungen sind daher weit auszulegen (vgl. unter anderem das Urteil vom 3. Juli 1986 in der Rechtssache 139/85, Kempf, Slg. 1986, 1741, Randnr. 13).

12 Im übrigen würde eine enge Auslegung des Artikels 48 Absatz 3 die Chancen eines arbeitssuchenden Angehörigen eines Mitgliedstaats vermindern, in den anderen Mitgliedstaaten eine Stelle zu finden; sie nähme dieser Bestimmung damit ihre praktische Wirksamkeit.

13 Artikel 48 Absatz 3 ist daher dahin auszulegen, daß er die Rechte, die den Angehörigen der Mitgliedstaaten im Rahmen der Freizuegigkeit der Arbeitnehmer zustehen, nicht abschließend aufführt; zu dieser Freiheit gehört auch das

Recht der Angehörigen der Mitgliedstaaten, sich in den anderen Mitgliedstaaten frei zu bewegen und sich dort aufzuhalten, um eine Stelle zu suchen.

14 Diese Auslegung des EWG-Vertrags entspricht im übrigen der Auffassung der rechtsetzenden Organe der Gemeinschaft, wie sie sich aus den Bestimmungen zur Durchführung der Freizuegigkeit, insbesondere den Artikeln 1 und 5 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizuegigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft (ABl. L 257, S. 2), ergibt, die das Recht der Gemeinschaftsangehörigen, sich zur Stellensuche in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, und folglich auch das Aufenthaltsrecht dort voraussetzen.

15 Zu prüfen ist somit, ob dieses Aufenthaltsrecht zum Zwecke der Stellensuche, wie es sich aus Artikel 48 und der Verordnung Nr. 1612/68 ergibt, zeitlich begrenzt werden kann.

16 Die praktische Wirksamkeit des Artikels 48 ist gewahrt, wenn der Zeitraum, den das Gemeinschaftsrecht oder in Ermangelung einer gemeinschaftsrechtlichen Regelung das Recht eines Mitgliedstaats dem Betroffenen einräumt, um im jeweiligen Mitgliedstaat von Stellenangeboten, die seinen beruflichen Qualifikationen entsprechen, Kenntnis nehmen und sich gegebenenfalls bewerben zu können, angemessen ist.

17 Das vorlegende Gericht hat auf die Erklärung hingewiesen, die in das Protokoll der Ratssitzung aufgenommen wurde, in der die Verordnung Nr. 1612/68 und die Richtlinie 68/360/EWG vom 15. Oktober 1968 zur Aufhebung der

Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen für Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten und ihre Familienangehörigen innerhalb der Gemeinschaft (ABl. L 257, S. 13) angenommen wurden; dieses enthält folgenden Passus:

"Die in Artikel 1 ((der Richtlinie)) genannten Staatsangehörigen eines Mitgliedstaates, die sich in einen anderen Mitgliedstaat begeben, um dort einen Arbeitsplatz zu suchen, verfügen hierzu über eine Frist von mindestens drei Monaten; falls sie nach Ablauf dieser Frist keinen Arbeitsplatz gefunden haben, so könnte veranlasst werden, daß sie ihren Aufenthalt im Hoheitsgebiet dieses zweiten Staates beenden.

Falls diese Personen jedoch im Laufe der genannten Frist von Wohlfahrtseinrichtungen (Sozialfürsorge) des zweiten Staates unterstützt werden müssen, könnten sie aufgefordert werden, das Hoheitsgebiet des zweiten Staates zu verlassen."

18 Eine solche Erklärung kann jedoch nicht zur Auslegung abgeleiteten Rechts herangezogen werden, wenn der Inhalt der Erklärung wie im vorliegenden Fall in der fraglichen Bestimmung keinen Ausdruck gefunden und somit keine rechtliche Bedeutung hat.

19 Das Vereinigte Königreich und die Kommission führen aus, nach Artikel 69 Absatz 1 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (mit der Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983, ABl. L 230, S. 6, kodifizierte Fassung), könnten die Mitgliedstaaten den Aufenthalt von Angehörigen eines anderen Mitgliedstaats, der sich in ihrem Gebiet zur Stellensuche aufhält, auf drei Monate begrenzen. Nach dieser Bestimmung behält ein arbeitsloser Arbeitnehmer, der die Voraussetzungen für einen Leistungsanspruch nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats erfuellt und sich in einen anderen Mitgliedstaat begibt, um dort eine Beschäftigung zu suchen, den Leistungsanspruch während höchstens drei Monaten.

20 Dieses Vorbringen trifft nicht zu. Wie der Generalanwalt zu Recht ausgeführt hat, gibt es keinen zwingenden Zusammenhang zwischen dem Anspruch auf Leistungen des Herkunftsmitgliedstaats bei Arbeitslosigkeit und dem Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat.

21 Das Gemeinschaftsrecht regelt also nicht, wie lange sich Gemeinschaftsangehörige zur Stellensuche in einem Mitgliedstaat aufhalten dürfen. Das hier maßgebliche nationale Recht sieht hierfür einen Zeitraum von sechs Monaten vor. Dies erscheint grundsätzlich als ausreichend, um den Betroffenen zu erlauben, im Aufnahmemitgliedstaat von Stellenangeboten Kenntnis zu nehmen, die ihren beruflichen Qualifikationen entsprechen, und sich gegebenenfalls um solche Stellen zu bewerben; eine solche zeitliche Begrenzung gefährdet daher nicht die praktische Wirksamkeit des Grundsatzes der Freizuegigkeit. Erbringt der Betroffene freilich nach Ablauf dieses Zeitraums den Nachweis, daß er weiterhin und mit begründeter Aussicht auf Erfolg Arbeit sucht, so darf er vom Aufnahmemitgliedstaat nicht ausgewiesen werden.

22 Auf die vom nationalen Gericht vorgelegten Fragen ist somit zu antworten, daß das Gemeinschaftsrecht über die Freizuegigkeit der Arbeitnehmer es dem Recht eines Mitgliedstaats nicht verwehrt, einen Angehörigen eines anderen Mitgliedstaats, der zum Zweck der Stellensuche in sein Gebiet eingereist ist, unbeschadet einer

Klagemöglichkeit auszuweisen, wenn er nach sechs Monaten keine Stelle gefunden hat, sofern der Betroffene nicht nachweist, daß er weiterhin und mit begründeter Aussicht auf Erfolg Arbeit sucht.

Kostenentscheidung:

Kosten

23 Die Auslagen des Vereinigten Königreichs und der Bundesrepublik Deutschland sowie des Rates und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem vor dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit. Die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

auf die ihm vom High Court of Justice, Queen' s Bench Division, mit Beschluß vom 14. Juni 1989 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

Das Gemeinschaftsrecht über die Freizuegigkeit der Arbeitnehmer verwehrt es dem Recht eines Mitgliedstaats nicht, einen Angehörigen eines anderen Mitgliedstaats, der zum Zweck der Stellensuche in sein Gebiet eingereist ist, unbeschadet einer Klagemöglichkeit auszuweisen, wenn er nach sechs Monaten keine Stelle gefunden hat, sofern der

Betroffene nicht nachweist, daß er weiterhin und mit begründeter Aussicht auf Erfolg Arbeit sucht.

Ende der Entscheidung

Zurück