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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 15.12.1993
Aktenzeichen: C-292/92
Rechtsgebiete: EWG-Vertrag


Vorschriften:

EWG-Vertrag Art. 177
EWG-Vertrag Art. 30
EWG-Vertrag Art. 36
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Maßnahmen einer Standesorganisation des Apothekensektors stellen, wenn sie den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinflussen können, "Maßnahmen" im Sinne von Artikel 30 EWG-Vertrag dar, sofern nach nationalem Recht

- diese Organisation eine der staatlichen Aufsicht unterstehende Körperschaft des öffentlichen Rechts ist, der alle Apotheker, die in ihrem Zuständigkeitsbereich ihren Beruf ausüben, zwangsläufig angehören;

- die Organisation die für die Apotheker geltenden Standesregeln erlässt und die Erfuellung der Berufspflichten durch ihre Mitglieder überwacht;

- bei dieser Organisation gebildete Berufsgerichte, denen auf Vorschlag der Organisation bestellte Mitglieder angehören, gegenüber den Apothekern, die gegen die Standesregeln verstossen haben, Disziplinarmaßnahmen wie Geldbussen, Aberkennung der Mitgliedschaft in den Organen der Organisation oder Aberkennung des Wahlrechts und der Wählbarkeit in die Organe der Organisation verhängen können.

2. Die Anwendung nationaler Bestimmungen, die bestimmte Verkaufsmodalitäten beschränken oder verbieten, auf Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten ist nicht geeignet, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern, und stellt somit keine Maßnahme gleicher Wirkung wie eine mengenmässige Beschränkung im Sinne von Artikel 30 EWG-Vertrag dar, sofern diese Bestimmungen für alle betroffenen Wirtschaftsteilnehmer gelten, die ihre Tätigkeit im Inland ausüben, und sofern sie den Absatz der inländischen Erzeugnisse und der Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten rechtlich wie tatsächlich in der gleichen Weise berühren. Sind diese Voraussetzungen erfuellt, so ist die Anwendung derartiger Regelungen auf den Verkauf von Erzeugnissen aus einem anderen Mitgliedstaat, die den von diesem Staat aufgestellten Bestimmungen entsprechen, nicht geeignet, den Marktzugang für diese Erzeugnisse zu versperren oder stärker zu behindern, als sie dies für inländische Erzeugnisse tut. Diese Regelungen fallen daher nicht in den Anwendungsbereich von Artikel 30.

Daraus folgt, daß Artikel 30 EWG-Vertrag dahin auszulegen ist, daß er nicht auf eine von einer Apothekerkammer eines Mitgliedstaats erlassene Standesregel anwendbar ist, die allen Apothekern im Zuständigkeitsbereich der Kammer die Werbung ausserhalb der Apotheke für apothekenübliche Waren, die sie zum Verkauf anbieten dürfen, verbietet, sofern diese Regelung, die ohne nach der Herkunft der betreffenden Waren zu unterscheiden gilt, den Absatz der Waren aus anderen Mitgliedstaaten nicht in anderer Weise als den der inländischen Waren berührt.


URTEIL DES GERICHTSHOFES VOM 15. DEZEMBER 1993. - RUTH HUENERMUND UND ANDERE GEGEN LANDESAPOTHEKERKAMMER BADEN-WUERTTEMBERG. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: VERWALTUNGSGERICHTSHOF BADEN-WUERTTEMBERG - DEUTSCHLAND. - FREIER WARENVERKEHR - APOTHEKENUEBLICHE WAREN - VERBOT DER WERBUNG AUSSERHALB DER APOTHEKE. - RECHTSSACHE C-292/92.

Entscheidungsgründe:

1 Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg hat mit Beschluß vom 14. Mai 1992, beim Gerichtshof eingegangen am 1. Juli 1992, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung der Artikel 30 und 36 EWG-Vertrag zur Vorabentscheidung vorgelegt, um beurteilen zu können, ob eine von der Landesapothekerkammer Baden-Württemberg erlassene Standesregel mit diesen Vorschriften vereinbar ist, die den Apothekern, die im Land Baden-Württemberg ihren Beruf ausüben, die Werbung ausserhalb der Apotheke für apothekenübliche Waren, die sie zum Verkauf anbieten dürfen, verbietet.

2 Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen dreizehn Apothekern im Land Baden-Württemberg und der Landesapothekerkammer über die Rechtmässigkeit dieser Standesregel.

3 Aus den dem Gerichtshof übersandten Akten ergibt sich, daß § 10 Nr. 15 der Berufsordnung der Landesapothekerkammer die "übertriebene Werbung" für die Waren verbietet, die gemäß § 2 Absatz 4 in Verbindung mit § 25 der Apothekenbetriebsordnung neben den Arzneimitteln in der Apotheke verkauft werden dürfen, soweit dadurch der ordnungsgemässe Betrieb der Apotheke nicht beeinträchtigt wird. Es steht fest, daß diese Vorschrift der Berufsordnung praktisch jede Form der Werbung ausserhalb der Apotheke für apothekenübliche Waren untersagt.

4 Die Antragsteller des Ausgangsverfahrens, sämtlich Inhaber von Apotheken im Land Baden-Württemberg, in denen apothekenübliche Waren verkauft werden, für die sie ausserhalb der Apotheke werben wollen, reichten gegen die Landesapothekerkammer beim Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg einen Antrag auf Normenkontrolle ein, um dieses Werbeverbot für ungültig erklären zu lassen. Vor diesem Gericht beriefen sich die Antragsteller u. a. darauf, daß § 10 Nr. 15 der Berufsordnung der Landesapothekerkammer mit den Artikeln 30 und 36 EWG-Vertrag unvereinbar sei.

5 Unter diesen Umständen hat der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg das Verfahren ausgesetzt, um dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist Artikel 36 in Verbindung mit Artikel 30 EWG-Vertrag dahin auszulegen, daß die Regelung in einer Berufsordnung gerechtfertigt ist, mit der eine Landesapothekerkammer den Apothekern in ihrem Zuständigkeitsbereich die Werbung ausserhalb der Apotheke auch für den Vertrieb apothekenüblicher Waren im Sinne von § 25 der Apothekenbetriebsordnung verbietet?

6 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens, des Verfahrensablaufs und der beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

Zur Zuständigkeit des Gerichtshofes

7 Die Landesapothekerkammer, die Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens, trägt vor, die Frage des vorlegenden Gerichts sei unzulässig, da der Gerichtshof nicht für die Entscheidung über die Gültigkeit einer nationalen Bestimmung im Hinblick auf das Gemeinschaftsrecht zuständig sei.

8 Hierzu ist zu bemerken, daß der Gerichtshof im Rahmen eines Verfahrens nach Artikel 177 EWG-Vertrag zwar nicht über die Vereinbarkeit nationaler Rechtsnormen mit den gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften entscheiden kann, daß er aber befugt ist, dem vorlegenden Gericht alle Kriterien für die Auslegung des Gemeinschaftsrechts an die Hand zu geben, die das Gericht in die Lage versetzen, die Vereinbarkeit dieser Rechtsnormen mit der Gemeinschaftsregelung zu beurteilen.

9 Die Landesapothekerkammer trägt weiter vor, die Vorabentscheidungsfrage sei eine blosse Gutachtenfrage zu einem hypothetischen Problem, da sich der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg nicht zur Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlaß seines Urteils geäussert habe.

10 Insoweit genügt der Hinweis darauf, daß der Vorlagebeschluß und die dem Gerichtshof übersandten Akten nichts enthalten, was den realen Charakter der Ausgangsstreitigkeit oder die Beurteilung, die das vorlegende Gericht hinsichtlich der Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für die Lösung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits vorgenommen hat, in Zweifel ziehen könnte.

11 Aus den vorstehenden Erwägungen folgt, daß der Gerichtshof für die Entscheidung über die vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg vorgelegte Frage zuständig ist.

Zu Artikel 30 EWG-Vertrag

12 Vorab ist daran zu erinnern, daß nach Artikel 30 EWG-Vertrag mengenmässige Einfuhrbeschränkungen sowie alle Maßnahmen gleicher Wirkung zwischen den Mitgliedstaaten verboten sind.

13 Hierzu trägt die Landesapothekerkammer zunächst vor, daß die Standesregel, um die es vor dem vorlegenden Gericht gehe, nicht als "Maßnahme" im Sinne von Artikel 30 EWG-Vertrag angesehen werden könne, da nach deutschem Recht die Landesapothekerkammern nicht befugt seien, auf die Disziplinarmaßnahme des Berufsverbots zu erkennen, die nur von den zuständigen Landesbehörden verhängt werden könne.

14 Zu diesem Punkt ergibt sich aus dem Vorlagebeschluß, daß die Landesapothekerkammer nach deutschem Recht eine der staatlichen Aufsicht unterstehende Körperschaft des öffentlichen Rechts ist, der alle Apotheker, die im Land Baden-Württemberg ihren Beruf ausüben, zwangsläufig angehören. Ausserdem erlässt diese Kammer die für die Apotheker geltenden Standesregeln und überwacht die Erfuellung der Berufspflichten durch die Kammermitglieder. Schließlich können bei dieser Kammer gebildete Berufsgerichte, denen auf Vorschlag der Kammer bestellte Kammermitglieder angehören, gegenüber den Apothekern, die gegen die Standesregeln verstossen haben, Disziplinarmaßnahmen wie Geldbussen, Aberkennung der Mitgliedschaft in den Organen der Kammer oder Aberkennung des Wahlrechts und der Wählbarkeit in die Organe der Kammer verhängen.

15 Der Gerichtshof hat bereits entschieden (vgl. Urteil vom 18. Mai 1989 in den verbundenen Rechtssachen 266/87 und 267/87, Royal Pharmaceutical Society of Great Britain, Slg. 1989, 1295, Randnr. 15), daß Maßnahmen einer Standesorganisation, der nach nationalem Recht derartige Befugnisse zustehen, "Maßnahmen" im Sinne von Artikel 30 EWG-Vertrag darstellen, wenn sie den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinflussen können.

16 Diese Feststellung wird keineswegs dadurch in Frage gestellt, daß die Landesapothekerkammer, um die es im Ausgangsverfahren geht, anders als die in diesem Urteil genannte Standesorganisation, nicht befugt ist, ihren Mitgliedern die zur Berufsausübung erforderliche Approbation zu entziehen.

17 Die Landesapothekerkammer macht sodann geltend, daß das im Verfahren vor dem vorlegenden Gericht in Rede stehende Werbeverbot keine Maßnahme gleicher Wirkung wie eine mengenmässige Einfuhrbeschränkung im Sinne von Artikel 30 EWG-Vertrag darstelle, da diese Standesregel nicht geeignet sei, den innergemeinschaftlichen Handel mit apothekenüblichen Waren zu behindern.

18 Hierzu ist zunächst zu bemerken, daß nach ständiger Rechtsprechung eine Maßnahme gleicher Wirkung wie eine mengenmässige Beschränkung jede Maßnahme ist, die geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern (vgl. Urteil vom 11. Juli 1974 in der Rechtssache 8/74, Dassonville, Slg. 1974, 837, Randnr. 5).

19 Sodann ist festzustellen, daß eine von einer Apothekerkammer erlassene Standesregel, die den Apothekern die Werbung ausserhalb der Apotheke für apothekenübliche Waren verbietet, keine Regelung des Warenverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten bezweckt. Ausserdem ist darauf hinzuweisen, daß dieses Verbot die Möglichkeit für andere Wirtschaftsteilnehmer als Apotheker, für diese Waren zu werben, nicht berührt.

20 Zwar kann eine solche Regelung das Absatzvolumen und damit das Volumen des Absatzes von apothekenüblichen Waren aus anderen Mitgliedstaaten insoweit beschränken, als sie den betroffenen Apothekern eine Methode der Förderung des Absatzes dieser Waren nimmt. Es ist jedoch fraglich, ob diese Möglichkeit ausreicht, um die in Rede stehende Regelung als eine Maßnahme gleicher Wirkung wie eine mengenmässige Einfuhrbeschränkung im Sinne von Artikel 30 EWG-Vertrag anzusehen.

21 Insoweit ist darauf hinzuweisen, daß die Anwendung nationaler Bestimmungen, die bestimmte Verkaufsmodalitäten beschränken oder verbieten, auf Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten nicht geeignet ist, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten im Sinne des Urteils Dassonville (a. a. O.) unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern, sofern diese Bestimmungen für alle betroffenen Wirtschaftsteilnehmer gelten, die ihre Tätigkeit im Inland ausüben, und sofern sie den Absatz der inländischen Erzeugnisse und der Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten rechtlich wie tatsächlich in der gleichen Weise berühren. Sind diese Voraussetzungen erfuellt, so ist die Anwendung derartiger Regelungen auf den Verkauf von Erzeugnissen aus einem anderen Mitgliedstaat, die den von diesem Staat aufgestellten Bestimmungen entsprechen, nicht geeignet, den Marktzugang für diese Erzeugnisse zu versperren oder stärker zu behindern, als sie dies für inländische Erzeugnisse tut. Diese Regelungen fallen daher nicht in den Anwendungsbereich von Artikel 30 EWG-Vertrag (vgl. Urteil vom 24. November 1993 in den verbundenen Rechtssachen C-267/91 und C-268/91, Keck und Mithouard, Slg. 1993, I-6097, Randnrn. 16 und 17).

22 Handelt es sich um eine Regelung wie die, um die es im Ausgangsverfahren geht, so ist festzustellen, daß diese Voraussetzungen bei der Anwendung einer von einer Apothekerkammer eines Mitgliedstaats erlassenen Standesregel erfuellt sind, die den Apothekern im Zuständigkeitsbereich der Kammer die Werbung ausserhalb der Apotheke für apothekenübliche Waren, die sie zum Verkauf anbieten dürfen, verbietet.

23 Diese Regelung, die, ohne nach der Herkunft der betreffenden Waren zu unterscheiden, für alle Apotheker im Zuständigkeitsbereich der Apothekerkammer gilt, berührt nämlich den Absatz der Waren aus anderen Mitgliedstaaten nicht in anderer Weise als den der inländischen Waren.

24 Unter diesen Umständen ist auf die vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg vorgelegte Frage zu antworten, daß Artikel 30 EWG-Vertrag dahin auszulegen ist, daß er nicht auf eine von der Apothekerkammer eines Mitgliedstaats erlassene Standesregel anwendbar ist, die den Apothekern die Werbung ausserhalb der Apotheke für apothekenübliche Waren verbietet.

Kostenentscheidung:

Kosten

25 Die Auslagen der italienischen Regierung und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

auf die ihm vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg mit Beschluß vom 14. Mai 1992 vorgelegte Frage für Recht erkannt:

Artikel 30 EWG-Vertrag ist dahin auszulegen, daß er nicht auf eine von der Apothekerkammer eines Mitgliedstaats erlassene Standesregel anwendbar ist, die den Apothekern die Werbung ausserhalb der Apotheke für apothekenübliche Waren verbietet.

Ende der Entscheidung

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