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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 11.06.1998
Aktenzeichen: C-297/96
Rechtsgebiete: Verordnung Nr. 1408/71/EWG


Vorschriften:

Verordnung Nr. 1408/71/EWG Art. 4 Abs. 2a
Verordnung Nr. 1408/71/EWG Art. 5
Verordnung Nr. 1408/71/EWG Art. 10a
Verordnung Nr. 1408/71/EWG Anhang VI
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Artikel 10a der Verordnung Nr. 1408/71 in der durch die Verordnung Nr. 2001/83 geänderten und aktualisierten Fassung, geändert durch die Verordnung Nr. 1247/92 in Verbindung mit Anhang IIa ist dahin auszulegen, daß eine für Behinderte bestimmte beitragsunabhängige, nicht auf die Bedürftigkeit des Empfängers abstellende und in Anhang IIa genannte Leistung wie die Attendance allowance des Vereinigten Königreichs in seinen Geltungsbereich fällt und folglich eine beitragsunabhängige Sonderleistung im Sinne von Artikel 4 Absatz 2a der Verordnung darstellt, so daß auf den Fall einer Person, die nach dem 1. Juni 1992, dem Tag des Inkrafttretens der Verordnung Nr. 1247/92, die Voraussetzungen für die Gewährung dieser Leistung erfuellt, ausschließlich die durch diesen Artikel 10a geschaffene Koordinierungsregelung anzuwenden ist.


Urteil des Gerichtshofes (Dritte Kammer) vom 11. Juni 1998. - Vera A. Partridge gegen Adjudication Officer. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Social Security Commissioner - Vereinigtes Königreich. - Soziale Sicherheit - Breitragsunabhängige Sonderleistungen - Artikel 4 Absatz 2a, Artikel 5, Artikel 10a und Anhang VI der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 - Pflegegeld für Behinderte - Mangelnde Exportierbarkeit. - Rechtssache C-297/96.

Entscheidungsgründe:

1 Der Social Security Commissioner hat mit Beschluß vom 2. September 1996, beim Gerichtshof eingegangen am 11. September 1996, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 (ABl. L 230, S. 6) geänderten und aktualisierten Fassung (im folgenden: Verordnung Nr. 1408/71), geändert durch die Verordnung (EWG) Nr. 1247/92 des Rates vom 30. April 1992 (ABl. L 136, S. 1), zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen Frau Partridge, einer britischen Staatsangehörigen (im folgenden: Klägerin), und dem Adjudication Officer, in dem es um die Gewährung der in den britischen Rechtsvorschriften vorgesehenen Attendance allowance (Pflegegeld für Behinderte; im folgenden: AA) geht.

Die nationale Regelung

3 Vor dem 1. April 1992 waren im britischen Recht zwei Leistungen bei Invalidität vorgesehen: die AA und die Mobility Allowance (Mobilitätsbeihilfe; im folgenden: MA).

4 Am 1. April 1992 wurde durch den Disability Living Allowance and Disability Working Allowance Act 1991 (Gesetz von 1991 über die Unterhaltsbeihilfe für Behinderte und die Beschäftigungsbeihilfe für Behinderte) die "disability living allowance" (Unterhaltsbeihilfe für Behinderte; im folgenden: DLA) geschaffen, um die es im Urteil vom 4. November 1997 in der Rechtssache C-20/96 (Snares, Slg. 1997, I-6057) ging. Die DLA hat zwei Bestandteile: einen Pflegebestandteil, der für pflegebedürftige Personen bestimmt ist und der früheren AA entspricht, und einen Mobilitätsbestandteil, der für Personen bestimmt ist, deren Gehfähigkeit beeinträchtigt ist, und der früheren MA entspricht. Beim Pflegebestandteil wird je nach der Art der Behinderung der Person und dem Grad der Pflegebedürftigkeit einer von drei und beim Mobilitätsbestandteil je nach Art und Umfang der Beeinträchtigung der Gehfähigkeit einer von zwei verschiedenen Sätzen gezahlt. Die ersten beiden Sätze des Pflegebestandteils entsprechen den Sätzen der AA, der erste Satz des Mobilitätsbestandteils entspricht dem der MA.

5 Mit Wirkung vom 1. April 1992 wurden bereits gewährte Pflegegelder bei Empfängern unter 65 Jahren und Mobilitätsbeihilfen in den Pflege- und Mobilitätsbestandteil der DLA umgewandelt. Ab diesem Zeitpunkt wurden daher keine neuen Pflegegelder oder Mobilitätsbeihilfen mehr gewährt, mit Ausnahme des Pflegegeldes für Empfänger im Alter von über 65 Jahren. In diesem letztgenannten Fall wird das Pflegegeld, das früher durch den Social Security Act 1975 geregelt wurde, auf der Grundlage von Section 64(1) des Social Security Contributions and Benefits Act 1992 (Gesetz von 1992 über Sozialversicherungsbeiträge und -leistungen) und der Social Security (Attendance Allowance) Regulations 1991 (Sozialversicherungsverordnung von 1991 über die Gewährung von Pflegegeld) gewährt.

6 Die AA ist ebenso wie die DLA und früher die MA eine beitragsunabhängige Leistung, die keine Arbeitsunfähigkeit voraussetzt und ungeachtet der Bedürftigkeit gewährt wird. Wer sie verlangt, muß aber bestimmte Voraussetzungen in bezug auf den Wohnort und die Anwesenheit in Großbritannien erfuellen.

7 Regulation 2(1) und (2) der Social Security (Attendance Allowance) Regulations 1991 sieht vor:

"(1) Vorbehaltlich der nachfolgenden Bestimmungen dieser Regulation bestehen die vorgeschriebenen Voraussetzungen im Sinne von [Section 64(1) des Social Security Contributions and Benefits Act 1992] in bezug auf den Wohnort und die Anwesenheit in Großbritannien für jede Person und jeden Tag darin, daß diese

a) an diesem Tag i) ihren Wohnsitz in Großbritannien hat und ii) sich in Großbritannien befindet und

iii) sich in den 52 Wochen, die diesem Tag unmittelbar vorausgehen, für einen Zeitraum oder für mehrere zusammengerechnete Zeiträume von nicht weniger als 26 Wochen in Großbritannien befunden hat und

...

(2) Im Rahmen von Abschnitt (1)(a)(ii) und (iii) wird eine Person, auch wenn sie sich an einem bestimmten Tag nicht in Großbritannien befindet, so behandelt, als ob sie sich in Großbritannien befände, wenn ihre Abwesenheit nur darauf beruht, daß an diesem Tag

...

d) ihre Abwesenheit von Großbritannien einem vorübergehenden Zweck dient und bei ihrem Beginn gedient hat und nicht mehr als 26 Wochen ununterbrochen angedauert hat oder

e) ihre Abwesenheit von Großbritannien vorübergehender Natur ist und speziell dem Zweck dient, wegen Invalidität oder einer Behinderung behandelt zu werden, die begann, bevor sie Großbritannien verließ, wenn der Secretary of State bestätigt hat, daß es mit der ordnungsgemässen Durchführung des Gesetzes in Einklang steht, daß sie, vorbehaltlich der Erfuellung der vorgenannten Voraussetzung in diesem Unterabschnitt, so behandelt wird, als ob sie sich in Großbritannien befände."

Die Gemeinschaftsregelung

8 Vor dem 1. Juni 1992, an dem die Verordnung Nr. 1247/92 in Kraft trat, hieß es in Artikel 4 der Verordnung Nr. 1408/71:

"(1) Diese Verordnung gilt für alle Rechtsvorschriften über Zweige der sozialen Sicherheit, die folgende Leistungsarten betreffen:

...

b) Leistungen bei Invalidität einschließlich der Leistungen, die zur Erhaltung oder Besserung der Erwerbsfähigkeit bestimmt sind,

...

(2) Diese Verordnung gilt für die allgemeinen und die besonderen, die auf Beiträgen beruhenden und die beitragsfreien Systeme der sozialen Sicherheit...

...

(4) Diese Verordnung ist [nicht] auf die Sozialhilfe... anzuwenden."

9 In Artikel 5 der Verordnung Nr. 1408/71 hieß es:

"Die Mitgliedstaaten geben in Erklärungen, die gemäß Artikel 97 notifiziert und veröffentlicht werden, die Rechtsvorschriften und Systeme, die unter Artikel 4 Absätze 1 und 2 fallen,... an."

10 In Abschnitt L (Vereinigtes Königreich) der Aktualisierung der Erklärungen der Mitgliedstaaten zu Artikel 5 der Verordnung Nr. 1408/71 (ABl. 1986, C 338, S. 1) wird die Regelung über die AA erwähnt.

11 Schließlich war in Artikel 10 der Verordnung Nr. 1408/71 vorgesehen:

"(1) Die Geldleistungen bei Invalidität, Alter oder für die Hinterbliebenen, die Renten bei Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten und die Sterbegelder, auf die nach den Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten Anspruch erworben worden ist, dürfen, sofern in dieser Verordnung nichts anderes bestimmt ist, nicht deshalb gekürzt, geändert, zum Ruhen gebracht, entzogen oder beschlagnahmt werden, weil der Berechtigte im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats als des Staates wohnt, in dessen Gebiet der zur Zahlung verpflichtete Träger seinen Sitz hat.

..."

12 Durch die auf der Grundlage der Artikel 51 und 235 EWG-Vertrag erlassene Verordnung Nr. 1247/92 wurde in Artikel 4 der Verordnung Nr. 1408/71 ein Absatz 2a eingefügt, der wie folgt lautet:

"(2a) Diese Verordnung gilt auch für beitragsunabhängige Sonderleistungen, die unter andere als die in Absatz 1 erfassten oder die nach Absatz 4 ausgeschlossenen Rechtsvorschriften oder Systeme fallen, sofern sie

a) entweder in Versicherungsfällen, die den in Absatz 1 Buchstaben a) bis h) aufgeführten Zweigen entsprechen, ersatzweise, ergänzend oder zusätzlich gewährt werden

b) oder allein zum besonderen Schutz der Behinderten bestimmt sind."

13 Gleichzeitig wurde Artikel 5 der Verordnung Nr. 1408/71 dahin gehend geändert, daß sich die von den Mitgliedstaaten gemäß diesem Artikel abgegebene Erklärung auch auf "die in Artikel 4 Absatz 2a genannten beitragsunabhängigen Sonderleistungen" erstreckt. Das Vereinigte Königreich hat in bezug auf diese Leistungen keine Erklärung abgegeben.

14 Ausserdem wurde durch die Verordnung Nr. 1247/92 folgender Artikel 10a eingefügt:

"(1) Ungeachtet der Bestimmungen in Artikel 10 und Titel III erhalten die Personen, für die diese Verordnung gilt, die in Artikel 4 Absatz 2a aufgeführten beitragsunabhängigen Sonderleistungen in bar ausschließlich in dem Wohnmitgliedstaat gemäß dessen Rechtsvorschriften, sofern diese Leistungen in Anhang IIa aufgeführt sind. Diese Leistungen werden vom Träger des Wohnorts zu seinen Lasten gewährt.

(2) Der Träger eines Mitgliedstaats, nach dessen Rechtsvorschriften der Anspruch auf in Absatz 1 genannte Leistungen von der Zurücklegung von Beschäftigungszeiten, Zeiten der selbständigen beruflichen Tätigkeit oder Wohnzeiten abhängig ist, berücksichtigt, soweit erforderlich, die in einem anderen Mitgliedstaat zurückgelegten Beschäftigungszeiten, Zeiten der selbständigen beruflichen Tätigkeit oder Wohnzeiten, als wenn es sich um im ersten Staat zurückgelegte Zeiten handelte.

(3) Ist nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats der Anspruch auf eine Zusatzleistung nach Absatz 1 vom Bezug einer Leistung nach einem der Buchstaben a) bis h) des Artikels 4 Absatz 1 abhängig und wird keine Leistung dieser Art nach diesen Rechtsvorschriften geschuldet, wird jede nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats gewährte entsprechende Leistung im Hinblick auf die Gewährung der Zusatzleistung als nach den Rechtsvorschriften des ersten Mitgliedstaats gewährte Leistung betrachtet.

(4) Ist nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats die Gewährung von Leistungen an Invalide oder Behinderte nach Absatz 1 davon abhängig, daß die Invalidität oder die Behinderung zuerst im Gebiet dieses Mitgliedstaats festgestellt wurde, so gilt diese Voraussetzung als erfuellt, wenn die Feststellung zum ersten Mal im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats erfolgte."

15 Die AA ist in Anhang IIa Abschnitt L (Vereinigtes Königreich) Buchstabe d der Verordnung Nr. 1408/71 aufgeführt.

16 Nach Artikel 89 der Verordnung Nr. 1408/71 schließlich sind die Besonderheiten bei der Anwendung der Rechtsvorschriften bestimmter Mitgliedstaaten im Anhang VI aufgeführt. In diesem Anhang in der im Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung heisst es in Abschnitt L (Vereinigtes Königreich) Nummer 11:

"Für die Anwendung der Artikel 10... der Verordnung gilt das einem Arbeitnehmer oder Selbständigen nach den Rechtsvorschriften des Vereinigten Königreichs gewährte Pflegegeld (attendance allowance) als Leistung bei Invalidität."

17 Seit dem Erlaß der Verordnung (EWG) Nr. 1249/92 des Rates vom 30. April 1992 zur Änderung der Verordnung Nr. 1408/71 und zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 über die Durchführung der Verordnung Nr. 1408/71 (ABl. L 136, S. 28) sieht Anhang VI Abschnitt L Nummer 5 der Verordnung Nr. 1408/71 ausserdem vor:

"Für die Anwendung des Artikels 10a Absatz 2 auf die Vorschriften über den Anspruch auf Pflegegeld (attendance allowance)... werden Zeiten der Beschäftigung, der selbständigen Tätigkeit oder des Aufenthalts im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats als des Vereinigten Königreichs in dem Masse berücksichtigt, wie dies zur Erfuellung der Bedingungen über den Aufenthalt im Vereinigten Königreich erforderlich ist, und zwar für die Zeit vor dem Tag, an dem der Anspruch auf die betreffende Zulage entsteht."

Der Ausgangsrechtsstreit

18 Die Klägerin erhielt im Vereinigten Königreich eine staatliche Altersrente und eine Beamtenpension, als der Adjudication Officer ihr im Alter von 83 Jahren mit Wirkung vom 21. Juli 1992 eine AA zum niedrigen Satz bewilligte.

19 Am 27. Juli 1993 verließ sie das Vereinigte Königreich, um sich mit ihrem Sohn in Frankreich niederzulassen. Dort verstarb sie am 11. November 1996.

20 Am 29. Juli 1993 beschloß der Adjudication Officer, der Klägerin die AA zu entziehen, da er der Ansicht war, daß ihre Abwesenheit vom Vereinigten Königreich keine nur vorübergehende sein sollte und daß daher eine der Voraussetzungen von Regulation 2(1) und (2) der Social Security (Attendance Allowance) Regulations 1991 nicht mehr erfuellt sei. Diese Entscheidung wurde am 20. September 1993 bestätigt.

21 Am 11. Juli 1994 wies das Blackpool Social Security Appeal Tribunal den von der Klägerin gegen diese Entscheidung eingelegten Rechtsbehelf mit der Begründung zurück, daß die Klägerin seit dem 28. Juli 1993 nicht mehr das Kriterium der Regulation 2(1)(a)(i) der Social Security (Attendance Allowance) Regulations 1991 erfuelle. In dieser Entscheidung wurde die Gemeinschaftsregelung nicht erwähnt.

22 Die Klägerin rief daraufhin den Social Security Commissioner an, der die Entscheidung des Blackpool Social Security Appeal Tribunal aufhob, da sich dieses nicht zur Auswirkung des Gemeinschaftsrechts auf den Ausgang des Rechtsstreits geäussert hatte.

23 Bezueglich des Gemeinschaftsrechts weist das vorlegende Gericht zunächst darauf hin, daß unstreitig sei, daß die Klägerin in den Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 falle, wie er in deren Artikel 2 festgelegt sei.

24 Sodann bemerkt das Gericht, daß die Klägerin, wenn ihr die AA gewährt worden wäre und sie Großbritannien vor dem 1. Juni 1992, dem Tag des Inkrafttretens der Verordnung Nr. 1247/92, verlassen hätte, gemäß Artikel 10 der Verordnung Nr. 1408/71 weiterhin Anspruch auf Pflegegeld gehabt hätte; das Pflegegeld habe nämlich nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes (vgl. Urteil vom 20. Juni 1991 in der Rechtssache C-356/89, Newton, Slg. 1991, I-3017) nach Anhang VI Abschnitt L Nummer 11 der Verordnung Nr. 1408/71 und nach der Erklärung des Vereinigten Königreichs gemäß Artikel 5 der Verordnung Nr. 1408/71, die das Pflegegeld unter den Systemen nenne, die unter Artikel 4 Absatz 1 fielen, als Leistung bei Invalidität im Sinne von Artikel 4 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 gegolten.

25 Da vorliegend der Pflegegeldanspruch der Klägerin nach dem 1. Juni 1992 entstanden sei, seien ihre Rechte aus der Verordnung Nr. 1408/71 anhand dieser Verordnung in der durch die Verordnung Nr. 1247/92 geänderten Fassung zu beurteilen, ohne daß sich die Klägerin auf die Übergangsbestimmungen der Verordnung Nr. 1247/92 berufen könne, nach denen diese Verordnung die Rechte von Personen unberührt lasse, die vor dem Inkrafttreten der Verordnung bereits die Leistung erhalten oder die Voraussetzungen für ihren Erhalt erfuellt hätten.

26 Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts befindet sich die Klägerin weitgehend in derselben Lage wie Herr Snares, auch wenn es in jener Rechtssache um die DLA gehe. Sollte der Gerichtshof daher im Urteil Snares antworten, daß das Recht, die DLA gemäß Artikel 10 Absatz 1 zu exportieren, ungeachtet der Einbeziehung dieser Leistung in die Kategorie der beitragsunabhängigen Sonderleistungen aufrechterhalten werde, so müsse auch die Klägerin das Recht haben, die AA zu exportieren. Sollte der Gerichtshof dagegen aufgrund von Artikel 10a der Verordnung Nr. 1408/71 in der geänderten Fassung darauf erkennen, daß die DLA im Fall von Herrn Snares nicht exportiert werden könne, so sei der Adjudication Officer der Ansicht, daß von diesem Ergebnis auch bei der AA im Fall der Klägerin ausgegangen werden müsse, und zwar trotz der Erklärung des Vereinigten Königreichs gemäß Artikel 5 der Verordnung Nr. 1408/71 und des Anhangs VI Abschnitt L Nummer 11.

27 Aufgrund dieser Erwägungen hat der Social Security Commissioner das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage vorgelegt:

Würden sich die Antworten auf die in der Rechtssache C-20/96 (Snares/ Adjudication Officer) vorgelegten Fragen im Fall eines Klägers, der nach den Rechtsvorschriften des Vereinigten Königreichs als Arbeitnehmer oder Selbständiger Anspruch auf die Attendance allowance hat, im Licht der Erklärung des Vereinigten Königreichs vom 31. Dezember 1986 gemäß Artikel 5 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates und von Nummer 11 des Abschnitts O (früher Abschnitt L) des Anhangs VI dieser Verordnung ändern und, wenn ja, inwiefern?

Zur Vorlagefrage

28 Im Urteil Snares (a. a. O.) hat der Gerichtshof für Recht erkannt, daß Artikel 10a der Verordnung Nr. 1408/71, geändert durch die Verordnung Nr. 1247/92, in Verbindung mit Anhang IIa dahin auszulegen ist, daß die DLA in seinen Geltungsbereich fällt und folglich eine beitragsunabhängige Sonderleistung im Sinne von Artikel 4 Absatz 2a der Verordnung darstellt, so daß auf den Fall einer Person, die nach dem 1. Juni 1992, dem Tag des Inkrafttretens der Verordnung Nr. 1247/92, die Voraussetzungen für die Gewährung dieser Leistung erfuellt, ausschließlich die durch Artikel 10a geschaffene Koordinierungsregelung anzuwenden ist.

29 Der Gerichtshof hat in diesem Urteil ausserdem für Recht erkannt, daß die Prüfung der Verordnung Nr. 1247/92, soweit diese hinsichtlich der DLA die Anwendung des in Artikel 10 der Verordnung Nr. 1408/71 vorgesehenen Grundsatzes der Aufhebung der Wohnortklauseln ausschließt, nichts ergeben hat, was ihre Gültigkeit in Frage stellen könnte.

30 Nach Artikel 10a der Verordnung Nr. 1408/71 in der Fassung der Verordnung Nr. 1247/92 erhalten die Personen, für die diese Verordnung gilt, die in Artikel 4 Absatz 2a aufgeführten beitragsunabhängigen Sonderleistungen in bar gemäß den dort vorgesehenen Koordinierungsregeln, sofern diese Leistungen in Anhang IIa aufgeführt sind. Dies trifft auf die AA zu, die in Abschnitt L (Vereinigtes Königreich) Buchstabe d des Anhangs aufgeführt ist.

31 Führt der Gemeinschaftsgesetzgeber eine Regelung wie die über die AA in Anhang IIa der Verordnung Nr. 1408/71 auf, so ergibt sich daraus, daß die auf der Grundlage dieser Regelung gewährten Leistungen beitragsunabhängige Sonderleistungen sind, die unter Artikel 10a der Verordnung Nr. 1408/71 fallen (vgl. u. a. Urteil Snares, Randnr. 30).

32 Zudem ergibt sich aus dem Wortlaut von Artikel 10a, daß die von ihm erfassten Leistungen im übrigen unter Artikel 4 Absatz 2a der Verordnung Nr. 1408/71 in der Fassung der Verordnung Nr. 1247/92 fallen (vgl. Urteil Snares, Randnr. 31).

33 Daher unterliegt eine Leistung wie die AA wegen ihrer Erwähnung in Anhang IIa den Koordinierungsregeln des Artikels 10a und stellt somit eine beitragsunabhängige Sonderleistung im Sinne von Artikel 4 Absatz 2a dar (vgl. Urteil Snares, Randnr. 32).

34 Diese Auslegung wird durch die dritte, die vierte, die fünfte und die sechste Begründungserwägung der Verordnung Nr. 1247/92 bestätigt, aus denen hervorgeht, daß der Gesetzgeber eine spezielle Koordinierungsregelung schaffen wollte, die den besonderen Merkmalen bestimmter Leistungen Rechnung trägt, die sowohl der Sozialhilfe als auch der sozialen Sicherheit zuzuordnen sind und nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes in bezug auf Arbeitnehmer, die bereits dem System der sozialen Sicherheit des Staates angehören, dessen Rechtsvorschriften in Anspruch genommen werden, als Leistungen der sozialen Sicherheit angesehen wurden (vgl. u. a. Urteile Newton und Snares, a. a. O.). Wie der Generalanwalt in Nummer 24 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, stellt eine Leistung wie die AA zweifellos eine solche Leistung dar.

35 Im übrigen steht der Umstand, daß das Vereinigte Königreich keine besondere Erklärung gemäß Artikel 5 der Verordnung Nr. 1408/71 in der Fassung der Verordnung Nr. 1247/92 abgegeben hat, wonach die Mitgliedstaaten die in Artikel 4 Absatz 2a genannten beitragsunabhängigen Sonderleistungen angeben, der Qualifizierung der AA als beitragsunabhängige Sonderleistung im Sinne der letztgenannten Bestimmung nicht entgegen (vgl. Urteil Snares, Randnr. 34).

36 Wie der Gerichtshof in Randnummer 35 des Urteils Snares ausgeführt hat, ist nämlich die Nichterwähnung einer Regelung in der von einem Mitgliedstaat abgegebenen Erklärung in diesem Zusammenhang nicht entscheidend, so daß daraus nicht ohne weiteres folgt, daß diese Regelung nicht unter die fragliche Bestimmung fällt.

37 Eine solche Qualifizierung kann auch nicht durch die Tatsache in Frage gestellt werden, daß die AA in Anhang VI Abschnitt L Nummer 11 der Verordnung Nr. 1408/71 für die Anwendung des Artikels 10 dieser Verordnung als Leistung bei Invalidität definiert wird und nach der Erklärung des Vereinigten Königreichs gemäß Artikel 5 unter Artikel 4 Absatz 1 fällt.

38 Was zunächst die Definition in Anhang VI Abschnitt L Nummer 11 betrifft, so ergibt sich aus ihrem Wortlaut, daß die Qualifizierung der AA als Leistung bei Invalidität für die Anwendung des Artikels 10 der Verordnung Nr. 1408/71 gilt, ohne daß deswegen ausgeschlossen wird, daß für die gleiche Leistung gegebenenfalls Artikel 10a der Verordnung gelten kann.

39 Gemäß Artikel 2 der Verordnung Nr. 1247/92 lässt diese Verordnung die Rechte von Personen unberührt, die vor dem Inkrafttreten der Verordnung bereits die Leistung erhielten (Absatz 1) oder die Voraussetzungen für ihren Erhalt erfuellten (Absatz 2). Auch wenn also Anhang VI Abschnitt L Nummer 11 der Verordnung Nr. 1408/71 die Personen erfasst, die vor dem Inkrafttreten der Verordnung Nr. 1247/92 die AA erhielten oder die Voraussetzungen für ihre Gewährung erfuellten und sich weiterhin auf den in Artikel 10 der Verordnung Nr. 1408/71 vorgesehenen Grundsatz der Aufhebung der Wohnortklauseln berufen können, so bestimmt sich die Rechtslage der Personen, die die Voraussetzungen für den Anspruch auf die AA seit dem 1. Juni 1992 erfuellen, wie sich aus dem vorliegenden Urteil ergibt, doch nach Artikel 10a der Verordnung Nr. 1408/71.

40 Diese Auslegung, wonach die AA je nach dem Zeitpunkt des Eintritts der Behinderung unter die Regelung des Artikels 10 oder unter die des Artikels 10a der Verordnung Nr. 1408/71 fällt, wird durch Anhang VI Abschnitt L Nummer 5 in der durch die Verordnung Nr. 1249/92 geänderten Fassung bestätigt, der ausdrücklich den Fall der Anwendung des Artikels 10a Absatz 2 auf die Vorschriften über den Anspruch auf die AA vorsieht.

41 Was sodann die Erklärung des Vereinigten Königreichs gemäß Artikel 5 der Verordnung Nr. 1408/71 betrifft, so kann der Umstand, daß sie anläßlich des Inkrafttretens der Verordnung Nr. 1247/92 nicht angepasst worden ist, nicht die Auslegung der Vorschriften dieser Verordnung in Frage stellen, wonach eine Person wie die Klägerin, deren Behinderung, die zur Zahlung der AA geführt hat, nach dem Inkrafttreten der Verordnung Nr. 1247/92 eingetreten ist, ausschließlich den Vorschriften dieser letztgenannten Verordnung unterliegt.

42 Unter diesen Umständen ist auf die vorgelegte Frage zu antworten, daß Artikel 10a der Verordnung Nr. 1408/71 in der Fassung der Verordnung Nr. 1247/92 in Verbindung mit Anhang IIa dahin auszulegen ist, daß die AA in seinen Geltungsbereich fällt und folglich eine beitragsunabhängige Sonderleistung im Sinne von Artikel 4 Absatz 2a der Verordnung darstellt, so daß auf den Fall einer Person, die - wie die Klägerin des Ausgangsverfahrens - nach dem 1. Juni 1992, dem Tag des Inkrafttretens der Verordnung Nr. 1247/92, die Voraussetzungen für die Gewährung dieser Leistung erfuellt, ausschließlich die durch diesen Artikel 10a geschaffene Koordinierungsregelung anzuwenden ist.

Kostenentscheidung:

Kosten

43 Die Auslagen der Regierung des Vereinigten Königreichs, des Rates und der Kommission, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

(Dritte Kammer)

auf die ihm vom Social Security Commissioner mit Beschluß vom 2. September 1996 vorgelegte Frage für Recht erkannt:

Artikel 10a der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 geänderten und aktualisierten Fassung, geändert durch die Verordnung (EWG) Nr. 1247/92 des Rates vom 30. April 1992, in Verbindung mit Anhang IIa ist dahin auszulegen, daß die Attendance allowance in seinen Geltungsbereich fällt und folglich eine beitragsunabhängige Sonderleistung im Sinne von Artikel 4 Absatz 2a der Verordnung darstellt, so daß auf den Fall einer Person, die - wie die Klägerin des Ausgangsverfahrens - nach dem 1. Juni 1992, dem Tag des Inkrafttretens der Verordnung Nr. 1247/92, die Voraussetzungen für die Gewährung dieser Leistung erfuellt, ausschließlich die durch diesen Artikel 10a geschaffene Koordinierungsregelung anzuwenden ist.

Ende der Entscheidung

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