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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 15.10.1996
Aktenzeichen: C-298/94
Rechtsgebiete: RL 77/187, EWGVtr, BGB


Vorschriften:

RL 77/187 Art. 1 Abs. 1
EWGVtr Art. 177
BGB § 613a
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Artikel 1 Absatz 1 der Richtlinie 77/187 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Betriebsteilen ist dahin auszulegen, daß der Begriff "Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Betriebsteilen" nicht die Übertragung von Verwaltungsaufgaben einer Gemeinde auf eine Verwaltungsgemeinschaft erfasst.

Die Richtlinie soll nämlich die Arbeitnehmer vor den Nachteilen schützen, die sich für sie aus den Änderungen in den Unternehmensstrukturen ergeben können, welche durch die wirtschaftliche Entwicklung auf einzelstaatlicher und gemeinschaftlicher Ebene bedingt und u. a. Folge des Übergangs von Unternehmen, Betrieben oder Betriebsteilen auf einen anderen Inhaber durch vertragliche Übertragung oder durch Verschmelzung sind; in den Anwendungsbereich der Richtlinie fällt dagegen nicht die strukturelle Neuordnung der öffentlichen Verwaltung wie die Übertragung von Verwaltungsaufgaben von einer öffentlichen Verwaltung auf eine andere.


Urteil des Gerichtshofes vom 15. Oktober 1996. - Annette Henke gegen Gemeinde Schierke und Verwaltungsgemeinschaft Brocken. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Arbeitsgericht Halberstadt - Deutschland. - Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen - Übertragung bestimmter Verwaltungsaufgaben einer Gemeinde auf eine dazu von mehreren Gemeinden gegründete Körperschaft. - Rechtssache C-298/94.

Entscheidungsgründe:

1 Das Arbeitsgericht Halberstadt hat mit Beschluß vom 19. Oktober 1994, beim Gerichtshof eingegangen am 4. November 1994, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag zwei Fragen nach der Auslegung des Artikels 1 Absatz 1 der Richtlinie 77/187/EWG des Rates vom 14. Februar 1977 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Betriebsteilen (ABl. L 61, S. 26, nachstehend: Richtlinie) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen Annette Henke (Klägerin) und der Gemeinde Schierke sowie der Verwaltungsgemeinschaft "Brocken" wegen der Entlassung der Klägerin.

3 Die Gemeindeordnung für das Land Sachsen-Anhalt vom 5. Oktober 1993 (GVBl. LSA Nr. 43/1993, S. 568) in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über kommunale Gemeinschaftsarbeit und andere kommunalrechtliche Vorschriften (GVBl. LSA Nr. 7/1994, S. 164) sieht in ihrem § 75 vor:

"(1) Benachbarte Gemeinden eines Landkreises können zur Stärkung ihrer Verwaltungskraft durch öffentlich-rechtliche Vereinbarung eine Verwaltungsgemeinschaft bilden.

..."

§ 77 der Gemeindeordnung bestimmt weiterhin:

"(1) Die Verwaltungsgemeinschaft erfuellt die Aufgaben des übertragenen Wirkungskreises der Mitgliedsgemeinden, soweit nicht Bundesrecht entgegensteht. Sie erfuellt auch diejenigen Aufgaben des übertragenen Wirkungskreises, deren Wahrnehmung an eine bestimmte Einwohnergrösse von Gemeinden gebunden ist, sofern die Verwaltungsgemeinschaft diese Einwohnergrösse aufweist...

(2) Die Verwaltungsgemeinschaft führt mit Zustimmung des Gemeinschaftsausschusses Aufgaben des eigenen Wirkungskreises der Mitgliedsgemeinden durch, die alle Mitgliedsgemeinden der Verwaltungsgemeinschaft zur Erfuellung übertragen. Sie kann für einzelne Mitgliedsgemeinden Aufgaben übernehmen, die diese mit Zustimmung des Gemeinschaftsausschusses übertragen..."

4 Die Klägerin war bei der Gemeinde Schierke vom 1. Mai 1992 an als Sekretärin des Bürgermeisters angestellt. Am 1. Juli 1994 bildete diese Gemeinde mit anderen Gemeinden gemäß §§ 75 ff. der Gemeindeordnung für das Land Sachsen-Anhalt die Verwaltungsgemeinschaft "Brocken", auf die sie Verwaltungsaufgaben übertrug. Mit Schreiben vom 5. Juli 1994 kündigte die Gemeinde Schierke das Arbeitsverhältnis mit der Klägerin.

5 Diese erhob daraufhin Klage zum Arbeitsgericht Halberstadt und beantragte, festzustellen, daß diese Kündigung unwirksam sei, hilfsweise, daß ihre Entlassung unter Verstoß gegen die anwendbaren Rechtsvorschriften erfolgt sei. Sie macht vor dem nationalen Gericht im wesentlichen geltend, daß ihr Arbeitsverhältnis nach § 613a BGB auf die Verwaltungsgemeinschaft "Brocken" übergegangen und daher nicht aufgelöst worden sei.

6 Da § 613a BGB die Richtlinie in das deutsche Recht umgesetzt hat, stellt sich nach Ansicht des vorlegenden Gerichts die Frage nach der Tragweite der Richtlinie, deren Artikel 1 Absatz 1 lautet:

"Diese Richtlinie ist auf den Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Betriebsteilen auf einen anderen Inhaber durch vertragliche Übertragung oder durch Verschmelzung anwendbar."

7 Das Gericht hat daher beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1. Handelt es sich um einen Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Betriebsteilen im Sinne des Artikels 1 Absatz 1 der Richtlinie 77/187/EWG des Rates vom 14. Februar 1977, wenn infolge der Bildung einer Verwaltungsgemeinschaft gemäß § 75 Absatz 1 der Gemeindeordnung für das Land Sachsen-Anhalt vom 5. Oktober 1993 (GO LSA), GVBl. LSA, S. 568 ff., diese die Aufgaben des übertragenen Wirkungskreises der Mitgliedsgemeinden gemäß § 77 Absatz 1 GO LSA erfuellt und die nach Maßgabe des § 77 Absatz 2 GO LSA übertragenen Aufgaben des eigenen Wirkungskreises der Mitgliedsgemeinden durchführt?

2. Falls die Frage 1 bejaht wird:

Beruht der Übergang auf einer vertraglichen Vereinbarung im Sinne des Artikels 1 Absatz 1 der Richtlinie 77/187/EWG, weil die Verwaltungsgemeinschaft durch öffentlich-rechtliche Vereinbarung gebildet worden ist?

Zur ersten Frage

8 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Artikel 1 Absatz 1 der Richtlinie dahin auszulegen ist, daß der Begriff "Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Betriebsteilen" die Übertragung von Verwaltungsaufgaben einer Gemeinde auf eine Verwaltungsgemeinschaft erfasst, wie sie im Ausgangsrechtsstreit erfolgt ist.

9 Nach Ansicht der Klägerin ist die Richtlinie in einem solchen Fall anwendbar, da Einheiten wie die Gemeinde Schierke zumindest teilweise wirtschaftliche Tätigkeiten ausübten. Ausserdem gewähre die Richtlinie nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes auch dann Schutz, wenn die Übertragung nur einen Betriebsteil betreffe.

10 Die Kommission schlägt als Antwort vor, daß ein Vorgang, der durch eine Übertragung sämtlicher Verwaltungsaufgaben einer Einheit einschließlich der dazugehörigen sächlichen Mittel sowie durch einen Wechsel des Arbeitgebers gekennzeichnet sei, einen "Übergang" im Sinne der Richtlinie darstelle. Eine öffentlich-rechtliche Einheit sei allerdings nur insoweit ein "Unternehmen" im Sinne der Richtlinie, als sie keine hoheitlichen Aufgaben wahrnehme und als sie Personen beschäftige, die nach dem nationalen Recht als Arbeitnehmer geschützt seien.

11 Nach Ansicht der Regierung des Vereinigten Königreichs kann nur dann von einem "Übergang" im Sinne der Richtlinie die Rede sein, wenn der Vorgang sich auf eine Einheit beziehe, die dabei ihre Identität bewahre, wenn also ein Übergang der Räumlichkeiten, der Aktiva oder der Arbeitnehmer stattfinde. Ausserdem falle eine Kommunalbehörde nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie, wenn sie hauptsächlich oder ausschließlich Tätigkeiten ausübe, wie sie für den öffentlichen Dienst typisch seien.

12 Die deutsche Regierung schlägt als Antwort vor, daß ein Vorgang wie der im Ausgangsverfahren streitige keinen "Unternehmensübergang" im Sinne der Richtlinie darstelle. Gemeinden seien keine "Unternehmen" oder "Betriebe" im Sinne der Richtlinie, da sie keine wirtschaftliche Tätigkeit ausübten und nicht in den Anwendungsbereich des Vertrages fielen. Zudem beinhalte die Bildung einer Verwaltungsgemeinschaft keinen "Übergang" im Sinne der Richtlinie, da die Tätigkeit der Gemeinden nicht fortgeführt werde, sondern eine neue Einheit geschaffen werde, die an die Stelle der Gemeinden trete.

13 Wie sich aus der Präambel der Richtlinie, insbesondere der ersten Begründungserwägung, ergibt, soll diese die Arbeitnehmer vor den Nachteilen schützen, die sich für sie aus den Änderungen in den Unternehmensstrukturen ergeben können, welche durch die wirtschaftliche Entwicklung auf einzelstaatlicher und gemeinschaftlicher Ebene bedingt und u. a. Folge des Übergangs von Unternehmen, Betrieben oder Betriebsteilen auf einen anderen Inhaber durch vertragliche Übertragung oder durch Verschmelzung sind.

14 Somit stellt die strukturelle Neuordnung der öffentlichen Verwaltung oder die Übertragung von Verwaltungsaufgaben von einer öffentlichen Verwaltung auf eine andere keinen "Unternehmensübergang" im Sinne der Richtlinie dar.

15 Diese Auslegung wird im übrigen durch die Begriffe bestätigt, die in den meisten Sprachfassungen verwendet werden, um den Gegenstand der Übertragung (virksomhed, Unternehmen, entreprise, impresa, **********, onderneming, empresa, yritys, företag und: bedrift, Betrieb, busineß, établissement, stabilimento, ***********, vestiging, estabelecimento, centro de actividad) oder den Erwerber (indehaver, Inhaber, chef d' entreprise, imprenditore, **************, ondernemer, empresário, empresario) zu bezeichnen, und steht nicht im Widerspruch zu den anderen Sprachfassungen dieser Regelung.

16 Wie sich aus den Akten ergibt, sollte durch die Neuordnung, von der mehrere Gemeinden des Landes Sachsen-Anhalt, darunter die Gemeinde Schierke, betroffen waren, u. a. die Durchführung der Verwaltungsaufgaben dieser Gemeinden verbessert werden. Dies fand seinen Niederschlag insbesondere in der Neuordnung der Verwaltungsstrukturen und der Übertragung von Verwaltungsaufgaben der Gemeinde Schierke auf eine eigens hierzu gebildete öffentlich-rechtliche Einheit, die Verwaltungsgemeinschaft "Brocken".

17 Nach dem Sachverhalt des Ausgangsverfahrens betraf die Übertragung, die zwischen der Gemeinde und der Verwaltungsgemeinschaft stattfand, offensichtlich nur hoheitliche Tätigkeiten. Selbst wenn diese Tätigkeiten wirtschaftliche Aspekte eingeschlossen haben sollten, wären diese nur von untergeordneter Bedeutung.

18 Somit ist auf die erste Vorlagefrage zu antworten, daß Artikel 1 Absatz 1 der Richtlinie dahin auszulegen ist, daß der Begriff "Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Betriebsteilen" nicht die Übertragung von Verwaltungsaufgaben einer Gemeinde auf eine Verwaltungsgemeinschaft erfasst, wie sie im Ausgangsrechtsstreit erfolgt ist.

Zur zweiten Frage

19 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Artikel 1 Absatz 1 der Richtlinie dahin auszulegen ist, daß der Begriff "vertragliche Übertragung" auf den Übergang eines Unternehmens anwendbar ist, der wie der in der ersten Frage beschriebene auf einer öffentlich-rechtlichen Vereinbarung beruht.

20 Angesichts der Antwort auf die erste Frage ist die zweite Frage gegenstandslos. Ihre Beantwortung erübrigt sich daher.

Kostenentscheidung:

Kosten

21 Die Auslagen der deutschen Regierung und der Regierung des Vereinigten Königreichs sowie der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

auf die ihm vom Arbeitsgericht Halberstadt mit Beschluß vom 19. Oktober 1994 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

Artikel 1 Absatz 1 der Richtlinie 77/187/EWG des Rates vom 14. Februar 1977 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Betriebsteilen ist dahin auszulegen, daß der Begriff "Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Betriebsteilen" nicht die Übertragung von Verwaltungsaufgaben einer Gemeinde auf eine Verwaltungsgemeinschaft erfasst, wie sie im Ausgangsrechtsstreit erfolgt ist.

Ende der Entscheidung

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