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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Beschluss verkündet am 16.07.1993
Aktenzeichen: C-307/93 R
Rechtsgebiete: EWGV, VerOEuGH


Vorschriften:

EWGV Art. 173
EWGV Art. 185
EWGV Art. 186
VerOEuGH Art. 83
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Die in Artikel 83 § 2 der Verfahrensordnung geforderte Dringlichkeit einer einstweiligen Anordnung ist danach zu beurteilen, ob eine einstweilige Entscheidung notwendig ist, um zu verhindern, daß dem Antragsteller durch den sofortigen Vollzug der Maßnahme, die Gegenstand der Klage in der Hauptsache ist, ein schwerer und nicht wiedergutzumachender Schaden entsteht.

Wird die Aussetzung des Vollzugs einer Verordnung beantragt, durch die die Anforderungen für den Ankauf bestimmter landwirtschaftlicher Erzeugnisse zur Intervention verschärft werden, so ist die Dringlichkeit der beantragten Maßnahme zur Vermeidung eines schweren und nicht wiedergutzumachenden Schadens nicht nachgewiesen, wenn der Antragsteller die von ihm geltend gemachte Gefahr eines Zusammenbruchs des fraglichen Marktes nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit dargetan hat und die Kommission, die diesen Markt ständig überwacht, über Mittel verfügt, mit denen sie erforderlichenfalls rasch eingreifen kann, um das Gleichgewicht des Marktes wieder herzustellen.


BESCHLUSS DES PRAESIDENTEN DES GERICHTSHOFES VOM 16. JULI 1993. - IRLAND GEGEN KOMMISSION DER EUROPAEISCHEN GEMEINSCHAFTEN. - RINDFLEISCH - GEMEINSAME MARKTORGANISATION - NICHTIGKEITSKLAGE - AUSSETZUNG DES VOLLZUGS. - RECHTSSACHE C-307/93 R.

Entscheidungsgründe:

1 Irland hat mit Klageschrift, die am 4. Juni 1993 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 173 Absatz 1 EWG-Vertrag Klage erhoben auf Nichtigerklärung der Verordnung (EWG) Nr. 685/93 der Kommission vom 24. März 1993 zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 859/89 mit Durchführungsbestimmungen für die allgemeinen und besonderen Interventionsmaßnahmen für Rindfleisch (ABl. L 73, S. 9).

2 Mit besonderem Schriftsatz, der am 13. Juni 1993 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, hat Irland weiterhin gemäß den Artikeln 185 und 186 EWG-Vertrag und Artikel 83 der Verfahrensordnung des Gerichtshofes beantragt, den Vollzug der angefochtenen Verordnung bis zur Entscheidung in der Hauptsache auszusetzen.

3 Mit Beschluß vom 5. Juli 1993 ist das Vereinigte Königreich im Verfahren der einstweiligen Anordnung zur Unterstützung der Anträge der Kommission als Streithelfer zugelassen worden.

4 Die Kommission hat am 30. Juni 1993 eine schriftliche Stellungnahme zu dem Antrag auf einstweilige Anordnung eingereicht; die mündlichen Ausführungen der Beteiligten einschließlich des Streithelfers sind am 5. Juli 1993 angehört worden.

5 Vor Prüfung der Begründetheit des Antrags auf einstweilige Anordnung ist der rechtliche Rahmen der gemeinsamen Marktorganisation für Rindfleisch kurz zu skizzieren.

6 Die gemeinsame Marktorganisation für Rindfleisch wurde durch die ° mehrfach geänderte ° Verordnung (EWG) Nr. 805/68 des Rates vom 27. Juni 1968 (ABl. L 148, S. 24) geschaffen, die, neben weiteren Maßnahmen zur Preisregelung, verschiedene Maßnahmen der Prämiengewährung und Intervention vorsieht.

7 Die Prämienregelung wurde im Zuge der Reform der gemeinsamen Agrarpolitik durch die Verordnung (EWG) Nr. 2066/92 vom 30. Juni 1992 (ABl. L 215, S. 49) grundlegend geändert, um der Neuorientierung dieser Politik und insbesondere der Senkung des Interventionspreises im Rindfleischsektor Rechnung zu tragen, die notwendig geworden war, um die angestrebte Stabilisierung der Landwirtschaft zu erreichen.

8 Die Interventionsmaßnahmen bestehen in Beihilfen zur privaten Lagerhaltung oder in Aufkäufen durch die Interventionsstellen. Nach Artikel 5 Absatz 2 der Verordnung Nr. 805/68 können diese Interventionsmaßnahmen "bei ausgewachsenen Rindern sowie frischem oder gekühltem Fleisch von diesen Tieren angewandt werden, das in Form von Schlachtkörpern, halben Schlachtkörpern, 'quartiers compensés' , Vordervierteln oder Hintervierteln angeboten wird und dem gemeinschaftlichen Handelsklassenschema nach der Verordnung (EWG) Nr. 1208/81 entspricht".

9 Die öffentliche Intervention umfasst drei Arten von Maßnahmen:

° die sogenannten normalen oder herkömmlichen Interventionsmaßnahmen mittels Ausschreibungen innerhalb der Grenzen einer für die ganze Gemeinschaft geltenden, von Jahr zu Jahr abnehmenden Hoechstmenge von 750 000 Tonnen für 1993 bis 350 000 Tonnen ab 1997; die Eröffnung dieser Interventionsankäufe liegt, sofern die erforderlichen Voraussetzungen gegeben sind, im Ermessen der Kommission, die im sogenannten Verwaltungsausschußverfahren beschließt;

° die als "Sicherheitsnetz" bezeichneten Interventionsmaßnahmen, die für die genannte Hoechstgrenze der Ankäufe nicht angerechnet werden und über deren Ergreifung die Kommission in eigener Zuständigkeit entscheidet;

° die besonderen Interventionsmaßnahmen für leichte Schlachtkörper männlicher Rinder (150 bis 200 kg), die nur innerhalb eines Zeitraums von drei Jahren (vom 1. Januar 1993 bis 31. Dezember 1995) und nur unter bestimmten Voraussetzungen ergriffen werden können.

10 Die Modalitäten der Durchführung der öffentlichen Intervention in einem Mitgliedstaat sind in der Verordnung Nr. 805/68 des Rates festgelegt, die in Artikel 6 Absatz 7 die verschiedenen der Kommission in diesem Bereich übertragenen Zuständigkeiten aufführt.

11 Die Durchführungsbestimmungen für die Interventionsmaßnahmen wurden mit der Verordnung (EWG) Nr. 859/89 der Kommission vom 29. März 1989 (ABl. L 91, S. 5) erlassen, die im einzelnen das Ausschreibungsverfahren regelt und in Artikel 4 die verschiedenen Anforderungen festlegt, denen die Erzeugnisse entsprechen müssen, um zur Intervention angekauft werden zu können. Eben diese Anforderungen wurden durch den angefochtenen, im sogenannten Verwaltungsausschußverfahren auf der Grundlage des Artikels 6 Absatz 7 der Verordnung Nr. 805/68 erlassenen Rechtsakt geändert, mit dem eine schrittweise Begrenzung des zur normalen Intervention zugelassenen Schlachtkörpergewichts eingeführt wurde, nach der nur noch Fleisch angekauft werden darf, das von Schlachtkörpern mit höchstens folgendem Gewicht stammt:

° 380 kg ab der ersten Ausschreibung im Juli 1993,

° 360 kg ab der ersten Ausschreibung im Januar 1994,

° 340 kg ab der ersten Ausschreibung im Juli 1994.

12 Mit der Verordnung Nr. 685/93 wollte die Kommission gegenüber den Erzeugern ein Signal setzen, durch das sie veranlasst werden sollten, die Erzeugung schwerer Schlachtkörper für die Intervention zu vermeiden. In den Begründungserwägungen wird darauf hingewiesen, daß es eine ° vor allem durch genetische Fortschritte ermöglichte ° Entwicklung zu höheren Schlachtkörpergewichten gebe, durch die eine Erzeugung für die Intervention begünstigt werde, da für diese Schlachtkörper auf dem Markt häufig keine Nachfrage bestehe. Die Kommission hat vor dem Gerichtshof ausgeführt, daß ein solches Signal notwendig bereits 1993 Wirkung zeigen müsse, da die Marktaussichten für dieses Jahr und für 1994 verhältnismässig günstig seien, während für 1995 die Rückkehr zu einer Phase der erhöhten Erzeugung im Produktionszyklus zu erwarten sei.

13 Gemäß Artikel 185 EWG-Vertrag haben Klagen beim Gerichtshof keine aufschiebende Wirkung. Jedoch kann der Gerichtshof nach den Artikeln 185 und 186 EWG-Vertrag, wenn er dies den Umständen nach für nötig hält, die Durchführung der angefochtenen Handlung aussetzen oder die erforderlichen einstweiligen Anordnungen treffen.

14 Gemäß Artikel 83 § 2 der Verfahrensordnung setzt eine Entscheidung, mit der der Vollzug einer Handlung ausgesetzt oder eine einstweilige Maßnahme angeordnet wird, das Vorliegen von Umständen voraus, aus denen sich die Dringlichkeit ergibt; ferner ist die Notwendigkeit der beantragten Anordnung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht glaubhaft zu machen.

15 Zur Glaubhaftmachung der Notwendigkeit der einstweiligen Anordnung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht beruft sich der Antragsteller darauf, daß die Verordnung Nr. 685/93 rechtswidrig sei.

16 Er rügt insbesondere die fehlende Zuständigkeit der Kommission für den Erlaß der angefochtenen Verordnung und Verstösse gegen das Diskriminierungsverbot, den Gleichheitsgrundsatz sowie die Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Verhältnismässigkeit. Er macht ausserdem eine Überschreitung von Befugnissen und die Verletzung wesentlicher Formvorschriften geltend.

17 Insoweit genügt der Hinweis, daß die Klage komplexe Rechtsfragen aufwirft, die einer eingehenden Prüfung nach streitiger Verhandlung bedürfen, und daß der Antrag nicht von vornherein als völlig unbegründet angesehen werden kann. Seine Zurückweisung unter diesem Gesichtspunkt kommt daher nicht in Betracht.

18 Die in Artikel 83 § 2 der Verfahrensordnung geforderte Dringlichkeit einer einstweiligen Anordnung ist nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes danach zu beurteilen, ob eine einstweilige Entscheidung notwendig ist, um zu verhindern, daß dem Antragsteller durch den sofortigen Vollzug der Maßnahme, die Gegenstand der Klage in der Hauptsache ist, ein schwerer und nicht wiedergutzumachender Schaden entsteht.

19 Nach Auffassung des Antragstellers würden die irischen Rinderzuechter einen solchen schweren und nicht wiedergutzumachenden Schaden erleiden, wenn die von der Verordnung vorgesehene Begrenzung des interventionsfähigen Schlachtkörpergewichts auf 380 kg bereits von der ersten Ausschreibung im Juli 1993 an wirksam würde. Hierdurch würden 32 % der dem Markt zwischen September und November 1993, der Hauptschlachtzeit, zugeführten irischen Rindfleischerzeugnisse von der Intervention ausgeschlossen. Dies hätte einen erheblichen, alle Erzeuger treffenden Preisverfall zur Konsequenz.

20 Wegen der extensiven Viehhaltung in Irland verfügten die Zuechter über keinerlei Spielraum, um ihre Erzeugung den neuen Interventionsbedingungen kurzfristig anzupassen: Die Haltung auf Weiden bedeute ein langsames Wachstum der (erst nach zwei bis drei Jahren ausgewachsenen) Rinder und mache es notwendig, die Tiere im Herbst zu schlachten, bevor die Weiden feucht würden.

21 Zur Zeit der Paarung der Tiere oder des Beginns ihrer Mast habe kein irischer Zuechter vernünftigerweise vorhersehen können, daß eine derartige Gewichtsbegrenzung eingeführt werden würde.

22 Die Antragsgegnerin trägt vor, den irischen Erzeugern sei bereits seit Beginn der Beratungen im Verwaltungsausschuß im Dezember 1992 bekannt gewesen, daß sie sich auf neue Begrenzungen einzustellen hätten. Damit sei ihnen genug Zeit verblieben, ihren Viehbestand früher zu schlachten, um die Intervention in Anspruch nehmen zu können.

23 Da sich die Marktsituation in der Gemeinschaft in jüngster Zeit verbessert habe, treffe es auch nicht zu, daß im Herbst 1993 ein Zusammenbruch des irischen Rindfleischmarkts gedroht habe. Der irische Inlandsmarkt nehme nur 13 % der Erzeugung auf, während der Rest stets exportiert worden sei; in Irland sei daher von der Intervention wenig Gebrauch gemacht worden. Bei den letzten vier Ausschreibungen, d. h. seit Mai 1993, habe es in Irland keine Angebote gegeben.

24 Sollte es wider jede Erwartung und entgegen den günstigen Vorhersagen für 1994 zu einem Zusammenbruch des Rindfleischmarkts kommen, so werde die Kommission von allen ihr verfügbaren Mitteln einschließlich der Änderung und sogar Aufhebung der beanstandeten Grenzen Gebrauch machen.

25 Der Antragsteller hat nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit dargetan, daß in Irland wegen eines streng vorgegebenen, die Erzeuger an einer Anpassung an die neuen Interventionsbedingungen hindernden Zuechtungszyklus für Herbst 1993 ein Zusammenbruch des dortigen Rindfleischmarkts drohe.

26 Er hat erstens nicht belegt, warum die irischen Erzeuger, um die Intervention in Anspruch zu nehmen, ihren Viehbestand nicht früher hätten schlachten können. Er hat auch nicht überzeugend dargelegt, wieso eine frühere Schlachtung die Qualität des Fleisches möglicherweise so stark mindern würde, daß es nicht mehr interventionsfähig wäre.

27 Zweitens lässt sich aus seinem Vorbringen nicht die Überzeugung gewinnen, daß es den irischen Zuechtern ganz überwiegend unmöglich wäre, ihr Vieh auch den Winter über zu halten, um bessere Marktbedingungen abzuwarten.

28 Der Antragsteller berücksichtigt auch nicht die in der Gemeinschaftsregelung vorgesehenen Beihilfen zur privaten Lagerhaltung, die es zu einer früheren Schlachtung ihres Viehs gezwungenen Erzeugern ermöglichen, günstigere Bedingungen für die Vermarktung der Schlachtkörper abzuwarten.

29 Die Möglichkeit, einen Teil der Erzeugung erst später zu vermarkten, ist für die Erzeuger im Fall eines Preisrückgangs im Herbst 1993 von um so grösserem Interesse, als die Aussichten für die Marktentwicklung 1994 eher günstig sind.

30 Schließlich handelt es sich bei der irischen Rindfleischerzeugung überwiegend um Fleisch sehr guter Qualität, das zur Ausfuhr bestimmt ist. Sollten sich für dieses Fleisch tatsächlich erhebliche Absatzschwierigkeiten ergeben, so entstuende für Fleisch geringerer Qualität nicht nur auf dem irischen Markt, sondern in der ganzen Gemeinschaft eine noch schwierigere Lage. Die Kommission, die den Markt ständig überwacht, würde in einem solchen Fall gewiß nicht untätig bleiben und könnte, wie sie selbst hervorgehoben hat, eine Änderung oder sogar Aufhebung der streitigen Regelung vorschlagen. Eine solche Entscheidung könnte in kürzester Zeit erlassen werden und in Kraft treten, da sie im sogenannten Verwaltungsausschuß zu treffen wäre.

31 Demnach hat die Antragstellerin nicht dargetan, daß die beantragte Anordnung dringlich ist, um einen schweren und nicht wiedergutzumachenden Schaden abzuwenden.

32 Der Antrag auf einstweilige Anordnung ist daher zurückzuweisen.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER PRÄSIDENT DES GERICHTSHOFES

beschlossen:

1) Der Antrag auf einstweilige Anordnung wird zurückgewiesen.

2) Die Kostenentscheidung bleibt vorbehalten.

Luxemburg, den 16. Juli 1993

Ende der Entscheidung

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