Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 21.01.1993
Aktenzeichen: C-308/90
Rechtsgebiete:


Vorschriften:

Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Die Verordnung Nr. 3227/76 zur Anwendung der Bestimmungen der Euratom-Sicherungsmaßnahmen definiert nur Art und Umfang der Verpflichtungen nach Artikel 79 EAG-Vertrag, so daß jede Verletzung einer der Verpflichtungen aus dieser Verordnung einen Verstoß gegen Artikel 79 darstellt und somit dazu führen kann, daß die Kommission eine der in Artikel 83 vorgesehenen Zwangsmaßnahmen gegen die für diesen Verstoß Verantwortlichen verhängt.

2. Artikel 83 EAG-Vertrag verleiht der Kommission umfassende Befugnisse bei der Ahndung von Verstössen der Unternehmen gegen die Bestimmungen über die Sicherheitsüberwachung, die es dieser erlauben, die in Artikel 2 Buchstabe e EAG-Vertrag festgelegte Aufgabe der Euratom, zu gewährleisten, daß die Kernstoffe nicht anderen als den vorgesehenen Zwecken zugeführt werden, zu erfuellen. In diesem Rahmen können Zwangsmaßnahmen auch dann erlassen werden, wenn der Verstoß bereits beendet ist.

3. Die Bestimmungen, mit denen der Mißbrauch von spaltbarem Material zu anderen als denjenigen Zwecken verhindert werden soll, für die es nach den Angaben der Verwender bestimmt ist, sind für die Erfuellung der in den Artikeln 1 und 2 EAG-Vertrag im einzelnen aufgeführten Aufgaben der Euratom von grundlegender Bedeutung. In diesem Zusammenhang ist die Einhaltung der zu diesem Zweck erlassenen Vorschriften, die von der Kommission überwacht wird, unabdingbar. Somit stellt jede Verletzung dieser Vorschriften durch ein Nuklearunternehmen einen schweren Verstoß dar, der eine schwerwiegende Sanktion rechtfertigt. In diesem Zusammenhang kann die Anordnung der Verwaltung durch Dritte verfügt werden, die sich in bestimmten Fällen als erforderlich erweist, um die Wiederholung ähnlicher Verstösse zu verhindern, denn nur im Rahmen dieser Maßnahme können dem Unternehmen genaue Anweisungen erteilt und diese gegebenenfalls gegen den Willen der Unternehmensleitung durchgesetzt werden.


URTEIL DES GERICHTSHOFES (SECHSTE KAMMER) VOM 21. JANUAR 1993. - ADVANCED NUCLEAR FUELS GMBH GEGEN KOMMISSION DER EUROPAEISCHEN GEMEINSCHAFTEN. - NICHTIGKEITSKLAGE - ENTSCHEIDUNG DER KOMMISSION UEBER EIN VERFAHREN NACH ARTIKEL 83 EAG-VERTRAG. - RECHTSSACHE C-308/90.

Entscheidungsgründe:

1 Die Advanced Nuclear Füls GmbH (nachstehend: Klägerin, in Zitaten auch: ANF Lingen) mit Sitz in Lingen (Bundesrepublik Deutschland) hat mit Klageschrift, die am 6. Oktober 1990 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 146 EAG-Vertrag Klage erhoben auf Nichtigerklärung der Entscheidung 90/413/Euratom der Kommission vom 1. August 1990 über ein Verfahren nach Artikel 83 Euratom-Vertrag (ABl. L 209, S. 27) und der Entscheidung 90/465/Euratom der Kommission vom 20. August 1990 über die Bestellung der Personengruppe, die mit der Durchführung der Entscheidung 90/413 beauftragt ist (ABl. L 241, S. 14).

2 Mit der Entscheidung 90/413 ordnete die Kommission an, daß die Verwaltung der Klägerin für die Dauer von vier Monaten ° ausschließlich, was die im zweiten Titel Kapitel VII des EAG-Vertrags genannten Gesichtspunkte betrifft ° einer amtlich bestellten Personengruppe übertragen wird. Mit der Entscheidung 90/465 bestellte sie die Personengruppe, die die genannte Verwaltungsaufgabe in der Zeit vom 21. August 1990 bis zum 21. Dezember 1990 wahrnehmen sollte.

3 Der Gerichtshof hat mit Beschluß vom 7. Dezember 1990 auf Antrag der Kommission die sofortige Vollstreckung der Entscheidungen 90/413 und 90/465 angeordnet und dabei die Kostenentscheidung vorbehalten. Weiter hat der Gerichtshof mit Beschluß vom 20. März 1991 a) den Antrag der Klägerin zurückgewiesen, der auf Übermittlung des Bewertungsberichts an sie gerichtet war, den die mit der Verwaltung der Klägerin beauftragten Personen erstellt und nach Abschluß ihrer Tätigkeit der Kommission übermittelt hatten, b) die Entscheidung über den Antrag der Klägerin auf Übermittlung dieses Berichts an den Gerichtshof dem Hauptsacheverfahren vorbehalten und c) die Entscheidung über die mit diesen Anträgen auf Übermittlung verbundenen Kosten vorbehalten.

4 Der Antrag der Klägerin unter b ist inzwischen gegenstandslos geworden, da die deutschen Atomaufsichtsbehörden der Klägerin im April 1991 eine Kopie des Berichts übermittelt haben. Die Klägerin hat diese Kopie ihrer Erwiderung als Anlage beigefügt.

5 Die Kommission erließ die Entscheidungen 90/413 und 90/465, nachdem die Klägerin ihr am 16. Mai 1990 mitgeteilt hatte, daß sie im Mai 1990 Kernmaterial aus der Bundesrepublik Deutschland an ihre Muttergesellschaft Advanced Nuclear Füls, Richland, Vereinigte Staaten von Amerika (nachstehend: Firma ANF Richland) ausgeführt habe, ohne daß diese Ausfuhr im voraus gemeldet und ohne daß diese Veräusserung von Kernmaterial in den Buchungs- und Betriebsprotokollen des Unternehmens verzeichnet worden sei.

6 Zu dieser Ausfuhr konnte es aufgrund eines Zusammentreffens unstreitiger Umstände kommen, die in den Begründungserwägungen der Entscheidung 90/413 wie folgt beschrieben werden:

"Am 8. Mai 1990 wurde eine Palette mit zwei Behältern, von denen jeder zwei Kästen enthielt, vom Lager zur Materialzufuhrschleuse des Werks transportiert, wo ihr ein Kasten mit auf 3,30 % angereicherten Urantabletten entnommen werden sollte.

Nach Ausführung dieser Arbeit wurde die Palette mit ihren zwei Behältern irrtümlich im Freien nahe dem Lagerplatz für Leergut abgestellt und dort vergessen. Die beiden Behälter der Palette enthielten jetzt nur noch drei Kästen. Einer enthielt 49,84 kg auf 2,70 % angereichertes Uranoxid (UO2), die beiden anderen enthielten 49,86 kg bzw. 47,29 kg auf 3,95 % angereichertes Uran.

Am Morgen des 11. Mai 1990 wurde die fragliche Palette bei der Zusammenstellung einer Sendung von 72 leeren Behältern für die Firma ANF Richland von einem anderen Beschäftigten irrtümlich auf den Lastwagen eines Speditionsunternehmens für normale Güter verladen.

Der mit dieser Arbeit beauftragte Beschäftigte stellte fest, daß die Behälter auf dieser Palette die gesetzlich vorgeschriebene Plakette zum Hinweis auf radioaktiven Inhalt trugen. Da er wegen ihrer Lagerung in diesem Bereich glaubte, die Behälter seien leer und zum Versand bestimmt, entfernte er die Plakette und ersetzte sie durch eine Leergutkennzeichnung. Um 19.00 Uhr desselben Tages wurde der Lastwagen am Flughafen Luxemburg-Findel entladen, und die Ladung wurde zum Lufttransport vorbereitet.

Am 12. Mai 1990 wurden die Behälter mit dem Frachtflugzeug nach Seattle (Vereinigte Staaten von Amerika) befördert, wo sie um 21.10 Uhr Ortszeit eintrafen.

Am 14. Mai 1990 wurden die Behälter auf der Strasse zur Firma ANF Richland weitertransportiert, wo sie am 15. Mai 1990 eintrafen.

ANF Lingen wurde am selben Tag von ANF Richland verständigt, nachdem man dort bei einer routinemässigen Dosisleistungsmessung festgestellt hatte, daß die beiden angeblich leeren Behälter Kernmaterial enthielten. Die sofortige Prüfung der Siegel ergab, daß den in diesen Behältern liegenden drei Kästen kein Material entnommen worden sein konnte.

Am 16. Mai 1990 meldete ANF Lingen den Vorfall der Direktion 'Sicherheitsüberwachung' der Kommission.

Am 17. Mai 1990 meldete ANF Lingen denselben Vorfall der Euratom-Versorgungsagentur."

7 Die Artikel 2 und 3 der Entscheidung 90/413 lauten wie folgt:

"Artikel 2

1. Die Verwaltung des Unternehmens Advanced Nuclear Füls GmbH wird für die Dauer von vier Monaten ° ausschließlich, was die im zweiten Titel Kapitel VII des Vertrages genannten Gesichtspunkte betrifft ° einer amtlich bestellten Person oder Personengruppe übertragen.

2. Die Verantwortlichkeit des Unternehmens aufgrund nationaler oder internationaler Rechtsvorschriften bleibt von dieser Übertragung der Verwaltung unberührt.

Artikel 3

1. Der Auftrag des(der) Verwaltungsbeauftragten gemäß Artikel 2 besteht in

° der Überprüfung und gegebenenfalls Änderung der internen Vorschriften für die Sicherheitsüberwachung,

° der Überwachung ihrer Inkraftsetzung und praktischen Anwendung.

2. Zur Erfuellung ihres Auftrags ist der/sind die Verwaltungsbeauftragten befugt,

° alle Räume zu betreten und Einsicht in sämtliche Unterlagen zu nehmen,

° den Organen und Beschäftigten des Unternehmens jede Anweisung zu erteilen,

° für die Erfuellung ihres Auftrags jede von ihnen für notwendig erachtete Mitwirkung von Stellen ausserhalb des Unternehmens anzufordern.

3. Ein Bewertungsbericht ist der Kommission spätestens acht Tage nach Beendigung des Auftrags vorzulegen."

8 In den Begründungserwägungen der Entscheidung 90/413 führt die Kommission u. a. folgendes aus:

"Da das Kriterium für die Anwendung dieses Artikels die Schwere des Verstosses ist, muß zunächt untersucht werden, von welcher Qualität die festgestellten Verstösse sowohl objektiv als auch subjektiv sind.

Objektiv handelt es sich um die Verletzung grundlegender Verpflichtungen aus den gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften für die Sicherheitsüberwachung, deren Erfuellung unerläßlich ist, um die in Artikel 77 des Euratom-Vertrags genannten Ziele zu erreichen.

Die festgestellten Verstösse haben es überdies der Kommission unmöglich gemacht, ihre in Artikel 2 Buchstabe e des Euratom-Vertrags genannte Aufgabe zu erfuellen, nämlich 'durch geeignete Überwachung zu gewährleisten, daß die Kernstoffe nicht anderen als den vorgesehenen Zwecken zugeführt werden'.

Hierzu ist anzumerken, daß die Kommission der Überwachung der Kernmaterialausfuhren eine besonders hohe Bedeutung beimisst.

Erschwerend kommt hinzu, daß es sich in diesem Fall um erhebliche Mengen bereits angereicherten Urans handelt, das relativ leicht auf Konzentrationen von strategischer Bedeutung weiter angereichert werden kann.

Auf der subjektiven Seite wird jedoch deutlich, daß die Verstösse nicht vorsätzlich begangen wurden und eine Unterschlagung deshalb nicht vorliegt. Dies ist unter anderem daran zu erkennen, daß der Bericht über die vollständige jährliche Überprüfung der im Besitz des Unternehmens befindlichen Materialbestände nur sehr geringe Unterschiede zwischen dem körperlichen Bestand und dem Buchbestand ausweist, die rund 0,1 % des Gesamtbestands oder 0,023 % der Summe aus Bestand und Bestandsveränderungen zwischen dem 4. August 1989 und dem 4. Juli 1990 ausmachen.

Da diese Verstösse aber aus einer Reihe arbeitstechnischer und organisatorischer Fahrlässigkeiten resultieren und vor allem durch das Fehlen von Mehrfachkontrollen ermöglicht wurden, sind sie dennoch als schwer zu bewerten.

In Anbetracht der Art der begangenen Verfehlungen ist die Kommission der Ansicht, daß alles unternommen werden muß, damit sich solche Vorfälle in Zukunft nicht wiederholen können, zumal die Firma ANF Lingen Kernmaterialbehälter häufig befördern lässt und dies auch in Zukunft zu tun beabsichtigt.

Damit derartige Vorfälle, deren Ursache im Routinecharakter der betreffenden Arbeitsgänge liegt, sich nicht wiederholen, will die Kommission sicherstellen, daß eindeutige Maßnahmen zur Anpassung der Arbeitsvorschriften und zu ihrer Umsetzung in die Praxis getroffen werden.

In Anbetracht der Schwere der Verstösse ist dieses Ziel nach Auffassung der Kommission nur mit einer Zwangsmaßnahme gemäß Artikel 83 Absatz 1 Buchstabe c des Vertrages erreichbar.

Nur die Übertragung der Verwaltung des Unternehmens gewährleistet, daß das Unternehmen allen seinen Verpflichtungen im Zusammenhang mit der Sicherheitsüberwachung nachkommen wird. Eine blosse Verwarnung gemäß Absatz 1 Buchstabe a des genannten Artikels kommt angesichts der Schwere der Verstösse nicht in Betracht.

Obwohl ANF Lingen den zuständigen Stellen der Euratom-Sicherheitsüberwachung mitgeteilt hat, daß es neue interne Vorschriften für die Buchführung und Handhabung ausarbeiten und diese mitteilen werde, hält die Kommission es für angebracht, die Dauer der Übertragung der Verwaltung des Unternehmens auf vier Monate, gerechnet ab dem Tag der Mitteilung des/der Namen(s) der mit der Verwaltung beauftragten Person(en), festzusetzen. Nach Ablauf dieser Frist ist ein Bewertungsbericht zu erstellen."

9 Die Kommission verhängte, gestützt auf Artikel 83 EAG-Vertrag, die Zwangsmaßnahme der Übertragung der Verwaltung des Unternehmens, nachdem sie in Artikel 1 der Entscheidung 90/413 festgestellt hatte, daß die Klägerin "gegen Artikel 79 des Euratom-Vertrags, näher ausgeführt in den Artikeln 10, 11 und 24 der Verordnung (Euratom) Nr. 3227/76 und dem Code 1.3.2 der Entscheidung der Kommission vom 5. Juni 1985 über die besonderen Überwachungsbestimmungen, verstossen [hat], weil [sie] a) die vorherige Meldung einer Ausfuhr unterlassen hat, b) die Vorschriften zur Verbuchung von Bestandsänderungen nicht beachtet hat, c) die Vorschriften zur Aufzeichnung von Betriebsdaten zum Nachweis von Änderungen der Menge und Änderungen der Zusammensetzung des Kernmaterials nicht beachtet hat".

10 Die Klägerin macht zur Begründung ihrer Klage erstens geltend, daß der fragliche Sachverhalt keinen Verstoß gegen die Verpflichtungen aus Kapitel VII des EAG -Vertrags darstelle. Ferner sei die Zwangsmaßnahme der Übertragung der Verwaltung rechtswidrig, denn sie sei in einem Zeitpunkt verhängt worden, als jeder etwaige Rechtsverstoß abgestellt gewesen sei. Schließlich sei die verhängte Zwangsmaßnahme unverhältnismässig, und der Gerichtshof müsse sie durch die weniger schwerwiegende Zwangsmaßnahme einer Verwarnung ersetzen.

11 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts, des rechtlichen Rahmens, des Verfahrensablaufs und des Parteivorbringens wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt ist im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

Verstoß gegen den Vertrag

12 Die Klägerin trägt vor, die fragliche Ausfuhr sei versehentlich erfolgt und auf einen blossen Fehler bei der Behandlung der Transportbehälter zurückzuführen, die durch die "Prozeßvorschrift ANFG-10.105 UO2-Transporte" vom 14. Oktober 1987 geregelt sei. Diese Regelung sei von der nationalen atomrechtlichen Aufsichtsbehörde erlassen worden; ihre Beachtung werde von dieser Behörde überwacht. Die fragliche Ausfuhr stelle nur einen Verstoß gegen die genannte "Prozeßvorschrift" dar und könne nicht als schwerwiegende Verletzung von Pflichten aus Artikel 79 EAG-Vertrag, näher ausgeführt in den Artikeln 10, 11 und 24 der Verordnung Nr. 3227/76 und dem Code 1.3.2 der Entscheidung der Kommission vom 5. Juni 1985, qualifiziert werden.

13 Zu dem genannten Code und zu Artikel 24 der Verordnung Nr. 3227/76 sei auszuführen, daß die Ausfuhr, die nicht vorab geplant gewesen sei, versehentlich erfolgt sei und daher nicht im voraus habe gemeldet werden können. Was die Protokolle im Sinne der Artikel 10 und 11 der Verordnung Nr. 3227/76 angehe, so habe bis zum Zeitpunkt der Entdeckung der Ausfuhr keine Bestandsänderung für jede Materialbilanzzone verzeichnet werden können. Unmittelbar nach der Entdeckung der Ausfuhr seien die Protokolle berichtigt worden. Ferner sei die Kommission jederzeit in der Lage gewesen, ihre Kontrollaufgabe zu erfuellen, denn die fraglichen Kernbrennstoffe hätten sich stets im Einflußbereich der Klägerin und der Firma ANF Richland befunden. Unter diesen Umständen könne der Klägerin kein Verstoß gegen die Artikel 10 und 11 der Verordnung Nr. 3227/76 zur Last gelegt werden.

14 Nach Ansicht der Kommission wurden Artikel 24 der Verordnung Nr. 3227/76 und der Code 1.3.2 der Kommissionsentscheidung vom 5. Juni 1985 verletzt, weil im vorliegenden Fall spaltbares Material in die Vereinigten Staaten ausgeführt worden sei, ohne daß ihr dieser Vorgang zuvor gemeldet worden sei. Ferner habe der Buchbestand nicht "jederzeit" im Sinne von Artikel 10 der Verordnung Nr. 3227/76 festgestellt werden können. Schließlich habe das Betriebsprotokoll im Sinne von Artikel 11 der Verordnung Nr. 3227/76 nicht für jede Materialbilanzzone die Betriebsdaten enthalten, die zur Feststellung von Änderungen in der Menge und der Zusammensetzung des Materials verwendet worden seien.

15 In diesem Zusammenhang ist zunächst festzustellen, daß die Verordnung Nr. 3227/76 nur Art und Umfang der Verpflichtungen nach Artikel 79 EAG-Vertrag definiert. Daher stellt jede Verletzung einer der Verpflichtungen aus dieser Verordnung einen Verstoß gegen Artikel 79 dar und kann somit dazu führen, daß die Kommission eine der in Artikel 83 vorgesehenen Zwangsmaßnahmen gegen Personen oder Unternehmen verhängt, die für diesen Verstoß verantwortlich sind.

16 Sodann ist darauf hinzuweisen, daß in der Zeit vom 11. bis 14. Mai 1990 das in den Buchungs- und Betriebsprotokollen verzeichnete spaltbare Material in jeder Materialbilanzzone unbestrittenermassen nicht dem tatsächlichen Bestand in der Anlage der Klägerin entsprach, da die Bestandsänderungen, zu denen es durch die fragliche versehentliche Ausfuhr kam, erst nach deren Entdeckung verzeichnet wurden. Daher enthielten die Protokolle drei Tage lang nicht jeweils alle Bestandsänderungen, so daß der Buchbestand jederzeit hätte festgestellt werden können, bzw. nicht alle Betriebsdaten, die zur Feststellung von Änderungen in der Menge und Zusammensetzung des Materials verwendet wurden. Der Umstand, daß sich die Kernbrennstoffe stets im Einflußbereich entweder der Klägerin oder der Firma ANF Richland befanden, ändert nichts daran, daß die Kommission unter Verstoß gegen die Verpflichtungen aus den Artikeln 10 und 11 der Verordnung Nr. 3227/76 bei der Erfuellung ihrer Kontrollaufgabe behindert wurde.

17 Schließlich ist festzuhalten, daß die fragliche Ausfuhr unbestritten stattgefunden hat, ohne daß dies der Kommission gemäß Artikel 24 der Verordnung Nr. 3227/76 im voraus gemeldet wurde. Der Umstand daß die Ausfuhr versehentlich erfolgte, kann diese Feststellung nicht entkräften.

18 Nach allem ist die erste Rüge zurückzuweisen.

Die Rüge, daß ein noch andauernder Verstoß hätte vorliegen müssen

19 Die Klägerin rügt, daß die Kommission die streitige Zwangsmaßnahme gegen sie wegen bereits beendeter Verstösse verhängt habe. Die Zwangsmaßnahme habe Erzwingungscharakter und sei dazu bestimmt, eine gegenwärtige rechtswidrige Situation abzustellen; sie sei daher nicht mehr gerechtfertigt, wenn eine solche Situation nicht mehr vorliege. Bei der Klägerin habe jedoch am 1. August 1990, bei Erlaß der angefochtenen Entscheidung, kein Verstoß mehr vorgelegen. Die fragliche versehentliche Ausfuhr habe nämlich unstreitig einen Einzelfall dargestellt, der durch ein Zusammentreffen zufälliger Umstände ermöglicht worden sei. Zudem hätten die Änderungen der Organisationsregelung für die Behandlung der Transportbehälter, die die Klägerin am Tag nach der Entdeckung der versehentlichen Ausfuhr verfügt habe und die vor dem 1. August 1990 in Kraft getreten seien, jede Möglichkeit einer Wiederholung des Vorfalls ausgeschlossen.

20 In diesem Zusammenhang genügt die Feststellung, daß Artikel 83 die Zwangsmaßnahmen, die die Kommission je nach der Schwere des festgestellten Verstosses verhängen kann, aufzählt, ohne danach zu unterscheiden, ob der Verstoß beendet ist oder andauert.

21 Wie die Kommission zu Recht ausführt, sichert Artikel 83 EAG-Vertrag den effet utile des Kapitels VII des EAG-Vertrags dadurch, daß er umfassende Befugnisse der Kommission bei der Verhängung von Zwangsmaßnahmen vorsieht, die auch von nicht finanzieller Art sein können. Dieser Zweck steht im Einklang mit der Absicht der Verfasser des Vertrages, der Kommission die erforderlichen Instrumente an die Hand zu geben, damit sie insbesondere die in Artikel 2 Buchstabe e EAG-Vertrag festgelegte Aufgabe der Euratom erfuellen kann, zu gewährleisten, daß die Kernstoffe nicht anderen als den vorgesehenen Zwecken zugeführt werden. Somit durfte die Kommission die streitige Maßnahme auch dann erlassen, wenn der Verstoß bereits beendet war.

22 Die zweite Rüge der Klägerin ist daher ebenfalls zurückzuweisen.

Die Rüge der Unverhältnismässigkeit der Zwangsmaßnahme

23 Die Klägerin macht erstens geltend, daß die Kommission die Schwere der beanstandeten Verstösse der Klägerin übertrieben dargestellt habe, da diese sie zu keiner Zeit daran gehindert hätten, ihre Kontrollaufgabe wahrzunehmen. Ferner müsse berücksichtigt werden, daß die Verstösse gegen die Artikel 10, 11 und 24 der Verordnung Nr. 3227/76 sowie gegen den Code 1.3.2 der Entscheidung vom 5. Juni 1985 zueinander in Idealkonkurrenz stuenden, da bei dem streitigen Vorfall mit einer einzigen Tathandlung mehrere Vorschriften verletzt worden seien.

24 Zweitens sei die verhängte Zwangsmaßnahme nicht erforderlich gewesen. Zum einen verfüge die Kommission nämlich nach Artikel 81 EAG-Vertrag über umfassende Überwachungsbefugnisse, die es ihr erlaubten, Inspektoren für die Überwachung der Erze, Ausgangsstoffe und besonderen spaltbaren Stoffe und zu der Feststellung in die Betriebe zu entsenden, ob die Bestimmungen des Artikels 77 beachtet würden. Zum anderen hätten die Maßnahmen, die die Klägerin nach der Entdeckung des Vorfalls ergriffen habe, die Zwangsverwaltung des Unternehmens überfluessig gemacht. Im übrigen habe sich diese Zwangsmaßnahme darin erschöpft, daß die Verwaltungsbeauftragten das Unternehmen der Klägerin viermal besucht und dabei wegen der von der Klägerin geleisteten Zusammenarbeit lediglich einige Empfehlungen abgegeben hätten.

25 Diese Umstände rechtfertigten es, daß der Gerichtshof die verhängte Zwangsmaßnahme durch die weniger schwerwiegende Maßnahme einer Verwarnung im Sinne von Artikel 83 Buchstabe a EAG-Vertrag ersetze.

26 Die Bestimmungen, mit denen der Mißbrauch von spaltbarem Material zu anderen als denjenigen Zwecken verhindert werden soll, für die es nach den Angaben der Verwender bestimmt ist, sind für die Erfuellung der in den Artikeln 1 und 2 EAG-Vertrag im einzelnen aufgeführten Aufgaben der Euratom von grundlegender Bedeutung. In diesem Zusammenhang ist die Einhaltung der Vorschriften, die von der Kommission nach den Artikeln 77, 79, 81 und 83 EAG-Vertrag überwacht wird, unabdingbar. Somit stellt jede Verletzung dieser Vorschriften durch ein Unternehmen einen schweren Verstoß dar.

27 Der Umstand, daß die verschiedenen Verstösse, die der Klägerin im vorliegenden Fall zur Last gelegt werden, zueinander in Idealkonkurrenz stehen, kann nicht als Begründung für die Verhängung einer weniger schwerwiegenden Zwangsmaßnahme herangezogen werden. Wie ein Blick auf verschiedene nationale Rechtsordnungen zeigt, steht vielmehr fest, daß in solchen Fällen die schwerwiegendste von den anwendbaren Sanktionen zu verhängen ist.

28 Auch erweist sich die Erforderlichkeit der streitigen Zwangsmaßnahme daran, daß sie es ermöglicht, Vorkehrungen dagegen anzuordnen, daß ähnliche Verstösse in Zukunft erneut begangen werden können. Im Rahmen ihrer Aufgabe kann die Gruppe von Verwaltungsbeauftragten nämlich genaue Anweisungen erteilen und diese gegebenenfalls gegen den Willen der Unternehmensleitung durchsetzen, während die Möglichkeit der Kommission, Inspektoren zu entsenden, die bloß mit der Prüfung der Buchhaltung betraut sind, in diesem Zusammenhang offensichtlich unzureichend ist.

29 Ferner kann die Klägerin die Erforderlichkeit der verhängten Zwangsmaßnahme auch nicht unter Berufung darauf in Frage stellen, daß sie sich, was ihr zuzubilligen ist, kooperativ verhalten habe. Es ist nämlich nicht erwiesen, daß die von dem Unternehmen aus eigenem Antrieb vorgenommenen Verbesserungen ohne diese Zwangsmaßnahme zur vollen Zufriedenheit der Kommission ausgefallen wären. Im übrigen wurden, wie aus dem Bericht der Verwaltungsbeauftragten hervorgeht, die wichtigsten Schwachpunkte der Strukturen und der Organisation der Klägerin erst im November und Dezember 1990 beseitigt.

30 Aufgrund dieser Erwägungen ist festzustellen, daß die letzte Rüge nicht begründet ist. Somit kann dem Antrag auf Ersetzung der verhängten Zwangsmaßnahme durch die Zwangsmaßnahme der Verwarnung nicht stattgegeben werden.

31 Da keiner der von der Klägerin erhobenen Rügen gefolgt werden kann, ist die Klage insgesamt abzuweisen.

Kostenentscheidung:

Kosten

32 Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Klägerin mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr die Kosten einschließlich derjenigen Kosten aufzuerlegen, die im Zusammenhang mit dem Antrag auf Anordnung der sofortigen Vollstreckung der angefochtenen Entscheidungen und mit den Anträgen auf Anordnung der Übermittlung des Bewertungsberichts der Verwaltungsbeauftragten entstanden sind.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

1) Die Klage wird abgewiesen.

2) Die Klägerin trägt sämtliche Kosten des Verfahrens einschließlich derjenigen Kosten, die im Zusammenhang mit den Anträgen auf Anordnung der sofortigen Vollstreckung der angefochtenen Entscheidungen und auf Anordnung der Übermittlung des Bewertungsberichts der Verwaltungsbeauftragten entstanden sind.

Ende der Entscheidung

Zurück