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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 19.02.1998
Aktenzeichen: C-309/95
Rechtsgebiete: Verordnung (EWG) Nr. 822/87


Vorschriften:

Verordnung (EWG) Nr. 822/87
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

In Ermangelung einer Bekanntgabe oder Mitteilung obliegt es demjenigen, der von dem Vorliegen einer ihn betreffenden Handlung erfährt, binnen angemessener Frist ihren vollständigen Wortlaut anzufordern. Von dieser Einschränkung abgesehen, läuft die Klagefrist erst von dem Zeitpunkt an, zu dem der betroffene Dritte genaue Kenntnis vom Inhalt und von der Begründung der fraglichen Handlung erlangt, so daß er sein Klagerecht ausüben kann.

Bei einem an einen Mitgliedstaat gerichteten Beschluß des Rates, dessen Entwurf den Mitgliedern des Rates und der Kommission vorgelegen hat und dessen Verabschiedung Gegenstand eines vom Generalsekretariat der Kommission erstellten Protokolls war, hat die Kommission spätestens am Tag der Erstellung dieses Protokolls genaue Kenntnis von dem Beschluß.


Urteil des Gerichtshofes (Sechste Kammer) vom 19. Februar 1998. - Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen Rat der Europäischen Union. - Sonderbeihilfe für die Erzeuger von Tafelwein in Frankreich. - Rechtssache C-309/95.

Entscheidungsgründe:

1 Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat mit Klageschrift, die am 29. September 1995 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 173 EG-Vertrag die Nichtigerklärung des Beschlusses des Rates vom 22. Juni 1995 über die Gewährung einer Sonderbeihilfe für die Erzeuger von Tafelwein in Frankreich (im folgenden: Beschluß) beantragt.

2 Nach Artikel 1 dieses Beschlusses wird die fragliche Beihilfe von der französischen Regierung den Weinbauern gewährt, die sich an der vorbeugenden Destillation von im Wirtschaftsjahr 1994/95 in Frankreich erzeugten Tafelweinen und zur Herstellung von Tafelweinen geeigneten Weinen beteiligen, die aufgrund von Artikel 38 der Verordnung (EWG) Nr. 822/87 des Rates vom 16. März 1987 über die gemeinsame Marktorganisation für Wein (ABl. L 84, S. 1) eröffnet wurde.

3 Wie sich aus den Begründungserwägungen des Beschlusses ergibt, hat die französische Regierung dieses Beihilfevorhaben gemäß Artikel 93 Absatz 3 EG-Vertrag der Kommission mitgeteilt, die es als mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar angesehen hat. Der Rat gelangte zu der Auffassung, diese Beihilfe sei gleichwohl durch aussergewöhnliche Umstände gerechtfertigt, und entschied daher aufgrund von Artikel 93 Absatz 2 Unterabsatz 3, sie als mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar anzusehen.

4 Nach Artikel 93 Absatz 2 Unterabsatz 3 des Vertrages kann der Rat einstimmig auf Antrag eines Mitgliedstaats entscheiden, daß eine von diesem Staat gewährte oder geplante Beihilfe in Abweichung von Artikel 92 oder von den nach Artikel 94 erlassenen Verordnungen als mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar gilt, wenn aussergewöhnliche Umstände eine solche Entscheidung rechtfertigen.

5 Zur Stützung ihrer Klage beruft sich die Kommission in erster Linie auf eine fehlerhafte Anwendung von Artikel 93 Absatz 2 Unterabsatz 3 des Vertrages, da dieser in Anspruch genommen werde, um von den Mechanismen der gemeinsamen Marktorganisation für Wein abzuweichen, und hilfsweise darauf, daß die nach dieser Vorschrift erforderlichen aussergewöhnlichen Umstände im vorliegenden Fall nicht vorlägen, sowie darauf, daß die Begründung unzureichend und fehlerhaft sei.

6 In ihrer Erwiderung zieht die Kommission die Konsequenzen aus dem Urteil vom 29. Februar 1996 in der Rechtssache C-122/94 (Kommission/Rat, Slg. 1996, I-881) und erklärt, im Rahmen ihrer Hauptrüge lediglich geltend machen zu wollen, daß der Rat die Grenzen seines Ermessensspielraums überschritten habe.

7 Mit Beschluß vom 7. Februar 1996 hat der Präsident des Gerichtshofes die Französische Republik als Streithelferin zur Unterstützung der Anträge des Rates zugelassen.

8 Mit besonderem Schriftsatz vom 6. November 1995 hat der Rat nach Artikel 91 der Verfahrensordnung eine Einrede der Unzulässigkeit erhoben. Mit Entscheidung vom 18. Juni 1996 hat der Gerichtshof beschlossen, die Entscheidung über die Einrede dem Endurteil vorzubehalten.

Zur Einrede der Unzulässigkeit

9 Der Rat, unterstützt durch die Französische Republik, macht geltend, da der Beschluß nicht im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften veröffentlicht worden sei und da sein Adressat im Sinne von Artikel 191 Absatz 3 EG-Vertrag die Französische Republik und nicht die Kommission sei, hätte letztere ihre Klage gemäß Artikel 173 Absatz 5 dieses Vertrages binnen zwei Monaten nach dem 22. Juni 1995, dem Zeitpunkt, zu dem sie Kenntnis von diesem Beschluß erlangt habe, erheben müssen.

10 Der Rat trägt zunächst vor, die Kommission habe, wie sich aus der Klageschrift ergebe, sämtliche Einzelheiten des Vorgangs gekannt; sie sei ferner an den Arbeiten des Rates beteiligt gewesen und habe schließlich von dem Beschluß seit seinem Erlaß am 22. Juni 1995 Kenntnis gehabt, da sie ihrer Klageschrift das von ihrem Generalsekretariat vorbereitete Protokoll der Tagung des Rates beigefügt habe. Die Französische Republik fügt hinzu, der Rat habe an dem Beschlussentwurf, der ihm zur Genehmigung vorgelegt worden sei, keine Änderungen vorgenommen.

11 Nach Auffassung des Rates wie auch der Französischen Republik kann sich die Kommission nicht auf die Rechtsprechung des Gerichtshofes berufen, nach der es in Ermangelung einer Bekanntgabe oder Mitteilung demjenigen, der von dem Vorliegen einer ihn betreffenden Handlung erfährt, obliegt, binnen angemessener Frist ihren vollständigen Wortlaut anzufordern, wobei die Klagefrist erst zu dem Zeitpunkt zu laufen beginnt, zu dem der betroffene Dritte genaue Kenntnis vom Inhalt und von der Begründung der fraglichen Handlung erlangt (Urteil vom 6. Dezember 1990 in der Rechtssache C-180/88, Wirtschaftsvereinigung Eisen- und Stahlindustrie/Kommission, Slg. 1990, I-4413). Die Stellung der Kommission könne nämlich im vorliegenden Fall nicht mit derjenigen eines Dritten in einem Verfahren im Bereich Wettbewerb oder staatliche Beihilfen verglichen werden.

12 Demgegenüber vertritt die Kommission, die auf der Tagung des Rates vom 19. bis 22. Juni 1995 zugegen war, die Auffassung, ihre Klage sei zulässig, da der Beschluß zu den Handlungen gehöre, die nach Artikel 191 Absatz 3 des Vertrages erst mit dem Zeitpunkt ihrer Bekanntgabe wirksam würden. Hilfsweise macht die Kommission geltend, sie habe erst am 1. August 1995 genaue Kenntnis von den Gründen des Beschlusses erlangt, als sie das Schreiben des Rates vom 27. Juli 1995 erhalten habe, das sie über die Bekanntgabe des Beschlusses unterrichtet habe.

13 Nach Artikel 173 Absatz 5 des Vertrages sind die in diesem Artikel vorgesehenen Klagen binnen zwei Monaten zu erheben; diese Frist läuft je nach Lage des Falles von der Bekanntgabe der betreffenden Handlung, ihrer Mitteilung an den Kläger oder in Ermangelung dessen von dem Zeitpunkt an, zu dem der Kläger von dieser Handlung Kenntnis erlangt hat.

14 Es steht fest, daß der Beschluß nicht im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften veröffentlicht worden ist.

15 Nach Artikel 191 Absatz 3 des Vertrages werden die anderen als die nach Absatz 1 im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften veröffentlichten Entscheidungen denjenigen, für die sie bestimmt sind, bekanntgegeben und werden durch diese Bekanntgabe wirksam.

16 Nach Artikel 2 des Beschlusses war dieser für die Französische Republik bestimmt. Er wurde der französischen Regierung durch Schreiben des Generalsekretärs des Rates vom 27. Juli 1995 zugestellt.

17 Da der Beschluß weder im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften veröffentlicht noch der Kommission als Adressatin zugestellt wurde, konnte die Zweimonatsfrist für dieses Organ erst an dem Tag beginnen, an dem es von diesem Beschluß Kenntnis erlangte.

18 Hierzu ist daran zu erinnern, daß es nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes in Ermangelung einer Bekanntgabe oder Mitteilung demjenigen, der von dem Vorliegen einer ihn betreffenden Handlung erfährt, obliegt, binnen angemessener Frist ihren vollständigen Wortlaut anzufordern, wobei die Klagefrist erst zu dem Zeitpunkt zu laufen beginnen kann, zu dem der betroffene Dritte genaue Kenntnis vom Inhalt und von der Begründung der fraglichen Handlung erlangt, so daß er sein Klagerecht ausüben kann (zitiertes Urteil Wirtschaftsvereinigung Eisen- und Stahlindustrie, Randnr. 22).

19 Daher ist zu prüfen, ab welchem Zeitpunkt die Kommission genaue Kenntnis vom Inhalt und von der Begründung der Handlung hatte.

20 Wie sich aus den Akten ergibt, verfügten die Mitglieder des Rates und der Kommission bereits am 16. Juni 1995 über den Entwurf eines Beschlusses des Rates über die Gewährung einer Sonderbeihilfe für die Erzeuger von Tafelwein in Frankreich (Dokument 8100/95 Agri 62).

21 Ferner ergibt sich aus Punkt 9 des Auszugs aus dem vom Generalsekretariat der Kommission erstellten und als Anlage VI zur Klageschrift beigefügten Protokoll der 1858. Tagung des Rates "Landwirtschaft" vom 19. bis 22. Juni 1995 in Brüssel, daß der Rat diesen Beschlussentwurf einstimmig angenommen hat. Dieses Dokument gibt ferner die Debatte wieder, die zu dem Beschluß geführt hat, führt die Argumente der französischen Regierung an und vermerkt die Zweifel, die einige Mitgliedstaaten wie auch der zuständige Kommissar im Hinblick auf die Frage geltend gemacht haben, ob es angebracht ist, dem Antrag der Französischen Republik stattzugeben.

22 Daraus folgt, daß die Kommission spätestens am Tag der Erstellung dieses Protokolls, d. h. am 23. Juni 1995, genaue Kenntnis von dem Beschluß hatte. Die ihr für die Klageerhebung gesetzte Frist begann daher am 24. Juni 1995 und lief - die Entfernungsfrist eingerechnet - am 26. August 1995 ab.

23 Da die Klageschrift am 29. September 1995 eingereicht worden ist, ist die Klage als unzulässig abzuweisen.

Kostenentscheidung:

Kosten

24 Gemäß Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kommission mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr die Kosten aufzuerlegen. Nach Artikel 69 § 4 der Verfahrensordnung hat die dem Rechtsstreit als Streithelferin zur Unterstützung der Anträge des Rates beigetretene Französische Republik ihre eigenen Kosten zu tragen.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

(Sechste Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

1. Die Klage wird als unzulässig abgewiesen.

2. Die Kommission trägt die Kosten des Verfahrens.

3. Die Französische Republik trägt ihre eigenen Kosten.

Ende der Entscheidung

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