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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 02.08.1993
Aktenzeichen: C-31/92
Rechtsgebiete: EWGV, VO Nr. 1408/71/EWG


Vorschriften:

EWGV Art. 177
EWGV Art. 51
VO Nr. 1408/71/EWG Art. 12
VO Nr. 1408/71/EWG Art. 46
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Artikel 12 Absatz 2 und Artikel 46 der Verordnung Nr. 1408/71 schließen es nicht aus, daß bei der Festsetzung einer Rente allein nach den nationalen Rechtsvorschriften eine nationale Antikumulierungsvorschrift angewandt wird. Diese Artikel schließen jedoch eine solche Anwendung bei der Festsetzung einer Rente nach den Bestimmungen des Artikels 46 aus.

Im Rahmen der Berechnung einer Rente gemäß Artikel 46 findet die in Absatz 3 dieses Artikels enthaltene Antikumulierungsvorschrift, die den Zweck hat, ungerechtfertigte Kumulierungen zu verhindern, die sich insbesondere aus der Überschneidung von Versicherungszeiten und gleichgestellten Zeiten ergeben, auf den Fall keine Anwendung, daß eine Person, die während desselben Zeitraums in zwei Mitgliedstaaten gearbeitet hat und während dieses Zeitraums verpflichtet war, Beiträge zur Altersversicherung in diesen beiden Mitgliedstaaten zu entrichten. Unter dieser Voraussetzung kann die Rente, die ihm in einem Mitgliedstaat gewährt wird, nicht aus dem Grund herabgesetzt werden, daß gleichzeitig eine Rente in einem anderen Mitgliedstaat bezogen wird.


URTEIL DES GERICHTSHOFES VOM 2. AUGUST 1993. - MARIUS LARSY GEGEN INSTITUT NATIONAL D'ASSURANCES SOCIALES POUR TRAVAILLEURS INDEPENDANTS. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: TRIBUNAL DU TRAVAIL DE TOURNAI - BELGIEN. - ALTERSRENTEN - NATIONALE UND GEMEINSCHAFTSRECHTLICHE ANTIKUMULIERUNGSVORSCHRIFTEN. - RECHTSSACHE C-31/92.

Entscheidungsgründe:

1 Das Tribunal du travail Tournai hat mit Urteil vom 28. Januar 1992, beim Gerichtshof eingegangen am 6. Februar 1992, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag zwei Fragen nach der Auslegung des Artikels 51 EWG-Vertrag und der Artikel 12 und 46 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige in der durch die Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 (ABl. L 230, S. 6) kodifizierten Fassung zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit über die Herabsetzung des Betrages der Rente, die Herrn Larsy vom Institut national d' assurances sociales pour travailleurs indépendants (INASTI) gewährt wird.

3 Herr Larsy, der Kläger des Ausgangsverfahrens, ist ein belgischer Staatsangehöriger, der in Belgien nahe der französischen Grenze wohnt. Er übte in Belgien und in Frankreich eine selbständige Tätigkeit als Baumschulgärtner aus. Der grössere Teil seines Betriebes befand sich in Belgien.

4 Vom 1. Januar 1944 bis 31. Dezember 1988 entrichtete Herr Larsy Beiträge zum Altersruhegeldsystem nach belgischem Recht. Vom 1. Januar 1964 bis 31. Dezember 1977 war er trotz seines Widerstands gezwungen, auch in Frankreich Beiträge zu entrichten. Ausserdem musste er während eines kürzeren Zeitraums für seine französischen Einkünfte sowohl in Belgien als auch in Frankreich Sozialabgaben leisten.

5 Am 20. Juni 1989 wurde Herrn Larsy vom INASTI eine Altersrente entsprechend einer vollständigen Berufslaufbahn (vom 1. Januar 1944 bis 31. Dezember 1988) von jährlich 222 333 BFR, zahlbar ab 1. Oktober 1989, bewilligt. Am 6. März 1991 stellte das INASTI fest, daß die Bewilligung einer französischen Rente an den Betroffenen entsprechend der Versicherungszeit vom 1. Januar 1964 bis 31. Dezember 1977 gemäß Artikel 19 des Arrêté royal Nr. 72 vom 10. November 1967 über die Ruhestands- und Hinterbliebenenrente für selbständig Tätige (Moniteur belge vom 14. November 1967) in der insbesondere durch Gesetz vom 6. Februar 1976 (Moniteur belge vom 11. Februar 1976) und durch Gesetz vom 15. Mai 1984 (Moniteur belge vom 22. Mai 1984) geänderten Fassung eine Herabsetzung des Betrages der belgischen Rente rechtfertige, so daß Herr Larsy nur noch zum Bezug eines jährlichen Betrages von 156 225 BFR, zahlbar ab 1. Oktober 1989, berechtigt sei.

6 Das mit einer Klage gegen die Entscheidung des INASTI vom 6. März 1991 befasste Tribunal du travail Tournai war der Ansicht, daß der Rechtsstreit Fragen nach der Auslegung des Gemeinschaftsrechts aufwerfe, und hat dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1) Ist Artikel 19 des Arrêté royal Nr. 72 vom 10. November 1967 über die Alters- und Hinterbliebenenrente für selbständig Tätige mit der Zielsetzung von Artikel 12 der Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 vom 2. Juni 1983 vereinbar?

2) Ist Artikel 19 des Arrêté royal Nr. 72 vom 10. November 1967 mit Artikel 51 des Römischen Vertrages vereinbar?

7 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts und des rechtlichen Rahmens des Ausgangsverfahrens sowie der beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen wird auf den Bericht des Berichterstatters verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

8 Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß es nach ständiger Rechtsprechung im Rahmen des Artikels 177 EWG-Vertrag nicht Sache des Gerichtshofes ist, über die Vereinbarkeit einer nationalen Regelung mit dem Gemeinschaftsrecht zu entscheiden; er ist jedoch befugt, dem nationalen Gericht alle Hinweise zur Auslegung dieses Rechts zu geben, die es diesem ermöglichen, bei der Entscheidung des bei ihm anhängigen Verfahrens die Frage der Vereinbarkeit zu beurteilen (vgl. z. B. Urteil vom 18. Juni 1991 in der Rechtssache C-369/89, Piageme, Slg. 1989, I-2971, Randnr. 7).

9 Den Entscheidungsgründen des Vorlageurteils ist zu entnehmen, daß das nationale Gericht mit seiner ersten Frage im wesentlichen wissen möchte, ob Artikel 12 Absatz 2 und Artikel 46 der Verordnung Nr. 1408/71 es ausschließen, daß die einem Arbeitnehmer in einem Mitgliedstaat gewährte Rente aus dem Grund herabgesetzt wird, weil er gleichzeitig eine Rente in einem anderen Mitgliedstaat erhält, wenn der Betroffene während ein und desselben Zeitraums Beiträge zur Altersversicherung in diesen beiden Mitgliedstaaten entrichtet hat.

10 Zur Beantwortung dieser Frage sind zunächst die Voraussetzungen zu prüfen, unter denen es gemäß Artikel 12 Absatz 2 und Artikel 46 der Verordnung Nr. 1408/71 erlaubt ist, eine nationale Antikumulierungsvorschrift anzuwenden.

11 Dazu ist darauf hinzuweisen, daß nach ständiger Rechtsprechung (vgl. zuletzt Urteil vom 11. Juni 1992 in den Rechtssachen C-90/91 und C-91/91, Di Crescenzo und Casagrande, Slg. 1992, I-3851, Randnr. 15) dann, wenn der Wanderarbeitnehmer eine Rente nur nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats bezieht, es die Bestimmungen der Verordnung Nr. 1408/71 nicht verbieten, daß diese nationalen Rechtsvorschriften vollständig, einschließlich der Antikumulierungsvorschriften, auf ihn angewandt werden.

12 Aus dieser Rechtsprechung (vgl. Urteil Di Crescenzo und Casagrande, a. a. O., Randnr. 16) ergibt sich jedoch auch, daß, wenn die alleinige Anwendung der Rechtsvorschriften des betroffenen Mitgliedstaats sich für den Arbeitnehmer als weniger günstig erweist als die des in Artikel 46 der Verordnung Nr. 1408/71 vorgesehenen Gemeinschaftssystems, die Bestimmungen dieses Artikels insgesamt anzuwenden sind.

13 Der zuständige Träger hat daher einen Vergleich anzustellen zwischen den Leistungen, auf die ein Anspruch allein nach dem nationalen Recht einschließlich seiner Antikumulierungsvorschriften besteht, und denjenigen, die bei Anwendung des Gemeinschaftsrechts einschließlich der Antikumulierungsvorschrift des Artikels 46 Absatz 3 der Verordnung Nr. 1408/71 beansprucht werden könnten, und dem Wanderarbeitnehmer die Leistung zu gewähren, deren Betrag am höchsten ist.

14 Nach Artikel 12 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1408/71 sind Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats, in denen für den Fall des Zusammentreffens einer Leistung mit anderen Leistungen der sozialen Sicherheit, die nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats erworben wurden, vorgesehen ist, daß die Leistungen gekürzt werden, dann nicht anwendbar, wenn der Berechtigte Leistungen gleicher Art bei Alter erhält, die gemäß Artikel 46 dieser Verordnung festgestellt werden.

15 Die Berechnung des Leistungsbetrags nach Artikel 46 Absätze 1 und 2 der Verordnung Nr. 1408/71 hat in drei Abschnitten zu erfolgen, die in Randnummer 19 des erwähnten Urteils vom 11. Juni 1992 beschrieben sind.

16 In einem vierten Abschnitt wird die Antikumulierungsvorschrift des Artikels 46 Absatz 3 der Verordnung Nr. 1408/71 angewandt, nach der die Summe aller ° selbständigen und proratisierten ° Leistungen, die der Arbeitnehmer erhalten kann, den höchsten der Leistungsbeträge nicht übersteigen darf, der von einem der Mitgliedstaaten geschuldet würde, wenn der Arbeitnehmer dort sein gesamtes Berufsleben verbracht hätte.

17 Im vorliegenden Fall ist zu prüfen, ob die Anwendung dieser Antikumulierungsvorschrift auch dann geboten ist, wenn der Empfänger der Altersrente während desselben Zeitraums Beiträge in mehreren Mitgliedstaaten entrichtet hat.

18 Insoweit ist daran zu erinnern, daß die in Artikel 46 Absatz 3 enthaltene Antikumulierungsvorschrift dem in der achten Begründungserwägung der Verordnung Nr. 1408/71 erwähnten Ziel entspricht, ungerechtfertigte Kumulierungen zu verhindern, die sich insbesondere aus der Überschneidung von Versicherungszeiten und gleichgestellten Zeiten ergeben.

19 Wenn aber ein Arbeitnehmer während ein und desselben Zeitraums gezwungen war, Beiträge zur Altersversicherung in zwei Mitgliedstaaten zu entrichten, kann die Kumulierung der beiden Renten, die er aufgrund dieser Beiträge beanspruchen kann, nicht als ungerechtfertigt angesehen werden.

20 Zwar hat der Gerichtshof entschieden, daß die Antikumulierungsvorschrift des Artikels 46 Absatz 3 der Verordnung Nr. 1408/71 in allen Fällen anwendbar ist, in denen die Summe der nach den Absätzen 1 und 2 berechneten Leistungsbeträge den höchsten der theoretischen Rentenbeträge überschreitet, selbst wenn sich die Überschreitung dieser Obergrenze nicht aus einer Überschneidung von Versicherungszeiten ergibt (vgl. Urteil vom 17. Dezember 1987 in der Rechtssache 323/86, Collini, Slg. 1987, 5489, Randnr. 13).

21 Jedoch unterscheidet sich, wie der Generalanwalt in den Nummern 29 und 30 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, der Sachverhalt des Rechtsstreits, der zu diesem Urteil geführt hat, eindeutig von dem in der vorliegenden Rechtssache, da er das Problem fiktiver Versicherungsjahre und ihr Verhältnis zu Versicherungszeiten nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats betraf.

22 Somit ist festzustellen, daß der Zweck des Artikels 46 Absatz 3 der Verordnung Nr. 1408/71 es ausschließt, daß die darin enthaltene Antikumulierungsvorschrift insoweit angewandt wird, als eine Person während desselben Zeitraums in zwei Mitgliedstaaten gearbeitet hat und während dieses Zeitraums Beiträge zur Altersversicherung in diesen beiden Mitgliedstaaten entrichten musste.

23 Auf die Frage des vorlegenden Gerichts ist daher zu antworten, daß Artikel 12 Absatz 2 und Artikel 46 der Verordnung Nr. 1408/71 es nicht ausschließen, daß bei der Festsetzung einer Rente allein nach den nationalen Rechtsvorschriften eine nationale Antikumulierungsvorschrift angewandt wird. Diese Artikel schließen jedoch eine solche Anwendung bei der Festsetzung einer Rente nach den Bestimmungen des Artikels 46 aus. Artikel 46 Absatz 3 dieser Verordnung ist so auszulegen, daß die darin enthaltene Antikumulierungsvorschrift insoweit nicht anwendbar ist, als eine Person während desselben Zeitraums in zwei Mitgliedstaaten gearbeitet hat und während dieses Zeitraums verpflichtet war, Beiträge zur Altersversicherung in diesen Mitgliedstaaten zu entrichten.

24 Angesichts dieser Antwort braucht über die zweite Vorabentscheidungsfrage nicht entschieden zu werden.

Kostenentscheidung:

Kosten

25 Die Auslagen der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben hat, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)

auf die ihm vom Tribunal du travail Tournai mit Urteil vom 28. Januar 1992 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

Artikel 12 Absatz 2 und Artikel 46 der Verordnung Nr. 1408/71 schließen es nicht aus, daß bei der Festsetzung einer Rente allein nach den nationalen Rechtsvorschriften eine nationale Antikumulierungsvorschrift angewandt wird. Diese Artikel schließen jedoch eine solche Anwendung bei der Festsetzung einer Rente nach den Bestimmungen des Artikels 46 aus. Artikel 46 Absatz 3 dieser Verordnung ist so auszulegen, daß die darin enthaltene Antikumulierungsvorschrift insoweit nicht anwendbar ist, als eine Person während desselben Zeitraums in zwei Mitgliedstaaten gearbeitet hat und während dieses Zeitraums verpflichtet war, Beiträge zur Altersversicherung in diesen Mitgliedstaaten zu entrichten.

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