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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 05.06.2008
Aktenzeichen: C-312/07
Rechtsgebiete: Verordnung (EWG) Nr. 2913/92


Vorschriften:

Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 Art. 220 Abs. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Siebte Kammer)

5. Juni 2008

"Gemeinsamer Zolltarif - Tarifierung - Kombinierte Nomenklatur - Camcorder - Erläuterungen - Rechtsnatur"

Parteien:

In der Rechtssache C-312/07

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht mit Entscheidung des Tribunal d'instance du XIe arrondissement de Paris (Frankreich) vom 23. Januar 2007, beim Gerichtshof eingegangen am 6. Juli 2007, in dem Verfahren

JVC France SAS

gegen

Administration des douanes (Direction nationale du renseignement et des enquêtes douanières)

erlässt

DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten U. Lõhmus sowie des Richters J. Klucka und der Richterin P. Lindh (Berichterstatterin),

Generalanwältin: V. Trstenjak,

Kanzler: H. von Holstein, Hilfskanzler,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 6. März 2008,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

- der JVC France SAS, vertreten durch F. Goguel und F. Foucault, avocats,

- der französischen Regierung, vertreten durch G. de Bergues und A.-L. During als Bevollmächtigte,

- der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch J.-P. Keppenne und S. Schønberg als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

Entscheidungsgründe:

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Unterpositionen 8525 40 91 und 8525 40 99 der Kombinierten Nomenklatur in Anhang I der Verordnung (EWG) Nr. 2658/87 des Rates vom 23. Juli 1987 über die zolltarifliche und statistische Nomenklatur sowie den Gemeinsamen Zolltarif (ABl. L 256, S. 1) in der durch die Verordnungen (EG) Nr. 2261/98 der Kommission vom 26. Oktober 1998 (ABl. L 292, S. 1), Nr. 2204/1999 der Kommission vom 12. Oktober 1999 (ABl. L 278, S. 1), Nr. 2388/2000 der Kommission vom 13. Oktober 2000 (ABl. L 264, S. 1) und Nr. 2031/2001 der Kommission vom 6. August 2001 (ABl. L 279, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: KN) sowie die Rechtsnatur der Erläuterungen zur Kombinierten Nomenklatur der Europäischen Gemeinschaften (im Folgenden: Erläuterungen), veröffentlicht gemäß Art. 9 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2658/87.

2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits der JVC France SAS (im Folgenden: JVC) gegen die französische Zollverwaltung wegen Zöllen, die die Letztgenannte von JVC fordert und die die Einfuhr von digitalen Camcordern aus Japan und Singapur betreffen.

Rechtlicher Rahmen

Der Zollkodex

3 Art. 220 Abs. 1 der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates vom 12. Oktober 1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften (ABl. L 302, S. 1; im Folgenden: Zollkodex) lautet:

"Ist der einer Zollschuld entsprechende Abgabenbetrag nicht nach den Artikeln 218 und 219 buchmäßig erfasst oder mit einem geringeren als dem gesetzlich geschuldeten Betrag buchmäßig erfasst worden, so hat die buchmäßige Erfassung des zu erhebenden Betrags oder des nachzuerhebenden Restbetrags innerhalb von zwei Tagen nach dem Tag zu erfolgen, an dem die Zollbehörden diesen Umstand feststellen und in der Lage sind, den gesetzlich geschuldeten Betrag zu berechnen sowie den Zollschuldner zu bestimmen (nachträgliche buchmäßige Erfassung). Diese Frist kann nach Artikel 219 verlängert werden."

4 Art. 239 des Zollkodex bestimmt:

"(1) Einfuhr- oder Ausfuhrabgaben können in anderen als den in den Artikeln 236, 237 und 238 genannten Fällen erstattet oder erlassen werden; diese Fälle

- werden nach dem Ausschussverfahren festgelegt;

- ergeben sich aus Umständen, die nicht auf betrügerische Absicht oder offensichtliche Fahrlässigkeit des Beteiligten zurückzuführen sind. Nach dem Ausschussverfahren wird festgelegt, in welchen Fällen diese Bestimmung angewandt werden kann und welche Verfahrensvorschriften dabei zu beachten sind. Die Erstattung oder der Erlass kann von besonderen Voraussetzungen abhängig gemacht werden.

(2) Die Erstattung oder der Erlass der Abgaben aus den in Absatz 1 genannten Gründen erfolgt auf Antrag; dieser ist innerhalb von zwölf Monaten nach der Mitteilung der Abgaben an den Zollschuldner bei der zuständigen Zollstelle zu stellen.

Jedoch können

- in begründeten Ausnahmefällen die Zollbehörden diese Frist verlängern,

..."

Die KN

5 Die durch die Verordnung Nr. 2658/87 eingeführte KN beruht auf dem weltweiten Harmonisierten System zur Bezeichnung und Codierung der Waren (im Folgenden: HS), das vom Rat für die Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Zollwesens, jetzt Weltzollorganisation, ausgearbeitet und durch das am 14. Juni 1983 in Brüssel geschlossene internationale Übereinkommen eingeführt wurde, das im Namen der Gemeinschaft mit dem Beschluss 87/369/EWG des Rates vom 7. April 1987 (ABl. L 198, S. 1) genehmigt wurde. Die KN übernimmt die Positionen und sechsstelligen Unterpositionen des HS; nur die siebte und die achte Stelle bilden eigene Unterteilungen.

6 Teil II der KN umfasst einen Abschnitt XVI, der ein Kapitel 85 mit der Überschrift "Elektrische Maschinen, Apparate, Geräte und andere elektrotechnische Waren, Teile davon; Tonaufnahme- oder Tonwiedergabegeräte, Bild- und Tonaufzeichnungs- oder -wiedergabegeräte, für das Fernsehen, Teile und Zubehör für diese Geräte" enthält.

7 Die Position 8525 40 mit der Überschrift "Standbild-Videokameras; digitale Einzelbild-Videokameras und andere Videokameraaufnahmegeräte" enthält die Unterposition 8525 40 91 "andere Videokameraaufnahmegeräte: nur mit Aufzeichnungsmöglichkeit des durch die Kamera aufgenommenen Tons und Bildes" und die Unterposition 8525 40 99 "andere".

8 Der Wortlaut der Unterpositionen 8525 40 91 und 8525 40 99 stimmt in den Verordnungen Nrn. 2261/98, 2204/1999, 2263/2000 und 2031/2001 überein.

9 Auf Camcorder der Unterposition 8525 40 91 wird eine Abgabe von 4,9 % und auf solche der Unterposition 8525 40 99 eine Abgabe von 14 % erhoben.

Die Erläuterungen

10 Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften veröffentlicht gemäß Art. 9 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2658/87 im Amtsblatt der Europäischen Union regelmäßig "Erläuterungen zur Kombinierten Nomenklatur der Europäischen Gemeinschaften".

11 Die am 15. September 1998 (ABl. C 287, S. 1) und am 13. Juli 2000 (ABl. C 199, S. 1) veröffentlichten Erläuterungen sahen für die Unterposition 8525 40 99 Folgendes vor:

"andere

Hierher gehören 'Camcorder' genannte Gerätekombinationen aus Videokamera und Videogerät zur Bild- und Tonaufzeichnung oder -wiedergabe, mit denen nicht nur die von der Kamera aufgenommenen Bilder, sondern auch Fernsehprogramme aufgezeichnet werden können. Die aufgezeichneten Bilder können über ein externes Fernsehempfangsgerät wiedergegeben werden.

Dagegen gehören 'Camcorder', mit denen nur die von der Videokamera aufgenommenen Bilder aufgezeichnet werden und über ein externes Fernsehempfangsgerät wiedergegeben werden können, zu Unterposition 8525 40 9l."

12 Die Erläuterungen zur KN wurden später durch die Mitteilung der Kommission vom 6. Juli 2001 (ABl. C 190, S. 10) geändert. Bei der Unterposition 8525 40 99 wurde der vorherige Wortlaut beibehalten und ein zweiter Absatz eingefügt:

"Hierher gehören auch 'Camcorder', bei denen der Videoeingang durch eine Abdeckung (Blende) oder auf andere Weise verschlossen ist oder bei denen der Videoanschluss erst nachträglich mit Hilfe von Software als Videoeingang aktiviert werden kann. Die Geräte sind aufgrund ihrer Beschaffenheit trotzdem in der Lage, Fernsehprogramme und andere extern eingehende Videosignale aufzuzeichnen."

13 Aufgrund einer Mitteilung der Kommission vom 23. Oktober 2002 (ABl. C 256, S. 1) wurde der letzte Satz dieses Textes leicht geändert:

"... Fernsehprogramme oder andere extern eingehende Videosignale aufzuzeichnen".

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

14 Aufgrund einer Ermittlung beanstandete die Zollverwaltung die tarifliche Einreihung, die JVC bei der Einfuhr digitaler Camcorder zweier Kategorien aus Japan und Singapur gewählt hatte.

15 Mit einem ersten Protokoll vom 11. Oktober 2002 stellten die Zollbeamten fest, dass JVC vom 29. Juni 1999 bis zum 23. Juli 2001 Camcorder eingeführt hatte, die mit einem aktivierten "DV-in/out"-Ein- und -Ausgang versehen waren. Ein derartiger Camcorder erlaubt die Bild- und Tonaufnahme, aber auch die Aufzeichnung eines extern eingehenden Signals dank einer besonderen Verbindung. Er kann unmittelbar mit einem Computer verbunden werden, um auf diesen digitalisierte Videobilder zu übertragen, die mit ihm gefilmt wurden (DV-out-Funktion), und umgekehrt kann der Camcorder digitale Sequenzen jeglichen Ursprungs, die im Computer behandelt wurden, wie beispielsweise einen Videoschnitt, aufzeichnen (DV-in-Funktion).

16 Nach Ansicht der Zollbeamten war die zutreffende Tarifposition insoweit die Unterposition 8525 40 99 und nicht die von JVC gewählte Unterposition 8525 40 91.

17 JVC focht diese Einreihung nicht an und zahlte den Betrag der hinterzogenen Abgaben. Sie beantragte jedoch die Erstattung der Abgaben gemäß Art. 239 des Zollkodex und machte zur Begründung geltend, dass der Irrtum auf einer Änderung der Praxis der Gemeinschaft beruhe. Dieser Antrag wurde mit einem ersten Bescheid vom 16. Dezember 2004 abgelehnt.

18 Mit einem zweiten Protokoll vom 11. Oktober 2002 stellten die Zollbeamten fest, dass JVC vom 22. Juni 1999 bis zum 28. August 2002 digitale Camcorder eingeführt habe, bei denen nur die DV-out-Funktion aktiviert gewesen sei, während die DV-in-Funktion nach der zollamtlichen Abfertigung habe aktiviert werden können.

19 Auch insoweit hielten die Zollbeamten die Unterposition 8525 40 99 und nicht die von JVC gewählte Unterposition 8525 40 91 für die zutreffende Tarifposition und erließen einen Erhebungsbescheid vom 6. Januar 2004. JVC legte gegen diesen Bescheid Einspruch ein und beantragte die Erstattung der Abgaben. Dieser letztgenannte Antrag wurde mit einem zweiten Bescheid vom 16. Dezember 2004 abgelehnt.

20 JVC erhob daraufhin zwei Klagen beim Tribunal d'instance du XIe arrondissement de Paris.

21 Mit der ersten Klage, die am 7. März 2005 eingereicht wurde, beantragte JVC die Aufhebung des Erhebungsbescheids vom 6. Januar 2004 mit der Begründung, dass die betreffenden Camcorder in die Unterposition 8525 40 91 einzureihen seien.

22 Mit der zweiten Klage, die am 2. Februar 2006 eingereicht wurde, beantragte JVC die Aufhebung der beiden Bescheide vom 16. Dezember 2004, mit denen die Anträge auf Abgabenerstattung abgelehnt worden waren. JVC machte geltend, die Erhebungen seien die Folge einer Änderung der Gemeinschaftspraxis aufgrund der Veröffentlichung von Änderungen der Erläuterungen der KN. Diese Änderung stelle somit einen besonderen Umstand im Sinne von Art. 239 des Zollkodex dar.

23 Im Verfahren vor dem Tribunal d'instance machte JVC geltend, dass die Einführer und die Zollbehörden vor 2001 Camcorder, die zum Zeitpunkt ihrer Einfuhr nur über die aktivierte DV-out-Funktion verfügt hätten, in die Unterposition 8525 40 91 eingereiht hätten. Erst nach der Änderung der Erläuterungen durch die Mitteilung der Kommission vom 6. Juli 2001 sei die Praxis der Zollbehörden geändert worden. Die deutschen und die britischen Zollbehörden hätten beschlossen, diese neue Auslegung nur bei Einfuhren nach dem 6. Juli 2001 anzuwenden, während die französischen Zollbehörden eine rückwirkende Anwendung dieser Auslegung beschlossen hätten, was gegen den Zollkodex verstoße.

24 Unter diesen Voraussetzungen hat das Tribunal d'instance du XIe arrondissement de Paris die beiden Klagen verbunden, das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Ist ein Camcorder, der bei der Einfuhr nicht in der Lage ist, Videosignale aus einer externen Quelle aufzuzeichnen, in die Unterposition 8525 40 99 einzureihen, wenn bei ihm der Videoanschluss nachträglich mit Hilfe einer Software oder eines Freischalters (Widget) als Videoeingang eingerichtet werden kann, wenn dieses Gerät mit elektronischen Schaltkreisen ausgerüstet ist, die es ihm nach der Neueinrichtung ermöglichen, ein Videosignal aus einer externen Quelle aufzuzeichnen, obwohl der Hersteller und der Verkäufer auf diese Möglichkeit weder hingewiesen haben noch sie unterstützen?

2. Falls die erste Frage zu bejahen ist: Durfte die Kommission, da die aufeinanderfolgenden Änderungen der Erläuterungen zu einer Änderung der Gemeinschaftspraxis bei der Tarifierung der Camcorder und einer Ausnahme von dem Grundsatz führen, wonach die Tarifierung der Waren anhand ihrer tatsächlichen Merkmale zum Zeitpunkt der Abfertigung zu erfolgen hat, diese Änderung zu Recht durch eine Änderung der Erläuterungen, die also rückwirkend gilt, anstatt durch Erlass einer nur für die Zukunft anwendbaren Tarifierungsverordnung vornehmen?

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

25 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob für die Tarifierung der Camcorder die Möglichkeit berücksichtigt werden kann oder muss, die DV-in-Funktion freizuschalten, wenn diese Freischaltung zwar nicht zum Zeitpunkt der Zollabfertigung erfolgt ist, jedoch durch eine Manipulation oder durch Hinzufügen einer Software nachträglich erfolgen kann. Darüber hinaus möchte es wissen, ob es von Belang ist, dass der Hersteller auf diese Möglichkeit zum Zeitpunkt der Zollabfertigung weder hingewiesen noch sie unterstützt hat.

26 Mit dem Urteil vom 27. September 2007, Medion und Canon Deutschland (C-208/06 und C-209/06, Slg. 2007, I-7963), hat der Gerichtshof eine Vorabentscheidungsfrage beantwortet, die mit der Frage des vorlegenden Gerichts übereinstimmt. Auf diese Frage ist somit die gleiche Antwort zu geben.

27 Daher ist auf die erste Frage zu antworten, dass ein Camcorder nur dann in die Unterposition 8525 40 99 KN einzureihen ist, wenn zum Zeitpunkt der Zollabfertigung die Funktion zur Aufzeichnung von Bild- und Tonaufnahmen aus anderen Quellen als mittels der eingebauten Kamera oder des eingebauten Mikrofons freigeschaltet ist oder wenn diese Funktion, selbst wenn der Hersteller nicht auf dieses Merkmal hinweisen wollte, nachträglich von einem Benutzer ohne besondere Kenntnisse leicht freigeschaltet werden kann, ohne dass der Camcorder materiell verändert wird. Im Fall einer nachträglichen Freischaltung ist außerdem erforderlich, dass der Camcorder zum einen nach der Freischaltung in der gleichen Weise funktioniert wie ein Camcorder, bei dem die Funktion zur Aufzeichnung von Bild- und Tonaufnahmen aus anderen Quellen als mittels der eingebauten Kamera oder des eingebauten Mikrofons zum Zeitpunkt der Zollabfertigung aktiv ist, und dass er zum anderen autonom funktioniert. Das Vorliegen dieser Voraussetzungen muss zum Zeitpunkt der Zollabfertigung geprüft werden können. Es ist Sache des nationalen Gerichts, festzustellen, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind. Sind sie nicht erfüllt, ist dieser Camcorder in die Unterposition 8525 40 91 KN einzureihen.

Zur zweiten Frage

28 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, welche rechtlichen Wirkungen Änderungen der Erläuterungen zur KN, insbesondere in Bezug auf die Einreihung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Waren, haben und ob die Kommission nicht eine neue Einreihungsverordnung hätte erlassen müssen, statt die bestehende Verordnung auszulegen.

Zur Zulässigkeit der Frage

29 Nach Ansicht der Kommission ist die Frage unzulässig, weil hypothetisch und für die Entscheidung des Rechtsstreits nicht zweckdienlich. Änderungen der Erläuterungen zur KN stellten keine Änderungen im Vergleich zu einer vorherigen Rechtslage dar. Diese Erläuterungen hätten als solche keine rechtliche Wirkung. Ihre Änderung habe daher keine Auswirkungen auf die Rechte der Wirtschaftsteilnehmer. Schließlich enthalte die Vorlageentscheidung zu wenig Tatsachenangaben, als dass der Gerichtshof die Frage erweitern und gegebenenfalls umformulieren könnte.

30 In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass es nach ständiger Rechtsprechung allein Sache des mit dem Rechtsstreit befassten nationalen Gerichts ist, in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende gerichtliche Entscheidung fällt, im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung zum Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof von ihm vorgelegten Fragen zu beurteilen (vgl. insbesondere Urteile vom 15. Dezember 1995, Bosman, C-415/93, Slg. 1995, I-4921, Randnr. 59, und vom 15. Juni 2006, Acereda Herrera, C-466/04, Slg. 2006, I-5341, Randnr. 47).

31 Der Gerichtshof kann die Frage eines nationalen Gerichts nur dann zurückweisen, wenn offensichtlich ist, dass die Auslegung oder die Beurteilung der Gültigkeit einer Gemeinschaftsvorschrift, um die das vorlegende Gericht ersucht, in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht oder wenn das Problem hypothetischer Natur ist (vgl. Urteile Bosman, Randnr. 61, und Acereda Herrera, Randnr. 48).

32 Im Ausgangsverfahren ist das vorlegende Gericht mit einer auf Art. 239 Abs. 1 des Zollkodex gestützten Klage auf Erstattung von Zöllen befasst und muss daher ermitteln, ob nicht auf betrügerische Absicht oder offensichtliche Fahrlässigkeit von JVC zurückzuführende Umstände vorliegen, die eine besondere Situation darstellen können. In diesem Zusammenhang erscheint die Frage nach der Rechtsnatur der Erläuterungen der KN erheblich. Die Frage ist daher zulässig.

Zur Begründetheit

33 Nach ständiger Rechtsprechung ist das entscheidende Kriterium für die zollrechtliche Tarifierung von Waren im Interesse der Rechtssicherheit und der leichten Nachprüfbarkeit allgemein in deren objektiven Merkmalen und Eigenschaften zu suchen, wie sie im Wortlaut der Positionen der KN und in den Anmerkungen zu den Abschnitten oder Kapiteln festgelegt sind (vgl. u. a. Urteile vom 26. September 2000, Eru Portuguesa, C-42/99, Slg. 2000, I-7691, Randnr. 13, vom 15. September 2005, Intermodal Transports, C-495/03, Slg. 2005, I-8151, Randnr. 47, vom 8. Dezember 2005, Possehl Erzkontor, C-445/04, Slg. 2005, I-10721, Randnr. 19, und vom 16. Februar 2006, Proxxon, C-500/04, Slg. 2006, I-1545, Randnr. 21).

34 Wie der Gerichtshof ebenfalls entschieden hat, tragen die Erläuterungen zur KN und diejenigen zum HS jeweils erheblich zur Auslegung der einzelnen Tarifpositionen bei, ohne jedoch rechtsverbindlich zu sein. Der Inhalt dieser Erläuterungen muss daher mit den Bestimmungen der KN in Einklang stehen und darf deren Bedeutung nicht verändern (vgl. Urteile Intermodal Transports, Randnr. 48, Possehl Erzkontor, Randnr. 20, und Proxxon, Randnr. 22). Stellt sich heraus, dass die Erläuterungen zur KN dem Wortlaut der Positionen der KN und der Anmerkungen zu den Abschnitten oder Kapiteln zuwiderlaufen, so sind sie nicht zu berücksichtigen (vgl. Urteil vom 19. April 2007, Sunshine Deutschland Handelsgesellschaft, C-229/06, Slg. 2007, I-3251, Randnr. 31).

35 Was die für das Ausgangsverfahren einschlägigen Unterpositionen der KN angeht, besteht der Wortlaut der Unterposition 8525 40 99 nur aus dem Wort "andere". Diese Unterposition erfasst daher alle anderen Camcorder als solche "nur mit Aufzeichnungsmöglichkeit des durch die Kamera aufgenommenen Tons und Bildes" (DV-out-Funktion), die in die Unterposition 8525 40 91 einzureihen sind. Die Kommission hatte also Veranlassung, in den Erläuterungen zur KN den Inhalt der Unterposition 8525 40 99 auszulegen. Seit dem 15. September 1998 heißt es in diesen Erläuterungen, dass Camcorder der Unterposition 8525 40 99 diejenigen sind, die die DV-in-Funktion und die DV-out-Funktion umfassen. Am 6. Juli 2001 änderte die Kommission erneut die Erläuterungen zur KN mit der Klarstellung, dass in Unterposition 8525 40 99 mit DV-in-Funktion ausgestattete Camcorder auch dann gehören, wenn diese Funktion zum Zeitpunkt der Zollabfertigung nicht aktiviert ist.

36 In Anbetracht des jeweiligen Wortlauts der Unterpositionen 8525 40 91 und 8525 40 99 stehen die Erläuterungen zur KN in Bezug auf die letztgenannte Unterposition im Einklang mit den Bestimmungen der KN und ändern deren Bedeutung nicht.

37 Nach allem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass die am 6. Juli 2001 und am 23. Oktober 2002 veröffentlichten Erläuterungen zur KN in Bezug auf Unterposition 8525 40 99 Auslegungscharakter haben und nicht zwingendes Recht sind. Sie stehen im Einklang mit dem Wortlaut der KN und ändern deren Bedeutung nicht. Der Erlass einer neuen Einreihungsverordnung war daher nicht notwendig.

Kostenentscheidung:

Kosten

38 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Tenor:

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Siebte Kammer) für Recht erkannt:

1. Ein Camcorder ist nur dann in die Unterposition 8525 40 99 der Kombinierten Nomenklatur im Sinne von Anhang I der Verordnung (EWG) Nr. 2658/87 des Rates vom 23. Juli 1987 über die zolltarifliche und statistische Nomenklatur sowie den Gemeinsamen Zolltarif in der durch die Verordnungen (EG) Nr. 2261/98 der Kommission vom 26. Oktober 1998, Nr. 2204/1999 der Kommission vom 12. Oktober 1999, Nr. 2263/2000 der Kommission vom 13. Oktober 2000 und Nr. 2031/2001 der Kommission vom 6. August 2001 geänderten Fassung einzureihen, wenn zum Zeitpunkt der Zollabfertigung die Funktion zur Aufzeichnung von Bild- und Tonaufnahmen aus anderen Quellen als mittels der eingebauten Kamera oder des eingebauten Mikrofons freigeschaltet ist oder wenn diese Funktion, selbst wenn der Hersteller nicht auf dieses Merkmal hinweisen wollte, nachträglich von einem Benutzer ohne besondere Kenntnisse leicht freigeschaltet werden kann, ohne dass der Camcorder materiell verändert wird. Im Fall einer nachträglichen Freischaltung ist außerdem erforderlich, dass der Camcorder zum einen nach der Freischaltung in der gleichen Weise funktioniert wie ein Camcorder, bei dem die Funktion zur Aufzeichnung von Bild- und Tonaufnahmen aus anderen Quellen als mittels der eingebauten Kamera oder des eingebauten Mikrofons zum Zeitpunkt der Zollabfertigung aktiv ist, und dass er zum anderen autonom funktioniert. Das Vorliegen dieser Voraussetzungen muss zum Zeitpunkt der Zollabfertigung geprüft werden können. Es ist Sache des nationalen Gerichts, festzustellen, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind. Sind sie nicht erfüllt, ist dieser Camcorder in die Unterposition 8525 40 91 der Kombinierten Nomenklatur einzureihen.

2. Die am 6. Juli 2001 und am 23. Oktober 2002 veröffentlichten Erläuterungen zur Kombinierten Nomenklatur in Bezug auf die Unterposition 8525 40 99 haben Auslegungscharakter und sind nicht zwingendes Recht. Sie stehen im Einklang mit dem Wortlaut der Kombinierten Nomenklatur und ändern deren Bedeutung nicht. Der Erlass einer neuen Einreihungsverordnung war daher nicht notwendig.



Ende der Entscheidung

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