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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 23.03.1993
Aktenzeichen: C-314/91
Rechtsgebiete: EWGV


Vorschriften:

EWGV Art. 173 Abs. 2
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft ist eine Rechtsgemeinschaft der Art, daß weder die Mitgliedstaaten noch die Gemeinschaftsorgane der Kontrolle darauf hin entzogen sind, ob ihre Handlungen im Einklang mit der Verfassungsurkunde der Gemeinschaft, dem Vertrag, stehen; mit diesem Vertrag ist ein umfassendes Rechtsschutzsystem geschaffen worden, innerhalb dessen dem Gerichtshof die Überprüfung der Rechtmässigkeit der Handlungen der Organe übertragen ist. Von den Handlungen des Parlaments können nur diejenigen, die nur die interne Organisation seiner Arbeit betreffen, also solche, die entweder überhaupt keine Rechtswirkungen entfalten oder die Rechtswirkungen nur innerhalb des Parlaments in bezug auf die interne Organisation seiner Arbeit entfalten und in durch die Geschäftsordnung des Parlaments geregelten Verfahren überprüft werden können, nicht mit einer Nichtigkeitsklage angefochten werden.

Aufgrund dieser Kriterien ist festzustellen, daß die Regelung über die Übergangsvergütung beim Erlöschen des Mandats für die Abgeordneten des Parlaments und die Maßnahmen zur Anwendung einer solchen Regelung im Einzelfall Rechtswirkungen entfalten, die über die interne Organisation der Arbeit des Parlaments hinausgehen, da sie die vermögensrechtliche Situation eines Abgeordneten bei Beendigung seines Mandats berühren.

Daher ist die gegen eine solche Durchführungsmaßnahme gerichtete Klage eines Abgeordneten zulässig.

2. Der Begriff "Erlöschen des Mandats" in der Regelung für die Schaffung einer Übergangsvergütung beim Erlöschen des Mandats für die Abgeordneten des Europäischen Parlaments ist angesichts der verschiedenen sprachlichen Fassungen dieser Regelung, des Zusammenhangs, in dem diese steht, und ihres Zwecks so auszulegen, daß er in einem neutralen Sinn aufzufassen ist und alle Fälle der Beendigung des Mandats umfasst.

Da es sich um einen mit finanziellen Folgen verbundenen Rechtsakt handelt, kann das Parlament, das diesen Rechtsakt erlassen hat, die Bedeutung von dessen Bestimmungen nicht durch eine nachträgliche, als authentisch bezeichnete Auslegung zu Lasten der Begünstigten einschränken, ohne dadurch gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit zu verstossen.


URTEIL DES GERICHTSHOFES VOM 23. MAERZ 1993. - BEATE WEBER GEGEN EUROPAEISCHES PARLAMENT. - ABGEORDNETER DES EUROPAEISCHEN PARLAMENTS - UEBERGANGSVERGUETUNG - ERLOESCHEN DES MANDATS WAEHREND DER LAUFENDEN WAHLPERIODE. - RECHTSSACHE C-314/91.

Entscheidungsgründe:

1 Die Klägerin, eine ehemalige Abgeordnete des Europäischen Parlaments, hat mit Klageschrift, die am 5. Dezember 1991 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 173 Absatz 2 EWG-Vertrag Klage erhoben auf Nichtigerklärung der Entscheidung des Europäischen Parlaments vom 2. Oktober 1991, mit der es abgelehnt wurde, ihr eine Übergangsvergütung wegen Erlöschens des Mandats zu gewähren, und auf Verurteilung des Parlaments, eine Übergangsvergütung für elf Jahre der Zugehörigkeit zum Parlament an sie zu zahlen.

2 Am 18. Mai 1988 verabschiedete das Präsidium des Parlaments eine Regelung für die Schaffung einer Übergangsvergütung beim Erlöschen des Mandats für die Abgeordneten des Europäischen Parlaments (im folgenden: die Regelung), deren Artikel 1 und 2 im Sitzungsbericht wiedergegeben sind.

3 In einem Beschluß vom 12. Dezember 1990 erklärte das Präsidium des Parlaments, es betrachte diese Übergangsvergütung als Vergütung am Ende der Wahlperiode.

4 Die Klägerin, die seit 1979 Mitglied des Parlaments war, legte am 17. Dezember 1990, als sie das Amt der Oberbürgermeisterin der Stadt Heidelberg übernahm, ihr Mandat als Abgeordnete des Parlaments nieder.

5 Am 9. März 1991 stellte die Klägerin beim Kollegium der Quästoren einen Antrag auf Übergangsvergütung für die Zeit von elf Jahren, während der sie dem Europäischen Parlament angehört hatte. Dieser Antrag wurde mit Schreiben des Kollegiums vom 2. Oktober 1991 abgelehnt, weil die Klägerin nicht die in der Entscheidung des Präsidiums des Parlaments vom 12. Dezember 1990 vorgesehenen Voraussetzungen erfuelle.

6 Wegen weiterer Einzelheiten des rechtlichen Rahmens und des Sachverhalts, des Verfahrensablaufs und des Parteivorbringens wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt ist im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

Zulässigkeit

7 Das Parlament bestreitet die Zulässigkeit der Klage. Die Maßnahme, deren Nichtigerklärung beantragt werde, betreffe die interne Organisation der Arbeit des Parlaments und entfalte keine Rechtswirkungen gegenüber Dritten. Der Anspruch auf Zahlung der Vergütung könne nicht mit einer Klage nach Artikel 173 EWG-Vertrag durchgesetzt werden.

8 Zur Zulässigkeit der Nichtigkeitsklage ist auszuführen, daß die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft eine Rechtsgemeinschaft der Art ist, daß weder die Mitgliedstaaten noch die Gemeinschaftsorgane der Kontrolle darauf hin entzogen sind, ob ihre Handlungen im Einklang mit der Verfassungsurkunde der Gemeinschaft, dem Vertrag, stehen, und daß mit diesem Vertrag ein umfassendes Rechtsschutzsystem geschaffen worden ist, innerhalb dessen dem Gerichtshof die Überprüfung der Rechtmässigkeit der Handlungen der Organe übertragen ist (Urteil vom 23. April 1986 in der Rechtssache 294/83, Les Verts, Slg. 1986, 1339, Randnr. 23; Urteil vom 22. Oktober 1987 in der Rechtssache 314/85, Foto-Frost, Slg. 1987, 4199, Randnr. 16; Beschluß vom 13. Juli 1990 in der Rechtssache C-2/88, Zwartveld, Slg. 1990, I-3365, Randnr. 16; Gutachten C-1/91 vom 14. Dezember 1991, Slg. 1991, I-6079, Randnr. 21).

9 Wie der Gerichtshof in den Beschlüssen vom 4. Juni 1986 in der Rechtssache 78/85 (Fraktion der Europäischen Rechten/Parlament, Slg. 1986, 1753, Randnr. 11) und vom 22. Mai 1990 in der Rechtssache C-68/90 (Blot und Front National/Parlament, Slg. 1990, I-2101, Randnr. 12) entschieden hat, können Handlungen, die nur die interne Organisation der Arbeit des Parlaments betreffen, nicht mit einer Nichtigkeitsklage angefochten werden.

10 Zu dieser Kategorie gehören Handlungen des Parlaments, die entweder überhaupt keine Rechtswirkungen entfalten oder die Rechtswirkungen nur innerhalb des Parlaments in bezug auf die interne Organisation seiner Arbeit entfalten und in durch die Geschäftsordnung des Parlaments geregelten Verfahren überprüft werden können.

11 Aufgrund dieser Kriterien ist festzustellen, daß eine Regelung über die Übergangsvergütung beim Erlöschen des Mandats für die Abgeordneten des Parlaments und die Maßnahmen zur Anwendung einer solchen Regelung im Einzelfall Rechtswirkungen entfalten, die über die interne Organisation der Arbeit des Parlaments hinausgehen, da sie die vermögensrechtliche Situation eines Abgeordneten bei Beendigung seines Mandats berühren.

12 Unter diesen Umständen ist festzustellen, daß die Klage zulässig ist, soweit sie auf Nichtigerklärung der angefochtenen Maßnahme gerichtet ist.

13 In bezug auf den Antrag der Klägerin auf Verurteilung des Parlaments, die beantragte Übergangsvergütung an sie zu zahlen, genügt der Hinweis, daß der Gerichtshof ein Gemeinschaftsorgan im Rahmen eines Verfahrens nach Artikel 173 EWG-Vertrag weder zu einem bestimmten Handeln verpflichten noch es zur Zahlung bestimmter Beträge verurteilen kann.

14 Die Klage ist daher als unzulässig abzuweisen, soweit sie auf Zahlung der Übergangsvergütung gerichtet ist.

Begründetheit

15 Zur Beurteilung der Frage, ob der Begriff des Erlöschens des Mandats, aufgrund dessen ein Anspruch auf Übergangsvergütung entsteht, wie die Klägerin vorträgt, alle Fälle der Beendigung des Mandats oder aber, wie das Europäische Parlament geltend macht, nur die Beendigung des Mandats durch Ablauf der Wahlperiode umfasst, sind der Wortlaut der fraglichen Bestimmung, der Zusammenhang, in dem diese steht, und der Zweck der Regelung heranzuziehen.

16 Zum Wortlaut von Artikel 1 der Regelung ist festzustellen, daß, wie der Generalanwalt unter Nr. 9 seiner Schlussanträge ausführt, eine vergleichende Untersuchung der verschiedenen sprachlichen Fassungen dieser Bestimmung zeigt, daß der Begriff des Erlöschens des Mandats in einem neutralen Sinn aufzufassen ist und alle Fälle der Beendigung des Mandats umfasst.

17 Der Zusammenhang, in dem Artikel 1 der Regelung steht, bestätigt, daß ihm allgemeine Bedeutung beizumessen ist. Artikel 2 Sätze 1 und 2 der Regelung betrifft nämlich den Fall, daß ein Abgeordneter eine Vergütung aufgrund eines Mandats erhält, das er länger als fünf Jahre innegehabt hat. Dieser Fall ist allgemein und ohne Einschränkung geregelt; aus dieser Bestimmung kann nicht, wie das Parlament geltend macht, abgeleitet werden, daß sie sich nur auf die Situation eines Abgeordneten am Ende der Wahlperiode bezieht, der während der Dauer des Mandats für einen früheren Mandatsinhaber nachgerückt ist.

18 In Artikel 2 Satz 3 sind ferner lediglich drei Fälle aufgeführt, in denen der Anspruch auf die Übergangsvergütung erlischt, nämlich das Ableben des ehemaligen Abgeordneten, seine Betrauung mit einer Funktion in einem Organ der Gemeinschaft und seine Wahl in das nationale Parlament. Die Bestimmung enthält keinen Hinweis auf weitere Fälle, in denen die Vergütung nicht zu zahlen wäre; auch bestätigt sie nicht die Auffassung, daß die genannten Fälle des Ausschlusses nur beispielhaft aufgezählt seien.

19 Die allgemeine Bedeutung des Begriffs "Erlöschen des Mandats" kann im übrigen nicht durch den Zweck berührt werden, den das Europäische Parlament der fraglichen Regelung beilegt. Nach Ansicht des Europäischen Parlaments soll die Übergangsvergütung beim Erlöschen des Mandats dem ausscheidenden Abgeordneten den Übergang vom politischen Mandat zu einer beruflichen Tätigkeit erleichtern; daher brauche diese Vergütung dann nicht gewährt zu werden, wenn der Abgeordnete sein Mandat freiwillig während dessen Dauer aufgebe. Zum einen ergibt sich nun aber ein solcher Zweck nicht aus dem Wortlaut der fraglichen Regelung; zum anderen ist nicht dargetan, daß ein Abgeordneter, der während der Dauer seines Mandats freiwillig ausscheidet, mit geringeren finanziellen Schwierigkeiten konfrontiert ist als ein Abgeordneter, der am Ende der Wahlperiode aus dem Parlament ausscheidet.

20 Ferner gilt, wie bereits ausgeführt, Artikel 2 Satz 3 der Regelung nur für drei genau geregelte Fälle, in denen der Anspruch auf die Übergangsvergütung erlischt, ohne daß die Gewährung der Vergütung allgemein für all die Fälle ausgeschlossen wird, in denen der ehemalige Abgeordnete andere Einkünfte hat.

21 Das Parlament hat auch eingeräumt, daß es die Übergangsvergütung beim Erlöschen des Mandats stets gewährt hat, ohne von dem ehemaligen Abgeordneten zu verlangen, daß er seinen finanziellen Bedarf nachweist. Die Gründe, die das Parlament vorträgt, um den pauschalen Charakter der Vergütung in diesem Fall zu rechtfertigen, könnten ebensogut für die Gewährung der Vergütung an einen Abgeordneten gelten, der während der laufenden Wahlperiode aus dem Parlament ausscheidet.

22 Zu der Auslegung der Regelung, die das Präsidium des Parlaments am 12. Dezember 1990 vorgenommen hat, ist auszuführen, daß ein Gemeinschaftsorgan, das einen mit finanziellen Folgen verbundenen Rechtsakt erlassen hat, dessen Wortlaut und Zusammenhang keine restriktive Auslegung zulassen, die Bedeutung der Bestimmungen nicht durch eine nachträgliche, als authentisch bezeichnete Auslegung zu Lasten der Begünstigten einschränken kann, ohne dadurch gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit zu verstossen (vgl. Urteil vom 15. Dezember 1987 in der Rechtssache 325/85, Irland/Kommission, Slg. 1987, 5041).

23 Nach allem ist der in der Regelung enthaltene Begriff des Erlöschens des Mandats so aufzufassen, daß er allgemeine Bedeutung hat und alle Fälle umfasst, in denen der Abgeordnete aus dem Parlament ausscheidet.

24 Somit ist die Entscheidung des Parlaments vom 2. Oktober 1991, mit der der Klägerin die Übergangsvergütung beim Erlöschen des Mandats versagt wurde, für nichtig zu erklären.

Kostenentscheidung:

Kosten

25 Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei zu Tragung der Kosten zu verurteilen. Da das Parlament im wesentlichen mit seinem Vorbringen unterlegen ist, sind ihm die Kosten aufzuerlegen.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

für Recht erkannt und entschieden:

1) Die Entscheidung des Europäischen Parlaments vom 2. Oktober 1991, mit der der Klägerin die Übergangsvergütung beim Erlöschen des Mandats versagt wurde, wird für nichtig erklärt.

2) Das Europäische Parlament trägt die Kosten des Verfahrens.

Ende der Entscheidung

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