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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 12.03.1998
Aktenzeichen: C-314/96
Rechtsgebiete: Kooperationsabkommen zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Demokratischen Volksrepublik Algerien, EGV


Vorschriften:

Kooperationsabkommen zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Demokratischen Volksrepublik Algerien Art. 39 Abs. 1
EGV Art. 177
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Sowohl aus dem Wortlaut als auch aus dem Aufbau des Artikels 177 des Vertrages folgt, daß das Vorabentscheidungsverfahren voraussetzt, daß bei den nationalen Gerichten tatsächlich ein Rechtsstreit anhängig ist, in dem sie eine Entscheidung erlassen müssen, bei der die Vorabentscheidung berücksichtigt werden kann. Die Rechtfertigung des Vorabentscheidungsersuchens liegt nicht in der Abgabe von Gutachten zu allgemeinen oder hypothetischen Fragen, sondern darin, daß das Ersuchen für die tatsächliche Entscheidung eines Rechtsstreits erforderlich ist.

Folglich besteht für den Gerichtshof kein Anlaß, eine Vorabentscheidungsfrage zu beantworten, wenn die Forderungen des Klägers des Ausgangsverfahrens vollständig erfuellt worden sind, so daß der beim vorlegenden Gericht anhängige Rechtsstreit gegenstandslos geworden ist und eine Antwort auf die Vorabentscheidungsfrage für das Gericht keinerlei Nutzen hätte.


Urteil des Gerichtshofes (Sechste Kammer) vom 12. März 1998. - Ourdia Djabali gegen Caisse d'allocations familiales de l'Essonne. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Tribunal des affaires de sécurité sociale d'Evry - Frankreich. - Kooperationsabkommen EWG-Algerien - Artikel 39 Absatz 1 - Grundsatz der Nichtdiskriminierung im Bereich der sozialen Sicherheit - Beihilfe für erwachsene Behinderte - Vorabentscheidungsersuchen. - Rechtssache C-314/96.

Entscheidungsgründe:

1 Das Tribunal des affaires de sécurité sociale Evry hat mit Urteil vom 28. Mai 1996, beim Gerichtshof eingegangen am 26. September 1996, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung des Artikels 39 Absatz 1 des am 26. April 1976 in Algier unterzeichneten und im Namen der Gemeinschaft durch die Verordnung (EWG) Nr. 2210/78 des Rates vom 26. September 1978 genehmigten Kooperationsabkommens zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Demokratischen Volksrepublik Algerien (ABl. L 263, S. 1; im folgenden: Abkommen) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen Frau Djabali, einer algerischen Staatsangehörigen, und der Caisse d'allocations familiales Essonne (im folgenden: CAF) über die Gewährung einer Beihilfe für erwachsene Behinderte.

3 Aus der Akte geht hervor, daß Frau Djabali die Ehefrau eines algerischen Staatsangehörigen ist, mit dem sie in Longjumeau (Frankreich) wohnt. Sie selbst hat in Frankreich zu keiner Zeit eine berufliche Tätigkeit ausgeuebt.

4 Frau Djabali, die infolge eines 1981 vorgenommenen chirurgischen Eingriffs körperlich behindert ist und der seit Oktober 1993 eine 80%ige Invalidität zuerkannt ist, beantragte, ihr vom letztgenannten Zeitpunkt an die nach den französischen Rechtsvorschriften vorgesehene Beihilfe für erwachsene Behinderte zu gewähren.

5 Die Beihilfe für erwachsene Behinderte wurde in Frankreich durch das Gesetz Nr. 75-534 vom 30. Juni 1975 eingeführt, das zugunsten der Behinderten erlassen wurde. Sie ist in Kapitel VIII Titel II des neuen französischen Sozialversicherungsgesetzbuchs geregelt. Die Bedingungen für ihre Gewährung sind in den Artikeln L. 821-1 bis L. 821-8 festgelegt.

6 Nach Artikel L. 821-1 Absatz 1 dieses Gesetzbuchs hat jede Person einen Anspruch auf diese Beihilfe, die die französische Staatsangehörigkeit oder die eines Staates besitzt, der auf dem Gebiet der Gewährung von Beihilfen für erwachsene Behinderte ein Gegenseitigkeitsabkommen geschlossen hat, im französischen Hoheitsgebiet wohnt, das Alter für die Begründung eines Anspruchs auf Gewährung einer besonderen Erziehungsbeihilfe im Sinne von Artikel L. 541-1 des Gesetzbuchs überschritten hat und deren dauernde Arbeitsunfähigkeit mindestens einem durch Dekret festgelegten Prozentsatz entspricht, wenn der Betroffene keinen Anspruch aus einer Sozialversicherungsregelung, einer Ruhegehaltsregelung oder aus besonderen Rechtsvorschriften auf eine Leistung bei Alter oder Invalidität oder auf eine Arbeitsunfallrente hat, deren Betrag mindestens der genannten Beihilfe entspricht.

7 Am 16. November 1993 bewilligte die in Artikel L. 821-4 des neuen französischen Sozialversicherungsgesetzbuchs vorgesehene Commission technique d'orientation et de reclassement professionnel Frau Djabali vorbehaltlich der Erledigung der administrativen Voraussetzungen die beantragte Beihilfe.

8 Am 13. Juli 1994 lehnte jedoch die für die Auszahlung der fraglichen Beihilfe zuständige CAF den Antrag von Frau Djabali mit der Begründung ab, sie habe nicht die französische Staatsangehörigkeit, sondern die eines Staates, der mit Frankreich auf dem Gebiet der Gewährung von Beihilfen für erwachsene Behinderte kein Gegenseitigkeitsabkommen geschlossen habe.

9 Am 4. Juni 1995 erhob Frau Djabali gegen diese Entscheidung Klage beim Tribunal des affaires de sécurité sociale Evry mit der Begründung, die Entscheidung verstosse gegen Artikel 39 Absatz 1 des Abkommens.

10 Dieser Artikel 39 Absatz 1 bestimmt:

"... den Arbeitnehmern algerischer Staatsangehörigkeit und den mit ihnen zusammenlebenden Familienangehörigen [wird] auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit eine Behandlung gewährt, die keine auf der Staatsangehörigkeit beruhende Benachteiligung gegenüber den Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten, in denen sie beschäftigt sind, bewirkt."

11 Nach Ansicht von Frau Djabali folgt daraus, daß das Abkommen es den Behörden eines Mitgliedstaats untersage, sich auf die algerische Staatsangehörigkeit des Antragstellers zu berufen, um ihm die beantragten Sozialversicherungsleistungen zu verweigern.

12 Die CAF machte demgegenüber vor dem vorlegenden Gericht geltend, die streitige Beihilfe könne nur dann als Leistung der sozialen Sicherheit im Sinne des Abkommens angesehen werden, wenn der Antragsteller Arbeitnehmer oder ein ehemaliger Arbeitnehmer sei, der aufgrund einer früheren Arbeitnehmertätigkeit bereits beitragsbezogene Leistungen der sozialen Sicherheit erhalten habe. Frau Djabali erfuelle diese Voraussetzung nicht und habe daher keinen eigenen Rechtsanspruch auf Zahlung der Beihilfe für erwachsene Behinderte.

13 In der Erwägung, daß der Ausgang des Rechtsstreits davon abhänge, wie Artikel 39 Absatz 1 des Abkommens auszulegen sei, hat das Tribunal des affaires de sécurité sociale Evry das Verfahren ausgesetzt, um dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist Artikel 39 der Gemeinschaftsverordnung Nr. 2210/78 vom 26. September 1978 zwischen der EWG und der Republik Algerien auf Frau Djabali anwendbar, wenn es um den Bezug der Beihilfe für erwachsene Behinderte geht und diese Person zu keiner Zeit eine Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis ausgeuebt hat, jedoch ab Dezember 1997 möglicherweise eine Rente für nicht berufstätige Mütter beziehen wird?

14 Mit Schreiben vom 8. April 1997 hat die CAF den Gerichtshof darüber in Kenntnis gesetzt, daß der französische Arbeits- und Sozialminister im November 1996 entschieden habe, Frau Djabali die Beihilfe für erwachsene Behinderte zu gewähren. Aus einem Anhang dieses Schreibens ergibt sich, daß Frau Djabali für die Zeit von Oktober 1993 bis Dezember 1996 rückwirkend insgesamt 148 188,45 FF erhalten hat und seit dem 1. Januar 1997 monatlich 3 982 FF erhält. Die Forderung von Frau Djabali sei also vollständig erfuellt, und ihr Rechtsstreit gegen die CAF sei somit erledigt. Die CAF hat diesem Schreiben die Kopie zweier Schreiben beigefügt, in denen sie dem Tribunal des affaires de sécurité sociale Evry und Frau Djabali die Entscheidung der zuständigen Behörden mitteilte, ihr die Beihilfe für erwachsene Behinderte mit Wirkung vom 1. Oktober 1993 zu gewähren, und Frau Djabali aufforderte, ihre beim nationalen Gericht erhobene Klage zurückzunehmen.

15 Zum einen steht fest, daß Frau Djabali nicht die notwendigen Schritte unternommen hat, um ihre beim vorlegenden Gericht erhobene Klage zurückzunehmen.

16 Zum anderen hat der Präsident des Tribunal des affaires de sécurité sociale Evry auf ein Schreiben der Kanzlei des Gerichtshofes, in dem er gefragt worden war, ob das Gericht unter diesen Umständen sein Vorabentscheidungsersuchen noch aufrechterhalten wolle, geantwortet, er sei nach den nationalen Verfahrensvorschriften nicht befugt, eine dem Gerichtshof ordnungsgemäß vorgelegte Vorabentscheidungsfrage zurückzunehmen.

17 Nach ständiger Rechtsprechung ist das in Artikel 177 des Vertrages vorgesehene Verfahren ein Instrument der Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten, mit dem der Gerichtshof diesen Gerichten die Hinweise zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts gibt, die sie zur Entscheidung der bei ihnen anhängigen Rechtsstreitigkeiten benötigen (vgl. insbesondere Urteile vom 18. Oktober 1990 in den Rechtssachen C-297/88 und C-197/89, Dzodzi, Slg. 1990, I-3763, Randnr. 33, und vom 8. November 1990 in der Rechtssache C-231/89, Gmurzynska-Bscher, Slg. 1990, I-4003, Randnr. 18).

18 Sowohl aus dem Wortlaut als auch aus dem Aufbau des Artikels 177 des Vertrages folgt, daß das Vorabentscheidungsverfahren voraussetzt, daß bei den nationalen Gerichten tatsächlich ein Rechtsstreit anhängig ist, in dem sie eine Entscheidung erlassen müssen, bei der die Vorabentscheidung berücksichtigt werden kann (in diesem Sinne Urteile vom 21. April 1988 in der Rechtssache 338/85, Pardini, Slg. 1988, 2041, Randnr. 11, und vom 15. Juni 1995 in den Rechtssachen C-422/93, C-423/93 und C-424/93, Zabala Erasun u. a., Slg. 1995, I-1567, Randnr. 28).

19 Die Rechtfertigung des Vorabentscheidungsersuchens liegt nämlich nicht in der Abgabe von Gutachten zu allgemeinen oder hypothetischen Fragen, sondern darin, daß das Ersuchen für die tatsächliche Entscheidung eines Rechtsstreits erforderlich ist (vgl. Urteil vom 16. Dezember 1981 in der Rechtssache 244/80, Foglia, Slg. 1981, 3045, Randnr. 18, und Zabala Erasun u. a., Randnr. 29).

20 Im vorliegenden Fall hat Frau Djabali die geforderten Leistungen erhalten, nachdem das Tribunal des affaires de sécurité sociale Evry dem Gerichtshof die obengenannte Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt hat.

21 Daher ist festzustellen, daß die Forderungen der Klägerin des Ausgangsverfahrens vollständig erfuellt worden sind, so daß der beim vorlegenden Gericht anhängige Rechtsstreit gegenstandslos gworden ist.

22 Unter diesen Umständen hätte eine Antwort des Gerichtshofes auf die Vorabentscheidungsfrage für das Tribunal des affaires de sécurité sociale Evry keinerlei Nutzen.

23 Folglich besteht kein Anlaß, die Vorabentscheidungsfrage zu beantworten.

Kostenentscheidung:

Kosten

24 Die Auslagen der französischen Regierung und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

(Sechste Kammer)

auf die ihm vom Tribunal des affaires de sécurité sociale Evry mit Urteil vom 28. Mai 1996 vorgelegte Frage für Recht erkannt:

Die Vorabentscheidungsfrage braucht nicht beantwortet zu werden.

Ende der Entscheidung

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