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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 12.12.1995
Aktenzeichen: C-319/93
Rechtsgebiete: EGV


Vorschriften:

EGV Art. 85 Abs. 1
EGV Art. 85 Abs. 2
EGV Art. 85 Abs. 3
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Sowohl aus der Entstehungsgeschichte als auch aus der Begründung der Verordnung Nr. 26 zur Anwendung bestimmter Wettbewerbsregeln auf die Produktion landwirtschaftlicher Erzeugnisse und den Handel mit diesen Erzeugnissen ergibt sich, daß die Nichtanwendbarkeit des Artikels 85 des Vertrages auf Vereinbarungen, Beschlüsse und Verhaltensweisen von landwirtschaftlichen Erzeugerbetrieben, Vereinigungen von landwirtschaftlichen Erzeugerbetrieben oder Vereinigungen von solchen Erzeugervereinigungen ausschließlich von den in Artikel 2 Absatz 1 Satz 2 der Verordnung Nr. 26 des Rates genannten Voraussetzungen abhängt. Wenn eine Vereinbarung oder ein Beschluß unter Artikel 85 Absatz 1 des Vertrages fällt und die Voraussetzungen der Ausnahme des Artikels 2 Absatz 1 Satz 2 der Verordnung Nr. 26 nicht erfuellt sind und wenn insoweit keine Freistellung nach Artikel 85 Absatz 3 vorliegt, so ist die Vereinbarung oder der Beschluß von Anfang an nichtig.

Würde Artikel 2 Absatz 1 Satz 2 so ausgelegt, daß er keine unabhängige Bedeutung hätte, so liefe dies nämlich der Absicht des Verordnungsgebers gerade zuwider, da die Vereinbarungen, für die eine flexiblere Regelung gelten sollte, strengeren Voraussetzungen unterworfen würden, denn sie müssten sowohl die in Satz 1 genannten als auch die in Satz 2 genannten Voraussetzungen erfuellen. Ausserdem könnte die Kommission schwerlich feststellen, daß durch eine Vereinbarung die Ziele des Artikels 39 des Vertrages gefährdet werden, wenn aufgrund der in Satz 1 vorgesehenen Ausnahme schon feststuende, daß diese Vereinbarung oder dieser Beschluß zur Verwirklichung dieser Ziele notwendig ist.

2. Ein nationales Gericht, vor dem die Nichtigkeit einer in der Satzung einer landwirtschaftlichen Genossenschaft enthaltenen Klausel wegen Verstosses gegen Artikel 85 Absatz 1 des Vertrages geltend gemacht wird, während sich die Genossenschaft auf Artikel 2 Absatz 1 der Verordnung Nr. 26 zur Anwendung bestimmter Wettbewerbsregeln auf die Produktion landwirtschaftlicher Erzeugnisse und den Handel mit diesen Erzeugnissen beruft, kann das Verfahren fortsetzen und über den bei ihm anhängigen Rechtsstreit entscheiden, wenn die Voraussetzungen für die Anwendung des Artikels 85 Absatz 1 offensichtlich nicht erfuellt sind, oder auch die Nichtigkeit der streitigen Klausel nach Artikel 85 Absatz 2 feststellen, wenn diese Klausel nach seiner Überzeugung weder die Voraussetzungen für die Ausnahme nach Artikel 2 Absatz 1 der Verordnung Nr. 26 noch für eine Freistellung nach Artikel 85 Absatz 3 erfuellt. Im Zweifelsfall kann das nationale Gericht, wenn sich dies als zweckmässig und mit den nationalen Verfahrensbestimmungen vereinbar erweist, die Kommission um zusätzliche Informationen ersuchen oder es den Parteien ermöglichen, bei der Kommission eine Entscheidung zu beantragen.


Urteil des Gerichtshofes vom 12. Dezember 1995. - Hendrik Evert Dijkstra gegen Friesland (Frico Domo) Coöperatie BA und Cornelis van Roessel und andere gegen De coöperatieve vereniging Zuivelcoöperatie Campina Melkunie VA und Willem de Bie und andere gegen De Coöperatieve Zuivelcoöperatie Campina Melkunie BA. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Gerechtshof Leeuwarden und Arrondissementsrechtbank 's-Hertogenbosch - Niederlande. - Wettbewerb - Molkereigenossenschaftssatzungen - Austrittsgeldregelung - Auslegung des Artikels 2 der Verordnung Nr. 26. - Verbundene Rechtssachen C-319/93, C-40/94 und C-224/94.

Entscheidungsgründe:

1 Der Gerechtshof Leeuwarden (C-319/93) und die Arrondissementsrechtbank Herzogenbusch (C-40/94 und C-224/94) haben mit drei Beschlüssen vom 12. Mai 1993, 21. Januar 1994 und 29. Juli 1994, beim Gerichtshof eingegangen am 18. Juni 1993, 31. Januar 1994 und 2. August 1994, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag mehrere Fragen nach der Auslegung des Artikels 2 Absatz 1 der Verordnung Nr. 26 des Rates vom 4. April 1962 zur Anwendung bestimmter Wettbewerbsregeln auf die Produktion landwirtschaftlicher Erzeugnisse und den Handel mit diesen Erzeugnissen (ABl. 1962, Nr. 30, S. 993) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in Rechtsstreitigkeiten zwischen Milchviehhaltern und den landwirtschaftlichen Genossenschaften, deren Mitglieder sie waren, über die ihnen durch die Genossenschaftssatzungen auferlegte Verpflichtung, bei Austritt oder Ausschluß aus der Genossenschaft ein Austrittsgeld zu zahlen.

3 Als diese Viehhalter aus der Genossenschaft, der sie angehörten, ausgeschlossen wurden oder austraten, mussten sie ein Austrittsgeld zahlen, das sich entweder auf 10 % des jährlichen durchschnittlichen Milchpreises, den sie von der Genossenschaft in den letzten fünf Wirtschaftsjahren erhalten hatten, oder auf 4 % des Milchpreises, den sie in dem Wirtschaftsjahr vor ihrem Austritt erhalten hatten, belief.

4 In den Verfahren vor den nationalen Gerichten machen die Kläger der Ausgangsverfahren geltend, das System des Austrittsgelds verstosse u. a. gegen die Artikel 85 und 86 EWG-Vertrag. Einige machen insbesondere geltend, das von den Genossenschaften erhobene Austrittsgeld führe in Wirklichkeit zu einer ausschließlichen Lieferpflicht auf unbeschränkte Zeit, die die wirtschaftliche Freiheit der Mitglieder der Genossenschaft einschränke und für die Wettbewerber der Genossenschaft somit eine Behinderung darstelle.

5 Sie verweisen ausserdem auf das von der Kommission gegen die Zuivelcoöperatie Campina BA nach Artikel 85 EWG-Vertrag eröffnete Verfahren. Dieses Verfahren wurde dadurch abgeschlossen, daß sich die Genossenschaft verpflichtete, ihre Satzungsbestimmungen über die Bedingungen des Austritts ihrer Mitglieder dahin gehend zu ändern, daß diese ihre Mitgliedschaft künftig zu drei verschiedenen Zeitpunkten innerhalb des Geschäftsjahres gebührenfrei kündigen können, sofern sie dies zwei Jahre im voraus bekanntgeben, oder auch zum 1. April mit einer Kündigungsfrist von drei Monaten mit der Verpflichtung zur Zahlung eines Austrittsgelds von 4 % (XXI. Bericht über die Wettbewerbspolitik, 1991, Nrn. 83 und 84).

6 Schließlich machen die Kläger der Ausgangsverfahren noch geltend, das System des Austrittsgelds könne nicht unter die in Artikel 2 der Verordnung Nr. 26 vorgesehene Ausnahme fallen. Diese Vorschrift sieht vor:

"1. Artikel 85 Absatz (1) des Vertrages gilt nicht für die in Artikel 1 genannten Vereinbarungen, Beschlüsse und Verhaltensweisen, die wesentlicher Bestandteil einer einzelstaatlichen Marktordnung sind oder zur Verwirklichung der Ziele des Artikels 39 des Vertrages notwendig sind. Er gilt insbesondere nicht für Vereinbarungen, Beschlüsse und Verhaltensweisen von landwirtschaftlichen Erzeugerbetrieben, Vereinigungen von landwirtschaftlichen Erzeugerbetrieben oder Vereinigungen von solchen Erzeugervereinigungen aus einem Mitgliedstaat, soweit sie ohne Preisbindung die Erzeugung oder den Absatz landwirtschaftlicher Erzeugnisse oder die Benutzung gemeinschaftlicher Einrichtungen für die Lagerung, Be- oder Verarbeitung landwirtschaftlicher Erzeugnisse betreffen, es sei denn, die Kommission stellt fest, daß dadurch der Wettbewerb ausgeschlossen wird oder die Ziele des Artikels 39 des Vertrages gefährdet werden.

2. Vorbehaltlich der Nachprüfung durch den Gerichtshof ist die Kommission ausschließlich zuständig, nach Anhörung der Mitgliedstaaten und der beteiligten Unternehmen oder Unternehmensvereinigungen sowie jeder anderen natürlichen oder juristischen Person, deren Anhörung sie für erforderlich hält, durch Entscheidung, die veröffentlicht wird, festzustellen, welche Beschlüsse, Vereinbarungen und Verhaltensweisen die Voraussetzungen des Absatzes (1) erfuellen.

3. Die Kommission trifft diese Feststellung entweder von Amts wegen oder auf Antrag einer zuständigen Behörde eines Mitgliedstaats, eines beteiligten Unternehmens oder einer beteiligten Unternehmensvereinigung.

..."

7 Die Kläger verweisen in diesem Zusammenhang darauf, daß zum einen die in Artikel 2 Absatz 1 Satz 1 aufgestellten Erfordernisse nicht erfuellt seien und daß zum anderen Artikel 2 Absatz 1 Satz 2 keine selbständige Bedeutung habe, so daß für die landwirtschaftlichen Genossenschaften dieselben Anforderungen gelten müssten, von denen die Anwendung der Ausnahmeregelung in Satz 1 abhängig gemacht werde.

8 Die nationalen Gerichte verweisen darauf, daß die Anwendung des Artikels 2 Absatz 1 Satz 2 der Verordnung Nr. 26 stets Zweifel aufgeworfen und zu unterschiedlichen Auslegungen geführt habe.

9 Nach der ersten, auf den Wortlaut gestützten Auslegung habe Artikel 2 Absatz 1 Satz 2 keine selbständige Bedeutung. Das Wort "insbesondere" in Satz 2 bedeute, daß nur ein Beispiel für Vereinbarungen gegeben werde, die unter die Ausnahmeregelung des Artikels 2 Absatz 1 Satz 1 fielen. Die Kommission habe in einigen ihrer Entscheidungen diese Auslegung zugrunde gelegt.

10 Nach der zweiten, auf die Entstehungsgeschichte der Verordnung Nr. 26 gestützten Auslegung, die die Kommission in ihren ersten Entscheidungen sowie in einigen kürzlich erlassenen Entscheidungen zugrunde gelegt habe, komme Artikel 2 Absatz 1 Satz 2 der Verordnung Nr. 26 eine selbständige Bedeutung zu. Angesichts der Bedeutung der Genossenschaften im Agrarbereich schaffe er somit eine Ausnahme, die sich von den in Satz 1 vorgesehenen Fällen der Unanwendbarkeit des Artikels 85 unterscheide. Satz 2 kehre im übrigen die Beweislast zugunsten der landwirtschaftlichen Erzeugervereinigungen um, da die Kommission für Vereinbarungen wie die in Satz 2 beschriebenen nachweisen müsse, daß diese den Wettbewerb ausschlössen oder die Ziele des Vertrages gefährdeten. Da der Zweck der Bestimmung in der Einführung einer flexibleren Regelung für die landwirtschaftlichen Genossenschaften bestehe, würde eine andere Auslegung auf eine stärkere Belastung dieser Genossenschaften hinauslaufen, weil sowohl die Voraussetzungen von Satz 1 als auch die von Satz 2 erfuellt sein müssten.

11 Nach Ansicht der nationalen Gerichte werfen die Klagen Fragen nach der Auslegung des Gemeinschaftsrechts auf; sie haben daher die Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

° In den Rechtssachen C-319/93, C-40/94 und 224/94:

1. Hat Artikel 2 Absatz 1 Satz 2 der Verordnung Nr. 26 zur Anwendung bestimmter Wettbewerbsregeln auf die Landwirtschaft, der Vereinbarungen, Beschlüsse und Verhaltensweisen von landwirtschaftlichen Erzeugerbetrieben, Vereinigungen von landwirtschaftlichen Erzeugerbetrieben oder Vereinigungen von solchen Erzeugervereinigungen aus einem Mitgliedstaat betrifft, selbständige Bedeutung, so daß das nationale Gericht von seiner Gültigkeit ausgehen muß, solange die Kommission nicht festgestellt hat, daß dadurch der Wettbewerb ausgeschlossen wird oder die Ziele des Artikels 39 EWG-Vertrag gefährdet werden?

2. Falls ja, kann die Kommission die Feststellung, daß dies der Fall ist, nur in einer Entscheidung gemäß Artikel 2 Absatz 2 treffen?

3. Falls nein, muß das nationale Gericht, wenn in einem bei ihm anhängigen Verfahren die Nichtigkeit einer Vereinbarung oder eines Beschlusses einer landwirtschaftlichen Genossenschaft wegen Verstosses gegen Artikel 85 EWG-Vertrag geltend gemacht wird und die Genossenschaft sich auf Artikel 2 Absatz 1 Satz 2 der Verordnung Nr. 26 beruft, die Sache der Kommission zur Beurteilung vorlegen?

° In der Rechtssache C-224/94 sind folgende zusätzlichen Fragen vorgelegt worden:

1. Ist Artikel 2 Absatz 2 in Verbindung mit Artikel 1 der Verordnung Nr. 26 dahin auszulegen, daß, solange die Kommission nicht aufgrund dieser Bestimmung durch Entscheidung festgestellt hat, daß eine Vereinbarung die in Artikel 2 Absatz 1 enthaltenen positiven Voraussetzungen für eine Ausnahme erfuellt, Artikel 85 Absatz 1 EWG-Vertrag gemäß Artikel 1 der Verordnung Nr. 26 unmittelbar anwendbar ist?

2. Lautet die Antwort auf diese Frage anders hinsichtlich einer Feststellung der Kommission gemäß Artikel 2 Absatz 1 Satz 2 a. E., daß der Wettbewerb ausgeschlossen wird oder die Ziele des Artikels 39 EWG-Vertrag gefährdet werden?

3. Wenn die erste und die zweite Frage zu verneinen sind, ist das nationale Gericht dann gleichwohl selbst befugt, die Nichtanwendbarkeit der Ausnahmeregelung des Artikels 2 Absatz 1 der Verordnung Nr. 26 auszusprechen, da die Kommission schon auf andere Weise als durch Entscheidung zu erkennen gegeben hat, daß Artikel 2 Absatz 1 der Verordnung Nr. 26 nicht anwendbar ist, oder muß es die Kommission um eine förmliche Entscheidung ersuchen und das Verfahren aussetzen, bis die Kommission sich durch eine Entscheidung geäussert hat?

12 Der Gerichtshof hat mit Beschluß vom 1. Dezember 1994 gemäß Artikel 43 der Verfahrensordnung die Rechtssachen C-319/93 und C-40/94 zu gemeinsamer mündlicher Verhandlung und gemeinsamer Entscheidung verbunden.

13 Mit Beschluß vom 14. Juli 1995 gemäß Artikel 43 der Verfahrensordnung hat er die Rechtssachen C-319/93, C-40/94 und C-224/94 zu gemeinsamer Entscheidung verbunden.

14 Die Untersuchung der Vorlagefragen zeigt, daß die nationalen Gerichte Zweifel hinsichtlich der Auslegung des Artikels 2 Absatz 1 der Verordnung Nr. 26, insbesondere von Satz 2 dieser Bestimmung, und hinsichtlich der jeweiligen Zuständigkeiten der Kommission und der nationalen Gerichte im Rahmen der Anwendung dieses Artikels haben.

Zur Auslegung des Artikels 2 Absatz 1 der Verordnung Nr. 26

15 Gemäß Artikel 42 des Vertrages findet das Kapitel über die Wettbewerbsregeln auf die Produktion landwirtschaftlicher Erzeugnisse, die in der dem Vertrag als Anhang II beigefügten Liste aufgeführt sind (Artikel 38 Absatz 3), und den Handel mit diesen nur insoweit Anwendung, als der Rat dies bestimmt.

16 Aufgrund dieser Bestimmungen erließ der Rat die Verordnung Nr. 26, deren Artikel 1 bestimmt, daß die Artikel 85 bis 90 des Vertrages sowie die zu ihrer Anwendung ergangenen Bestimmungen vorbehaltlich des Artikels 2 der Verordnung auf alle Vereinbarungen, Beschlüsse und Verhaltensweisen bezueglich der Produktion der betreffenden Erzeugnisse und den Handel mit diesen Anwendung finden.

17 Bei der Auslegung des Artikels 2 Absatz 1 Satz 2 sind die Entstehungsgeschichte und die Begründung der Verordnung Nr. 26 zu berücksichtigen.

18 Aus der Entstehungsgeschichte dieser Verordnung ergibt sich zunächst, daß der Verordnungsgeber, indem er auf Antrag des Europäischen Parlaments diesen Satz 2, der im ursprünglichen Verordnungsvorschlag der Kommission nicht enthalten war, hinzufügte, eine Ausnahme zugunsten der Vereinbarungen, Beschlüsse und Verhaltensweisen landwirtschaftlicher Erzeuger einführen wollte, wenn sie den dort vorgesehenen Voraussetzungen entsprechen, es sei denn, die Kommission stellt fest, daß durch die Absprache der Wettbewerb ausgeschlossen wird oder die Ziele des Artikels 39 des Vertrages gefährdet werden.

19 Diese Absicht, die landwirtschaftlichen Genossenschaften zu schützen, ergibt sich weiter aus der Begründung der Verordnung Nr. 26, und zwar insbesondere aus ihrer vierten Begründungserwägung, wonach die Vereinigungen von landwirtschaftlichen Erzeugerbetrieben besondere Aufmerksamkeit verdienen.

20 Würde Artikel 2 Absatz 1 Satz 2 so ausgelegt, daß er keine unabhängige Bedeutung hätte, so liefe dies der Absicht des Verordnungsgebers gerade zuwider, da die Vereinbarungen, für die eine flexiblere Regelung gelten sollte, strengeren Voraussetzungen unterworfen würden, denn sie müssten sowohl die in Satz 1 genannten als auch die in Satz 2 genannten Voraussetzungen erfuellen. Ausserdem könnte die Kommission schwerlich feststellen, daß durch eine Vereinbarung die Ziele des Artikels 39 des Vertrages gefährdet werden, wenn aufgrund der in Satz 1 vorgesehenen Ausnahme schon feststuende, daß diese Vereinbarung oder dieser Beschluß zur Verwirklichung dieser Ziele notwendig ist.

21 Auch das Argument, für diese Vereinbarungen spreche eine Gültigkeitsvermutung, solange die Kommission nicht festgestellt habe, daß der Wettbewerb ausgeschlossen werde oder die Ziele des Artikels 39 des Vertrages gefährdet würden, ist zu verwerfen, da Artikel 2 Absatz 1 Satz 2 nur die Beweislast zugunsten der landwirtschaftlichen Erzeuger umkehrt.

22 Wenn also festgestellt wird, daß eine Vereinbarung oder ein Beschluß unter Artikel 85 Absatz 1 fällt und die Voraussetzungen für die Ausnahme nach Artikel 2 Absatz 1 Satz 2 der Verordnung Nr. 26 nicht erfuellt sind und daß insoweit keine Freistellung nach Artikel 85 Absatz 3 EG-Vertrag vorliegt, so ist die Vereinbarung oder der Beschluß gemäß Artikel 85 Absatz 2 des Vertrages nichtig. Diese Nichtigkeit wirkt auch für die Vergangenheit (vgl. insbesondere das Urteil vom 6. Februar 1973 in der Rechtssache 48/72, Brasserie de Hächt, Slg. 1973, 77, Randnr. 27).

23 Vor dem Hintergrund dieser Regelung kann der Rat, wenn er es für angebracht hält, eine Ausnahme von dem Grundsatz vorsehen, daß durch Artikel 85 Absatz 1 verbotene Vereinbarungen von Anfang an nichtig sind. So bestimmt Artikel 17 der Verordnung Nr. 1360/78 des Rates vom 19. Juni 1978 betreffend die Erzeugergemeinschaften und ihre Vereinigungen (ABl. L 166, S. 1), daß eine Entscheidung, mit der gemäß Artikel 2 der Verordnung Nr. 26 festgestellt wird, daß Artikel 85 Absatz 1 des Vertrages auf in dieser Verordnung vorgesehene Vereinbarungen anwendbar ist, erst vom Zeitpunkt der Feststellung an gilt.

24 Auf die erste Frage ist demgemäß zu antworten, daß die Nichtanwendbarkeit des Artikels 85 des Vertrages auf Vereinbarungen, Beschlüsse und Verhaltensweisen von landwirtschaftlichen Erzeugerbetrieben, Vereinigungen von landwirtschaftlichen Erzeugerbetrieben oder Vereinigungen von solchen Erzeugervereinigungen ausschließlich von den in Artikel 2 Absatz 1 Satz 2 der Verordnung Nr. 26 genannten Voraussetzungen abhängt. Wenn eine Vereinbarung oder ein Beschluß unter Artikel 85 Absatz 1 EG-Vertrag fällt und die Voraussetzungen der Ausnahme des Artikels 2 Absatz 1 Satz 2 der Verordnung Nr. 26 nicht erfuellt sind und wenn insoweit keine Ausnahme nach Artikel 85 Absatz 3 EG-Vertrag vorliegt, so ist die Vereinbarung oder der Beschluß von Anfang an nichtig.

Zur Zuständigkeit für die Anwendung des Artikels 2 Absatz 1 der Verordnung Nr. 26

25 Was die Verteilung der Zuständigkeiten zwischen der Kommission und den nationalen Gerichten bei der Anwendung des Artikels 2 Absatz 1 der Verordnung Nr. 26 angeht, so ist gemäß Artikel 2 Absätze 2 und 3 ausschließlich die Kommission vorbehaltlich der Kontrolle durch den Gerichtshof dafür zuständig, festzustellen, daß eine Vereinbarung die Voraussetzungen des Absatzes 1 erfuellt.

26 Dagegen verfügt die Kommission nicht über eine ausschließliche Zuständigkeit für die Anwendung des Artikels 85 Absatz 1. Wie der Gerichtshof schon im Urteil vom 28. Februar 1991 in der Rechtssache C-234/89 (Delimitis, Slg. 1991, I-935, Randnr. 45) ausgeführt hat, ist die Befugnis zur Anwendung dieser Bestimmung insoweit zwischen der Kommission und den nationalen Gerichten geteilt. Nach dem Urteil des Gerichtshofes vom 30. Januar 1974 in der Rechtssache 127/73 (BRT, Slg. 1974, 51) erzeugt nämlich Artikel 85 Absatz 1 in den Beziehungen zwischen einzelnen unmittelbare Wirkungen und lässt unmittelbar in deren Person Rechte entstehen, die die nationalen Gerichte zu wahren haben.

27 Nunmehr sind die Folgen dieser Zuständigkeitsverteilung für die konkrete Anwendung des Wettbewerbsrechts der Gemeinschaft durch die nationalen Gerichte anhand der vom Gerichtshof im Urteil Delimitis aufgestellten Grundsätze zu untersuchen.

28 Hierbei ist zu berücksichtigen, daß nationale Gerichte, vor denen geltend gemacht wird, daß eine Vereinbarung zwischen landwirtschaftlichen Erzeugern oder deren Vereinigungen unter die in der Verordnung vorgesehene besondere Ausnahmen falle, sich veranlasst sehen können, Entscheidungen zu erlassen, die den von der Kommission zur Anwendung des Artikels 2 Absatz 1 Satz 2 der Verordnung Nr. 26 oder gegebenenfalls des Artikels 85 Absätze 1 und 3 getroffenen oder geplanten Entscheidungen widersprechen. Ein solches Nebeneinander gegenläufiger Entscheidungen würde jedoch dem allgemeinen Grundsatz der Rechtssicherheit zuwiderlaufen und muß somit vermieden werden, wenn die nationalen Gerichte über Vereinbarungen oder Verhaltensweisen entscheiden, die noch Gegenstand einer Entscheidung der Kommission sein können.

29 Um das Erfordernis der Vermeidung einander widersprechender Entscheidungen mit seiner Verpflichtung in Einklang zu bringen, über die Anträge der Streitpartei zu entscheiden, die sich auf die Nichtigkeit einer Vereinbarung beruft, kann das nationale Gericht bei der Anwendung des Artikels 85 folgende Überlegungen berücksichtigen.

30 Sind die Voraussetzungen für die Anwendung des Artikels 85 Absatz 1 offensichtlich nicht erfuellt, kann das nationale Gericht das Verfahren fortsetzen und über die streitige Vereinbarung entscheiden.

31 Ist das nationale Gericht hingegen der Auffassung, die Vereinbarung erfuelle die Voraussetzungen für die Anwendung des Artikels 85 Absatz 1, so hat es festzustellen, ob es sich gemäß Artikel 2 Absatz 1 Satz 2 der Verordnung Nr. 26 um eine Vereinbarung von landwirtschaftlichen Erzeugerbetrieben, Vereinigungen von landwirtschaftlichen Erzeugerbetrieben oder Vereinigungen von solchen Erzeugervereinigungen aus einem Mitgliedstaat handelt, die ohne Preisbindung die Erzeugung oder den Absatz landwirtschaftlicher Erzeugnisse oder die Benutzung gemeinschaftlicher Einrichtungen für die Lagerung, Be- oder Verarbeitung landwirtschaftlicher Erzeugnisse betrifft.

32 Stellt das nationale Gericht fest, daß die Vereinbarung diese Voraussetzungen erfuellt und daß es nach den Kriterien, die in der Rechtsprechung des Gerichtshofes und der Praxis der Kommission, die sich im übrigen nicht nur aus den von ihr getroffenen Entscheidungen ergibt, sondern auch insbesondere aus ihren Berichten über die Wettbewerbspolitik und aus ihren Mitteilungen, entwickelt worden sind, offensichtlich ist, daß durch die Vereinbarung der Wettbewerb ausgeschlossen wird oder die Ziele des Artikels 39 des Vertrages gefährdet werden, so kann es die Nichtigkeit der Vereinbarung gemäß Artikel 85 Absatz 2 des Vertrages feststellen, wenn diese auf keinen Fall Gegenstand einer Freistellungsentscheidung nach Artikel 85 Absatz 3 sein kann.

33 Gegenstand einer solchen Entscheidung kann eine Vereinbarung nur sein, wenn sie angemeldet wurde oder wenn sie von der Anmeldepflicht befreit ist. Eine Vereinbarung ist gemäß Artikel 4 Absatz 2 der Verordung Nr. 17 von der Anmeldepflicht befreit, wenn an ihr nur Unternehmen aus einem Mitgliedstaat beteiligt sind und diese Vereinbarung nicht die Ein- oder Ausfuhr zwischen Mitgliedstaaten betrifft. Die Satzungen von Molkereigenossenschaften können diese Voraussetzungen erfuellen.

34 Ist das nationale Gericht hingegen der Auffassung, die streitige Vereinbarung könne unter die in Artikel 2 Absatz 1 Satz 2 genannte Ausnahme fallen, so kann es das Verfahren aussetzen, um es den betroffenen Parteien zu ermöglichen, die Kommission um eine Entscheidung nach Artikel 2 Absatz 3 zu ersuchen, um sich selbst Informationen über den Stand des gegebenenfalls von der Kommission eingeleiteten Verfahrens und über den Grad der Wahrscheinlichkeit zu verschaffen, daß die Kommission förmlich über die streitige Vereinbarung entscheidet, oder um von der Kommission Auskunft über wirtschaftliche und rechtliche Fragen zu erhalten.

35 Jedenfalls kann das nationale Gericht das Verfahren aussetzen, um den Gerichtshof gemäß Artikel 177 EG-Vertrag um eine Vorabentscheidung zu ersuchen.

36 Die dritte Frage ist demgemäß dahin zu beantworten, daß ein nationales Gericht, vor dem die Nichtigkeit einer in der Satzung einer landwirtschaftlichen Genossenschaft enthaltenen Klausel wegen Verstosses gegen Artikel 85 Absatz 1 EG-Vertrag geltend gemacht wird, während sich die Genossenschaft auf Artikel 2 Absatz 1 der Verordnung Nr. 26 beruft, das Verfahren fortsetzen und über den bei ihm anhängigen Rechtsstreit entscheiden kann, wenn die Voraussetzungen für die Anwendung des Artikels 85 Absatz 1 offensichtlich nicht erfuellt sind, oder auch die Nichtigkeit der streitigen Klausel nach Artikel 85 Absatz 2 feststellen kann, wenn diese Klausel nach seiner Überzeugung weder die Voraussetzungen für die Ausnahme nach Artikel 2 Absatz 1 der Verordnung Nr. 26 noch für eine Freistellung nach Artikel 85 Absatz 3 erfuellt. Im Zweifelsfall kann das nationale Gericht, wenn sich dies als zweckmässig und mit den nationalen Verfahrensbestimmungen vereinbar erweist, die Kommission um zusätzliche Informationen ersuchen oder es den Parteien ermöglichen, bei der Kommission eine Entscheidung zu beantragen.

37 Angesichts der Antworten auf die erste und die dritte Vorlagefrage sind die übrigen Fragen nicht zu beantworten.

Kostenentscheidung:

Kosten

38 Die Auslagen der niederländischen, der französischen und der dänischen Regierung sowie der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien der Ausgangsverfahren ist das Verfahren ein Zwischenstreit in den bei den vorlegenden Gerichten anhängigen Rechtsstreitigkeiten; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieser Gerichte.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

auf die ihm vom Gerechtshof Leeuwarden mit Beschluß vom 12. Mai 1993 (C-319/93) und von der Arrondissementsrechtbank Herzogenbusch mit Beschlüssen vom 21. Januar und 29. Juli 1994 (C-40/94 und C-224/94) vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

1) Die Nichtanwendbarkeit des Artikels 85 des Vertrages auf Vereinbarungen, Beschlüsse und Verhaltensweisen von landwirtschaftlichen Erzeugerbetrieben, Vereinigungen von landwirtschaftlichen Erzeugerbetrieben oder Vereinigungen von solchen Erzeugervereinigungen hängt ausschließlich von den in Artikel 2 Absatz 1 Satz 2 der Verordnung Nr. 26 des Rates genannten Voraussetzungen ab. Wenn eine Vereinbarung oder ein Beschluß unter Artikel 85 Absatz 1 EG-Vertrag fällt und die Voraussetzungen der Ausnahme des Artikels 2 Absatz 1 Satz 1 der Verordnung Nr. 26 nicht erfuellt sind und wenn insoweit keine Freistellung nach Artikel 85 Absatz 3 vorliegt, so ist die Vereinbarung oder der Beschluß von Anfang an nichtig.

2) Ein nationales Gericht, vor dem die Nichtigkeit einer in der Satzung einer landwirtschaftlichen Genossenschaft enthaltenen Klausel wegen Verstosses gegen Artikel 85 Absatz 1 EG-Vertrag geltend gemacht wird, während sich die Genossenschaft auf Artikel 2 Absatz 1 der Verordnung Nr. 26 beruft, kann das Verfahren fortsetzen und über den bei ihm anhängigen Rechtsstreit entscheiden, wenn die Voraussetzungen für die Anwendung des Artikels 85 Absatz 1 offensichtlich nicht erfuellt sind, oder auch die Nichtigkeit der streitigen Klausel nach Artikel 85 Absatz 2 feststellen, wenn diese Klausel nach seiner Überzeugung weder die Voraussetzungen für die Ausnahme nach Artikel 2 Absatz 1 der Verordnung Nr. 26 noch für eine Freistellung nach Artikel 85 Absatz 3 erfuellt. Im Zweifelsfall kann das nationale Gericht, wenn sich dies als zweckmässig und mit den nationalen Verfahrensbestimmungen vereinbar erweist, die Kommission um zusätzliche Informationen ersuchen oder es den Parteien ermöglichen, bei der Kommission eine Entscheidung zu beantragen.

Ende der Entscheidung

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