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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 17.09.1998
Aktenzeichen: C-323/96
Rechtsgebiete: Richtlinie 89/440/EWG, Richtlinie 93/37/EWG


Vorschriften:

Richtlinie 89/440/EWG
Richtlinie 93/37/EWG
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1 Der Begriff des Staates, den die Definition des öffentlichen Auftraggebers in Artikel 1 Buchstabe b der Richtlinie 71/305 in der Fassung des Artikels 1 Absatz 1 der Richtlinie 89/440 sowie in Artikel 1 Buchstabe b der Richtlinie 93/37 verwendet, umfasst alle Organe, die die gesetzgebende, die vollziehende und die rechtsprechende Gewalt ausüben. Das gleiche gilt in einem Bundesstaat für die Organe, die diese Gewalten auf der Ebene der Einzelstaaten ausüben.

2 Ein Mitgliedstaat kann sich nicht auf Bestimmungen, Übungen oder Umstände seiner internen Rechtsordnung berufen, um die Nichteinhaltung der in einer Richtlinie festgelegten Verpflichtungen und Fristen zu rechtfertigen.


Urteil des Gerichtshofes (Sechste Kammer) vom 17. September 1998. - Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen Königreich Belgien. - Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats - Öffentliche Bauaufträge - Richtlinien 89/440/EWG und 93/37/EWG - Keine Veröffentlichung einer Vergabebekanntmachung - Anwendung eines Verhandlungsverfahrens ohne Rechtfertigungsgrund. - Rechtssache C-323/96.

Entscheidungsgründe:

1 Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat mit Klageschrift, die am 2. Oktober 1996 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, eine Klage gemäß Artikel 169 EG-Vertrag auf Feststellung erhoben, daß das Königreich Belgien dadurch, daß es

- weder für das Gesamtvorhaben noch für die einzelnen Lose im Zusammenhang mit dem Bau des Gebäudes für den Vlaamse Raad eine Vergabebekanntmachung im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften veröffentlicht hat,

- die Vergabeverfahren gemäß der Richtlinie 89/440/EWG des Rates vom 18. Juli 1989 zur Änderung der Richtlinie 71/305/EWG über die Koordination der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge (ABl. L 210, S. 1) und gemäß der Richtlinie 93/37/EWG des Rates vom 14. Juni 1993 zur Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge (ABl. L 199, S. 54) nicht angewandt und insbesondere das Los 4 ohne Rechtfertigungsgrund freihändig vergeben hat,

gegen seine Verpflichtungen aus diesen Richtlinien und insbesondere aus den Artikeln 7 und 11 der Richtlinie 93/37 verstossen hat.

Sachverhalt

2 Nach den Akten beschloß der Vlaamse Raad, das flämische Parlament im belgischen föderativen System, 1993, in Brüssel ein eigenes Gebäude errichten zu lassen.

3 Für den Bau dieses neuen Gebäudes führte der Vlaamse Raad ein nichtoffenes Verfahren durch und forderte zweiunddreissig Unternehmen zur Teilnahme daran auf. Weder für das Gesamtvorhaben noch für die einzelnen Lose wurde eine Bekanntmachung im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften veröffentlicht, obwohl jedes der Lose den in der gemeinschaftsrechtlichen Regelung vorgesehenen Betrag überstieg.

4 Für Los 4 (Fertigstellung und sanitäre Einrichtungen) wurde ein einzelstaatliches nichtoffenes Verfahren durchgeführt, das am 17. Februar 1994 ohne vorherige Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften begann. Nachdem die Baubehörde vierzehn hierzu abgegebene Angebote im Licht des Vergabekriteriums - des niedrigsten Preises - geprüft hatte, sprach sie sich für das Angebot eines mittlerweile in Konkurs gegangenen Unternehmens aus.

5 Mit Beschluß vom 19. Mai 1994 annulierte das Büro des Vlaamse Raad daher das Vergabeverfahren und wandte, wieder ohne vorherige Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, das freihändige Verfahren an.

Vorprozessuales Verfahren

6 Mit Fernschreiben vom 17. Juni 1994 teilte die Kommission den belgischen Behörden mit, daß das vom Vlaamse Raad angewandte Verfahren eindeutig und offenkundig gegen die gemeinschaftsrechtliche Regelung über öffentliche Bauaufträge sowie gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung der Bewerber verstosse, der dieser Regelung zugrunde liege. Sie verlangte daher von den belgischen Behörden, das Verfahren für das Los 4 unverzueglich zu annulieren.

7 Die belgischen Behörden verpflichteten sich bei einem Treffen vom 1. Juli 1994, sich so bald wie möglich zu dem Vergabeverfahren für das Los 4 zu äussern. Gleichwohl erhielt die Kommission keine Stellungnahme. Sie leitete daher ein Verfahren gemäß Artikel 169 EG-Vertrag ein, indem sie der belgischen Regierung am 28. Juli 1994 ein Aufforderungsschreiben sandte.

8 Mit Schreiben vom 31. August 1994 antwortete die belgische Regierung, daß die belgische Regelung über öffentliche Aufträge nur auf die vollziehende Gewalt, also die Verwaltungen des Staates, der Gemeinschaften und der Regionen, anwendbar sei und daß die Legislative nicht verpflichtet sei, das Gemeinschaftsrecht zu beachten, solange die Richtlinie 93/37 für sie nicht korrekt umgesetzt worden sei. Speziell zum Los 4 teilte die belgische Regierung der Kommission mit, daß das Büro des Vlaamse Raad eine Annulierung des Vergabeverfahrens abgelehnt habe.

9 Mit Schreiben vom 16. November 1995 gab die Kommission eine mit Gründen versehene Stellungnahme ab, in der sie das Königreich Belgien aufforderte, alle erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um der Stellungnahme innerhalb von dreissig Tagen ab Kenntnisnahme nachzukommen.

10 Mit Schreiben vom 15. Dezember 1995 übermittelte die Ständige Vertretung Belgiens bei der Europäischen Union der Kommission ein Schreiben vom 14. Dezember 1995, in dem der Präsident des Vlaamse Raad darauf hinwies, daß auf nationaler Ebene ein gesetzlicher Rahmen fehle, der die Unabhängigkeit des Vlaamse Raad als parlamentarischer Institution bei der Vergabe öffentlicher Aufträge gewährleiste. Im übrigen seien konkrete Pläne für Maßnahmen in Vorbereitung; der Vlaamse Raad erörtere dieses Thema mit den Bundesstellen.

11 In der Folge übermittelte die Ständige Vertretung Belgiens bei der Europäischen Union der Kommission mit Schreiben vom 10. April 1996 ein vom Präsidenten des Vlaamse Raad unterzeichnetes ergänzendes Schreiben vom 25. Februar 1996, nach dem der Vlaamse Raad, da die Stellungnahme der Bundesstellen nicht mehr abgewartet werden könne, ein Dekret zur Umsetzung der betreffenden Richtlinien vorbereite; der Kommission würden in naher Zukunft weitere Einzelheiten mitgeteilt.

12 Da die Kommission seitdem keine Mitteilungen erhalten hat, hat sie die vorliegende Klage erhoben.

Die Richtlinie 93/37

13 Nach ihrer ersten Begründungserwägung soll die Richtlinie 93/37 die Vorschriften der Richtlinie 71/305/EWG des Rates vom 26. Juli 1971 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge (ABl. L 185, S. 5) aus Gründen der Klarheit und der Übersichtlichkeit kodifizieren.

14 In Artikel 1 der Richtlinie 93/37 heisst es: "Im Sinne dieser Richtlinie

...

b) gelten als ffentliche Auftraggeber: der Staat, Gebietskörperschaften, Einrichtungen des öffentlichen Rechts und Verbände, die aus einer oder mehreren dieser Körperschaften oder Einrichtungen bestehen.

...

e) sind offene Verfahren diejenigen einzelstaatlichen Verfahren, bei denen alle interessierten Unternehmer ein Angebot abgeben können;

f) sind nicht offene Verfahren diejenigen einzelstaatlichen Verfahren, bei denen nur die vom öffentlichen Auftraggeber aufgeforderten Unternehmen ein Angebot abgeben können;

g) sind Verhandlungsverfahren diejenigen einzelstaatlichen Verfahren, bei denen die öffentlichen Auftraggeber ausgewählte Unternehmen ansprechen und mit einem oder mehreren dieser Unternehmen über die Auftragsbedingungen verhandeln;

..."

15 Artikel 6 Absätze 1 und 3 der Richtlinie 93/37 lautet wie folgt:

"(1) Diese Richtlinie gilt für die öffentlichen Bauaufträge, deren geschätzter Auftragswert ohne Mehrwertsteuer 5 000 000 ECU oder mehr beträgt.

...

(3) Besteht ein Bauwerk aus mehreren Losen, für die jeweils ein gesonderter Auftrag vergeben wird, so muß der Wert eines jeden Loses bei der Errechnung des in Absatz 1 angegebenen Betrages berücksichtigt werden. Beläuft sich der kumulierte Wert der Lose auf den in Absatz 1 genannten Betrag oder übersteigt er ihn, so wird Absatz 1 auf alle Lose angewandt. Die öffentlichen Auftraggeber können von den Bestimmungen des Absatzes 1 bei Losen abweichen, deren geschätzter Auftragswert ohne Mehrwertsteuer weniger als 1 000 000 ECU beträgt, sofern der kumulierte Auftragswert dieser Lose 20 v. H. des kumulierten Wertes aller Lose nicht übersteigt."

16 Artikel 7 der Richtlinie 93/37 bestimmt:

"(1) Für die Vergabe öffentlicher Bauaufträge haben die öffentlichen Auftraggeber die in Artikel 1 Buchstaben e), f) und g) genannten Verfahren in einer an diese Richtlinie angepassten Form anzuwenden.

(2) Die öffentlichen Auftraggeber können in den folgenden Fällen im Verhandlungsverfahren Bauaufträge vergeben, vorausgesetzt, daß sie eine Vergabebekanntmachung veröffentlicht und die Bewerber nach bekannten Eignungskriterien ausgewählt haben:

...

(3) Die öffentlichen Auftraggeber können in den folgenden Fällen Bauaufträge im Verhandlungsverfahren ohne vorherige Veröffentlichung einer Vergabebekanntmachung vergeben:

a) wenn im Rahmen eines offenen oder nicht offenen Verfahrens keine oder keine geeigneten Angebote abgegeben worden sind, sofern die ursprünglichen Bedingungen des Auftrags nicht grundlegend geändert werden. Der Kommission muß ein Bericht vorgelegt werden, wenn sie dies wünscht;

b) wenn die Arbeiten aus technischen oder künstlerischen Gründen oder aufgrund des Schutzes von Ausschließlichkeitsrechten nur von einem bestimmten Unternehmen ausgeführt werden können;

c) soweit dies unbedingt erforderlich ist, wenn dringliche, zwingende Gründe im Zusammenhang mit Ereignissen, die die betreffenden öffentlichen Auftraggeber nicht voraussehen konnten, es nicht zulassen, die in den offenen, den nicht offenen oder den Verhandlungsverfahren gemäß Absatz 2 vorgeschriebenen Fristen einzuhalten. Die angeführten Umstände zur Begründung der zwingenden Dringlichkeit dürfen auf keinen Fall den öffentlichen Auftraggebern zuzuschreiben sein;

d) bei zusätzlichen Bauarbeiten, die weder in dem der Vergabe zugrundeliegenden Entwurf noch im zuerst geschlossenen Vertrag vorgesehen sind, die aber wegen eines unvorhergesehenen Ereignisses zur Ausführung der darin beschriebenen Bauleistung erforderlich sind, sofern der Auftrag an den Unternehmer vergeben wird, der diese Bauleistung ausführt:

- wenn sich diese Arbeiten in technischer oder wirtschaftlicher Hinsicht nicht ohne wesentlichen Nachteil für den öffentlichen Auftraggeber vom Hauptauftrag trennen lassen oder

- wenn diese Arbeiten zwar von der Ausführung des ersten Vorhabens getrennt werden können, aber für dessen Verbesserung unbedingt erforderlich sind.

Der Gesamtbetrag der Aufträge für die zusätzlichen Bauarbeiten darf jedoch 50 v. H. des Wertes des Hauptauftrags nicht überschreiten;

e) bei neuen Bauarbeiten, die in der Wiederholung gleichartiger Bauleistungen bestehen, die durch den gleichen öffentlichen Auftraggeber an den Unternehmer vergeben werden, der den ersten Auftrag erhalten hat, sofern sie einem Grundentwurf entsprechen und dieser Entwurf Gegenstand des ersten Auftrags war, der nach den in Absatz 4 genannten Verfahren vergeben wurde.

Die Möglichkeit der Anwendung dieses Verfahrens muß bereits bei der Ausschreibung des ersten Bauabschnitts angegeben werden; der für die Fortsetzung der Bauarbeiten in Aussicht genommene Gesamtauftragswert wird vom öffentlichen Auftraggeber für die Anwendung von Artikel 6 berücksichtigt. Dieses Verfahren darf jedoch nur binnen drei Jahren nach Abschluß des ersten Auftrags angewandt werden.

(4) In allen anderen Fällen vergibt der öffentliche Auftraggeber seine Bauaufträge im offenen oder nicht offenen Verfahren."

17 Schließlich sieht Artikel 11 Absätze 2 und 9 der Richtlinie 93/37 vor:

"(2) Öffentliche Auftraggeber, die einen Bauauftrag im Wege eines offenen, eines nicht offenen oder - in den in Artikel 7 Absatz 2 genannten Fällen - eines Verhandlungsverfahrens vergeben wollen, teilen ihre Absicht in einer Bekanntmachung mit.

...

(9) Die in den Absätzen 2, 3 und 4 vorgesehenen Bekanntmachungen werden in vollem Umfang im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften und in der Datenbank TED in den Originalsprachen veröffentlicht. Eine Zusammenfassung der wichtigsten Elemente aller Bekanntmachungen wird in den übrigen Amtssprachen der Gemeinschaften veröffentlicht, wobei nur der Wortlaut in der Originalsprache verbindlich ist."

18 Nach Artikel 36 Absatz 1 der Richtlinie 93/37 werden die Richtlinie 71/305 sowie die Vorschriften zu ihrer Änderung unbeschadet der Pflichten der Mitgliedstaaten hinsichtlich der Umsetzungs- und Anwendungsfristen aufgehoben.

Die Richtlinie 89/440

19 Die Richtlinie 89/440 ist eine der Richtlinien, mit denen die Richtlinie 71/305 vor dem Erlaß der Richtlinie 93/37 geändert wurde.

20 Bis auf einige redaktionelle Unterschiede entsprachen die mit der Richtlinie 89/440 geänderten Vorschriften der Richtlinie 71/305, die die Definition der öffentlichen Auftraggeber (Artikel 1 Buchstabe b), die Begrenzung des sachlichen Anwendungsbereichs (Artikel 4a), die von den öffentlichen Auftraggebern anzuwendenden Verfahren (Artikel 5) und die von ihnen u. a. im Verhandlungsverfahren zu beachtenden Veröffentlichungsmodalitäten (Artikel 12 Absätze 2 und 9) betrafen, den entsprechenden Vorschriften der Richtlinie 93/37, die in den Randnummern 14 bis 17 des vorliegenden Urteils wiedergegeben sind.

Die Klage

21 Die Kommission wirft dem Königreich Belgien mit ihrer Klage vor, es habe die Bestimmungen der Richtlinien 89/440 und 93/37 nicht beachtet. Nach den Akten war, als das erste Vergabeverfahren eingeleitet wurde, die Richtlinie 89/440 und, als das Verfahren bezueglich des Loses 4 eingeleitet wurde, die Richtlinie 93/37 in Kraft. Mit der Richtlinie 93/37 wurde die Richtlinie 71/305 einschließlich der Vorschriften zu ihrer Änderung, insbesondere derjenigen in der Richtlinie 89/440, aufgehoben und ersetzt.

22 Die Kommission führt aus, die belgische Regierung habe die Bestimmungen der Richtlinie 89/440 und Artikel 11 Absätze 2 und 9 der Richtlinie 93/37 nicht beachtet, da sie sich ohne Vergabebekanntmachung und ohne Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften nichtoffener Verfahren bedient habe.

23 Ausserdem müssten vor der Vergabe eines Auftrags im Verhandlungsverfahren die Voraussetzungen des Artikels 7 der Richtlinie 93/37 erfuellt sein. So könne ein öffentlicher Auftraggeber einen Auftrag im Verhandlungsverfahren nur dann ohne vorherige Bekanntmachung vergeben, wenn die Voraussetzungen des Artikels 7 Absatz 3 dieser Richtlinie vorlägen.

24 Das Königreich Belgien habe daher gegen Artikel 7 der Richtlinie 93/37 verstossen, indem es für den zweiten Abschnitt des Loses 4 ein Verhandlungsverfahren angewandt habe, obwohl kein in dieser Bestimmung vorgesehener Grund hierfür vorlag.

25 Für die Entscheidung des Rechtsstreits kommt es zunächst darauf an, ob der Vlaamse Raad ein öffentlicher Auftraggeber im Sinne von Artikel 1 Buchstabe b der Richtlinie 71/305 in der Fassung des Artikels 1 Absatz 1 der Richtlinie 89/440 sowie im Sinne von Artikel 1 Buchstabe b der Richtlinie 93/37 ist.

26 Nach der Definition des öffentlichen Auftraggebers, die in den beiden Richtlinien inhaltlich gleich ist, gelten im Sinne der jeweiligen Richtlinie "als ffentliche Auftraggeber: der Staat, Gebietskörperschaften, Einrichtungen des öffentlichen Rechts und Verbände, die aus einer oder mehreren dieser Körperschaften oder Einrichtungen bestehen."

27 Der hier verwendete Begriff des Staates umfasst alle Organe, die die gesetzgebende, die vollziehende und die rechtsprechende Gewalt ausüben. Das gleiche gilt in einem Bundesstaat für die Organe, die diese Gewalten auf der Ebene der Einzelstaaten ausüben.

28 Übrigens hat der Gerichtshof im Urteil vom 20. September 1988 in der Rechtssache 31/87 (Beentjes, Slg. 1988, 4635, Randnrn. 11 bis 13) festgestellt, daß der in Artikel 1 Buchstabe b der Richtlinie 71/305 verwendete Begriff des Staates im funktionellen Sinne zu verstehen sei und daß darunter eine örtliche Flurbereinigungskommission falle, obwohl sie nicht förmlich in die staatliche Verwaltung eingegliedert sei. Es wäre nicht folgerichtig, ein Gesetzgebungsorgan vom Begriff des Staates im Sinne der Gemeinschaftsrichtlinien über öffentliche Bauaufträge auszunehmen, obwohl eine nicht förmlich in die staatliche Verwaltung eingegliederte Einrichtung im Rahmen der Anwendung einer dieser Richtlinien unter diesen Begriff subsumiert wurde.

29 Folglich fällt ein Gesetzgebungsorgan wie der Vlaamse Raad unter den Begriff des Staates und ist somit öffentlicher Auftraggeber im Sinne von Artikel 1 Buchstabe b der Richtlinie 71/305 in der Fassung des Artikels 1 Absatz 1 der Richtlinie 89/440 sowie im Sinne von Artikel 1 Buchstabe b der Richtlinie 93/37.

30 Im übrigen ist unstreitig, daß jedes der Lose, für die der Vlaamse Raad Bauaufträge vergab, den Betrag überstieg, der in dem durch Artikel 1 Nr. 6 der Richtlinie 89/440 eingefügten Artikel 4a der Richtlinie 71/305 und in Artikel 6 der Richtlinie 93/37 vorgesehen ist.

31 Daher fielen die vom Vlaamse Raad vergebenen Aufträge unter die Richtlinie 71/305 in der Fassung der Richtlinie 89/440 sowie unter die Richtlinie 93/37, so daß bei der Vergabe die Vorschriften dieser Richtlinien zu beachten waren.

32 Nach Artikel 12 Absätze 2 und 9 der Richtlinie 71/305 in der Fassung des Artikels 1 Absatz 12 der Richtlinie 89/440 teilen die öffentlichen Auftraggeber, die einen Bauauftrag im Wege eines offenen, eines nichtoffenen oder - in den in Artikel 5 Absatz 2 genannten Fällen - eines Verhandlungsverfahrens vergeben wollen, ihre Absicht durch eine im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften veröffentlichte Bekanntmachung mit.

33 Auch nach Artikel 11 Absätze 2 und 9 der Richtlinie 93/37 müssen "[ö]ffentliche Auftraggeber, die einen Bauauftrag im Wege eines offenen, eines nicht offenen oder - in den in Artikel 7 Absatz 2 genannten Fällen - eines Verhandlungsverfahrens vergeben wollen", ihre Absicht durch Veröffentlichung einer Bekanntmachung im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften mitteilen.

34 Nach diesen Vorschriften entfällt die Verpflichtung zur Veröffentlichung einer Bekanntmachung nur dann, wenn die öffentlichen Auftraggeber beabsichtigen, in den Fällen des Artikels 5 Absatz 3 der Richtlinie 71/305 in der Fassung der Richtlinie 89/440 oder in den Fällen des Artikels 7 Absatz 3 der Richtlinie 93/37 einen Bauauftrag im Wege eines Verhandlungsverfahrens zu vergeben.

35 Im vorliegenden Fall behauptet die belgische Regierung weder eine Bekanntmachung im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften noch, daß die Voraussetzungen des Artikels 5 Absatz 3 der Richtlinie 71/305 in der Fassung der Richtlinie 89/440 und des Artikels 7 Absatz 3 der Richtlinie 93/37 für ein Verhandlungsverfahren ohne vorherige Veröffentlichung einer Bekanntmachung vorgelegen hätten.

36 In der mündlichen Verhandlung hat die belgische Regierung jedoch unter Bezugnahme auf Artikel 4 der Richtlinie 93/37 geltend gemacht, daß die Mitgliedstaaten den Verpflichtungen aus dieser Richtlinie unter bestimmten Umständen nicht nachzukommen bräuchten.

37 Nach Artikel 4 findet die Richtlinie 93/37 keine Anwendung auf

"a) die Vergabe von Aufträgen in den Bereichen, die in den Artikeln 2, 7, 8 und 9 der Richtlinie 90/531/EWG genannt sind, und von Aufträgen, die den Bedingungen des Artikels 6 Absatz 2 der genannten Richtlinie entsprechen;

b) Bauaufträge, die gemäß den Rechts- und Verwaltungsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats für geheim erklärt werden oder deren Ausführung nach diesen Vorschriften besondere Sicherheitsmaßnahmen erfordert, oder wenn der Schutz wesentlicher Interessen des Mitgliedstaats es gebietet."

38 Dieses Vorbringen hat die belgische Regierung erstmals in der mündlichen Verhandlung geltend gemacht; eine Begründung dafür hat sie nicht gegeben. Es ist daher verspätet. Zudem hat die belgische Regierung nicht belegt, daß die Bauaufträge des Vlaamse Raad unter Artikel 4 fielen.

39 Dieses Vorbringen ist daher zurückzuweisen.

40 Die belgische Regierung führt ferner aus, daß auf der Ebene des innerstaatlichen Rechts das im entscheidungserheblichen Zeitraum geltende Gesetz vom 14. Juli 1976, nach dessen Artikel 2 Absatz 1 jeder Minister im Rahmen seiner Befugnisse dafür zuständig sei, Entscheidungen über die Vergabe und Ausführung von Aufträgen des Staates und der seiner Dienstaufsicht unterstehenden Einrichtungen zu treffen, keine Anwendung auf Gesetzgebungsorgane finde, zumal die Unabhängigkeit und die Vorrangstellung, die die belgische Verfassung der gesetzgebenden Gewalt einräumten, einer Unterwerfung der gesetzgebenden Kammern, zu denen der Vlaamse Raad zähle, unter die ministerielle Zuständigkeit entgegenstuenden.

41 Dieses aus dem innerstaatlichen Recht hergeleitete Vorbringen steht der Feststellung, daß der Vlaamse Raad ein öffentlicher Auftraggeber im Sinne von Artikel 1 Buchstabe b der Richtlinie 71/305 in der Fassung des Artikels 1 Absatz 1 der Richtlinie 89/440 sowie von Artikel 1 Buchstabe b der Richtlinie 93/37 ist, sowie der daraus folgenden Verpflichtung zur Beachtung der Bestimmungen dieser Richtlinien über die Veröffentlichung und die Vergabeverfahren nicht entgegen.

42 Nach ständiger Rechtsprechung kann sich ein Mitgliedstaat nämlich nicht auf Bestimmungen, Übungen oder Umstände seiner internen Rechtsordnung berufen, um die Nichteinhaltung der in einer Richtlinie festgelegten Verpflichtungen und Fristen zu rechtfertigen (vgl. u. a. Urteil vom 12. Februar 1998 in der Rechtssache C-144/97, Kommission/Frankreich, Slg. 1998, I-613, Randnr. 8).

43 Daher ist dieses Vorbringen ebenfalls zurückzuweisen.

44 Nach alledem ist festzustellen, daß das Königreich Belgien dadurch, daß es

- weder für das Gesamtvorhaben noch für die einzelnen Lose im Zusammenhang mit dem Bau des Gebäudes für den Vlaamse Raad eine Vergabebekanntmachung im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften veröffentlicht hat,

- nicht die Vergabeverfahren gemäß der Richtlinie 71/305 in der Fassung der Richtlinie 89/440 und gemäß der Richtlinie 93/37 angewandt und insbesondere das Los 4 ohne Rechtfertigungsgrund freihändig vergeben hat,

gegen seine Verpflichtungen aus diesen Richtlinien und insbesondere aus den Artikeln 7 und 11 Absätze 2 und 9 der Richtlinie 93/37 verstossen hat.

Kostenentscheidung:

Kosten

45 Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da das Königreich Belgien mit seinem Vorbringen unterlegen ist, sind ihm die Kosten aufzuerlegen.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

(Sechste Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

1. Das Königreich Belgien hat dadurch, daß es

- weder für das Gesamtvorhaben noch für die einzelnen Lose im Zusammenhang mit dem Bau des Gebäudes für den Vlaamse Raad eine Vergabebekanntmachung im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften veröffentlicht hat,

- die Vergabeverfahren gemäß der Richtlinie 71/305/EWG des Rates vom 26. Juli 1971 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge in der Fassung der Richtlinie 89/440/EWG des Rates vom 18. Juli 1989 und gemäß der Richtlinie 93/37/EWG des Rates vom 14. Juni 1993 zur Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge nicht angewandt und insbesondere das Los 4 ohne Rechtfertigungsgrund freihändig vergeben hat,

gegen seine Verpflichtungen aus diesen Richtlinien und insbesondere aus den Artikeln 7 und 11 Absätze 2 und 9 der Richtlinie 93/37 verstossen.

2. Das Königreich Belgien trägt die Kosten des Verfahrens.

Ende der Entscheidung

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