Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 17.04.1997
Aktenzeichen: C-336/95
Rechtsgebiete: Richtlinie 77/187/EWG


Vorschriften:

Richtlinie 77/187/EWG Art. 3 Abs. 1
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Eine Berufung auf die Vorschriften der Richtlinie 77/187 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Betriebsteilen ist hinsichtlich eines Unternehmensübergangs, der zu einem Zeitpunkt erfolgt ist, zu dem die Richtlinie in dem betreffenden Mitgliedstaat noch keine rechtlichen Wirkungen entfaltet hat, nicht möglich.


Urteil des Gerichtshofes (Dritte Kammer) vom 17. April 1997. - Pedro Burdalo Trevejo u. a. gegen Fondo Garantía Salarial. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Juzgado de lo Social nº 16 de Barcelona - Spanien. - Richtlinie 77/187/EWG - Übergang von Unternehmen - Berücksichtigung der Dauer der Betriebszugehörigkeit bei der Berechnung von Kündigungsabfindungen durch eine Garantieeinrichtung. - Rechtssache C-336/95.

Entscheidungsgründe:

1 Der Juzgado de lo Social Nr. 16 Barcelona hat mit Beschluß vom 1. September 1995, beim Gerichtshof eingegangen am 25. Oktober 1995, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung des Artikels 1 Absatz 1 und des Artikels 3 Absatz 3 Unterabsatz 2 der Richtlinie 77/187/EWG des Rates vom 14. Februar 1977 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Betriebsteilen (ABl. L 61, S. 26; im folgenden: Richtlinie) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen Pedro Burdalo Trevejo, José Soriano Marco, Migül Casa Alonso und Vicente Pérez de la Cruz und dem Fondo de Garantía Salarial (Lohngarantiefonds) über die Berücksichtigung der Dauer der Betriebszugehörigkeit der Betroffenen bei der Berechnung der bei Kündigung oder ungerechtfertigter Entlassung vorgesehenen Entschädigungen.

3 Artikel 1 Absatz 1 der Richtlinie bestimmt:

"Diese Richtlinie ist auf den Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Betriebsteilen auf einen anderen Inhaber durch vertragliche Übertragung oder durch Verschmelzung anwendbar."

4 Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie sieht folgendes vor:

"Die Rechte und Pflichten des Veräusserers aus einem zum Zeitpunkt des Übergangs im Sinne des Artikels 1 Absatz 1 bestehenden Arbeitsvertrag oder Arbeitsverhältnis gehen auf Grund des Übergangs auf den Erwerber über."

5 Artikel 3 Absatz 3 schließlich lautet wie folgt:

"Die Absätze 1 und 2 gelten nicht für die Rechte der Arbeitnehmer auf Leistungen bei Alter, bei Invalidität oder für Hinterbliebene aus betrieblichen oder überbetrieblichen Zusatzversorgungseinrichtungen ausserhalb der gesetzlichen Systeme der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten.

Die Mitgliedstaaten treffen die notwendigen Maßnahmen zum Schutz der Interessen der Arbeitnehmer sowie der Personen, die zum Zeitpunkt des Übergangs im Sinne des Artikels 1 Absatz 1 bereits aus dem Betrieb des Veräusserers ausgeschieden sind, hinsichtlich ihrer Rechte oder Anwartschaftsrechte auf Leistungen bei Alter, einschließlich Leistungen für Hinterbliebene, aus den in Unterabsatz 1 genannten Zusatzversorgungseinrichtungen."

6 Die Kläger haben während vieler Jahre (zwischen 24 und 42 Jahren) bei einem von Enrique Capella gegründeten Textilunternehmen gearbeitet, das mehrfach den Inhaber gewechselt hat. Dabei wurde dieses Unternehmen am 19. Mai 1978 zur Firma "Hijos de Enrique Capella", am 29. Juni 1981 zur Firma "Ennoblecimiento Textil" und am 7. Januar 1986 zur Firma "Hiades", ohne daß diese Änderungen sich auf die Arbeitsverhältnisse der Betroffenen auswirkten.

7 Die Beziehungen zwischen den Klägern und der Firma Hiades wurden vom Departemente de Treball der Generalitat de Catalunya am 10. Mai 1993 mit der Folge für aufgelöst erklärt, daß der Fondo de Garantía Salarial damit betraut wurde, die Entschädigungen zu zahlen, die nach spanischem Recht bei der Auflösung von Arbeitsverträgen aus wirtschaftlichen und technologischen Gründen oder wegen höherer Gewalt in Unternehmen mit weniger als 25 Arbeitnehmern vorgesehen sind.

8 Nachdem der Fondo de Garantía Salarial es abgelehnt hatte, bei der Berechnung dieser Entschädigungen die Beschäftigungszeiten vor dem 19. Mai 1978, dem Zeitpunkt des ersten Unternehmensübergangs, zu berücksichtigen, erhoben die Betroffenen eine Klage, die an den Juzgado de lo Social Nr. 16 Barcelona verwiesen wurde.

9 Dieses Gericht ist der Auffassung, daß zur Entscheidung des Rechtsstreits eine Auslegung der Richtlinie erforderlich sei, und hat beschlossen, dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Können die Leistungen, die der Fondo de Garantía Salarial zu erbringen hat, nach den Rechtsvorschriften oder der Rechtsprechung eines Mitgliedstaats - ohne gegen Artikel 1 Absatz 1 und 3 Absatz 3 Unterabsatz 2 der Richtlinie 77/187/EWG vom 14. Februar 1977 zu verstossen - dadurch verringert werden, daß diese Leistungen nicht nach der gesamten Dauer der Betriebszugehörigkeit berechnet werden, sondern bestimmte Zeiträume ausgeschlossen werden, obwohl der Arbeitnehmer in dieser Zeit ununterbrochen bei einem Unternehmen beschäftigt war, das Gegenstand eines Unternehmensübergangs war?

10 Aus dem Vorlagebeschluß geht hervor, daß der Fondo de Garantía Salarial zwar eine Garantieeinrichtung im Sinne der Richtlinie 80/987/EWG des Rates vom 20. Oktober 1980 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers (ABl. L 283, S. 23) ist, daß das vorlegende Gericht aber der Ansicht ist, die streitigen Entschädigungen würden durch diese Richtlinie nicht erfasst. Es fragt sich dagegen nach der Bedeutung einiger Vorschriften der Richtlinie 77/187 und insbesondere danach, ob die Garantieeinrichtung nach diesen Vorschriften bei der für die Berechnung der Kündigungsentschädigungen zu berücksichtigenden Dauer der Betriebszugehörigkeit den Zeitraum vor dem ersten, am 19. Mai 1978 erfolgten Unternehmensübergang ausser acht lassen darf.

11 Die spanische Regierung trägt zunächst vor, da das streitige Datum 19. Mai 1978 vor dem Beitritt des Königreichs Spanien zur Gemeinschaft und sogar vor dem Ablauf der für die Durchführung der Richtlinie vorgesehenen Zweijahresfrist liege, sei im Ausgangsverfahren eine Berufung auf die Richtlinie nicht möglich. Sie führt dann aus, Artikel 3 Absatz 3 der Richtlinie, der ausschließlich Leistungen bei Alter oder Invalidität aus Zusatzversorgungseinrichtungen betreffe, sei auf die streitigen Entschädigungen nicht anwendbar. Was den allgemeinen Grundsatz in Artikel 3 Absatz 1 angeht, verweist das Königreich Spanien schließlich auf die Rechtsprechung des Gerichtshofes, wonach die Richtlinie lediglich gewährleisten solle, daß für die Beziehungen zwischen dem betroffenen Arbeitnehmer und dem Erwerber die gleichen Bedingungen gälten wie für seine Beziehungen mit dem Veräusserer nach den Rechtsvorschriften des betreffenden Staates.

12 Die Kommission ist der Ansicht, die Richtlinie, die für die Verpflichtungen des Erwerbers gelte, sei zwar auf eine Garantieeinrichtung wie den Fondo de Garantía Salarial nicht unmittelbar anwendbar, die diese Art von Einrichtungen betreffenden Rechtsvorschriften dürften aber die praktische Wirksamkeit der Richtlinie nicht einschränken. In diesem Zusammenhang dürfe insbesondere die Berücksichtigung der Dauer der Betriebszugehörigkeit des Arbeitnehmers für die Berechnung der Kündigungsentschädigungen durch eventuelle Übergänge des Unternehmens, in dem der Arbeitnehmer seine Tätigkeit ausgeuebt habe, nicht berührt werden. Was Artikel 3 Absatz 3 der Richtlinie angeht, stellt die Kommission wie die spanische Regierung fest, daß diese Vorschrift auf die Tätigkeiten, die Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits seien, nicht anwendbar sei.

13 Auf eine Frage des Gerichtshofes hat die spanische Regierung geantwortet, in der Rechtsprechung des Tribunal Supremo werde zwischen dem Begriff "antigüedad", der sich auf den gesamten Zeitraum der Ausübung eines bestimmten Berufes erstrecke, und dem Begriff "tiempo de servicios" unterschieden, mit dem die in einem bestimmten Unternehmen zurückgelegte Zeit bezeichnet werde. Im Ausgangsrechtsstreit habe die Tätigkeit vor 1978 nicht berücksichtigt werden können, weil zu diesem Zeitpunkt ein neues Unternehmen gegründet worden sei, das die Arbeitnehmer, die ihre berufliche Tätigkeit bereits bei einem anderen Unternehmen ausgeuebt hätten, mit dem ihr Arbeitsverhältnis geendet habe, eingestellt und bei der Sozialversicherung angemeldet habe. Etwas anderes habe dagegen für die 1981 und 1986 erfolgten Übergänge gegolten, bei denen kraft Gesetzes ein Übergang der Rechte und Pflichten der Unternehmen eingetreten sei.

14 Wie der Generalanwalt in den Nummern 23 bis 26 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ergibt sich aus diesen tatsächlichen Umständen, daß die betroffenen Arbeitnehmer unabhängig davon, welche materielle Tragweite die Richtlinie unter Umständen wie den vom vorlegenden Gericht beschriebenen haben kann, sich nicht mit Erfolg auf die Richtlinie berufen können, da der streitige Unternehmensübergang erfolgt ist, bevor die Richtlinie in dem betreffenden Mitgliedstaat rechtliche Wirkungen entfaltet hat.

15 Das Datum 19. Mai 1978 liegt nämlich vor dem Beitritt des Königreichs Spanien zu den Gemeinschaften, der erst vom 1. Januar 1986 an rechtliche Wirkungen entfaltet hat (Artikel 2 des Vertrages über den Beitritt des Königreichs Spanien und der Portugiesischen Republik zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und zur Europäischen Atomgemeinschaft, ABl. 1985, L 302, S. 9). Wie die spanische Regierung hervorgehoben hat, liegt dieses Datum sogar vor dem Ablauf der für die Durchführung der Richtlinie durch die Mitgliedstaaten vorgesehenen Zweijahresfrist (Artikel 8 Absatz 1 der Richtlinie). Eine Berufung auf die Vorschriften dieser Richtlinie ist daher auf jeden Fall hinsichtlich eines zu diesem Zeitpunkt erfolgten Unternehmensübergangs nicht möglich (siehe z. B. Urteile vom 3. Dezember 1992 in den verbundenen Rechtssachen C-140/91, C-141/91, C-278/91 und C-279/91, Suffritti u. a., Slg. 1982, I-6337, Randnrn. 11 bis 13, und vom 3. März 1994 in der Rechtssache C-316/93, Vaneetveld, Slg. 1994, I-763, Randnr. 16).

16 Auf die Vorabentscheidungsfrage ist daher zu antworten, daß eine Berufung auf die Vorschriften der Richtlinie hinsichtlich eines Unternehmensübergangs, der zu einem Zeitpunkt erfolgt ist, zu dem die Richtlinie in dem betreffenden Mitgliedstaat noch keine rechtlichen Wirkungen entfaltet hat, nicht möglich ist.

Kostenentscheidung:

Kosten

17 Die Auslagen der spanischen Regierung und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

(Dritte Kammer)

auf die ihm vom Juzgado de lo Social Nr. 16 Barcelona mit Beschluß vom 1. September 1995 vorgelegte Frage für Recht erkannt:

Eine Berufung auf die Vorschriften der Richtlinie 77/187/EWG des Rates vom 14. Februar 1977 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Betriebsteilen ist hinsichtlich eines Unternehmensübergangs, der zu einem Zeitpunkt erfolgt ist, zu dem die Richtlinie in dem betreffenden Mitgliedstaat noch keine rechtlichen Wirkungen entfaltet hat, nicht möglich.

Ende der Entscheidung

Zurück