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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 07.05.1991
Aktenzeichen: C-340/89
Rechtsgebiete: EWG-Vertrag, BRAO


Vorschriften:

EWG-Vertrag Art. 52
EWG-Vertrag Art. 57 Abs. 1
BRAO § 4
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Artikel 52 EWG-Vertrag ist dahin auszulegen, daß die Behörden eines Mitgliedstaats, bei denen ein Gemeinschaftsangehöriger die Zulassung zum Anwaltsberuf beantragt, der bereits in seinem Herkunftsland als Rechtsanwalt zugelassen und im erstgenannten Mitgliedstaat als Rechtsbeistand tätig ist, prüfen müssen, inwieweit die Kenntnisse und Fähigkeiten, die durch das von dem Betroffenen in seinem Herkunftsland erworbene Diplom bescheinigt werden, den nach dem Recht des Aufnahmestaats vorgeschriebenen Kenntnissen und Fähigkeiten entsprechen. Diese Prüfung muß nach einem Verfahren vorgenommen werden, das mit den Erfordernissen des Gemeinschaftsrechts in bezug auf den effektiven Schutz der den Gemeinschaftsangehörigen vom Vertrag verliehenen Grundrechte in Einklang steht. Deshalb muß jede Entscheidung gerichtlich auf ihre Rechtmässigkeit im Hinblick auf das Gemeinschaftsrecht überprüft werden und der Betroffene von den Gründen Kenntnis erhalten können, auf denen die ihm gegenüber ergangene Entscheidung beruht.

Entsprechen die Diplome einander nur teilweise, so können die nationalen Behörden von dem Betroffenen den Nachweis, daß er die fehlenden Kenntnisse und Fähigkeiten erworben hat, verlangen. Insoweit müssen die Behörden beurteilen, ob die im Aufnahmemitgliedstaat im Rahmen eines Studiengangs oder praktischer Erfahrung erworbenen Kenntnisse für den Nachweis des Erwerbs der fehlenden Kenntnisse ausreichen.

Ist im Aufnahmemitgliedstaat die Absolvierung eines beruflichen Vorbereitungsdienstes oder eines Berufspraktikums vorgeschrieben, so haben die nationalen Behörden zu beurteilen, ob eine im Herkunfts- oder im Aufnahmemitgliedstaat erworbene Berufserfahrung als diesem Erfordernis ganz oder teilweise entsprechend angesehen werden kann.


URTEIL DES GERICHTSHOFES VOM 7. MAI 1991. - IRENE VLASSOPOULOU GEGEN MINISTERIUM FUER JUSTIZ, BUNDES- UND EUROPAANGELEGENHEITEN BADEN-WUERTTEMBERG. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: BUNDESGERICHTSHOF - DEUTSCHLAND. - NIEDERLASSUNGSFREIHEIT - ANERKENNUNG VON DIPLOMEN - RECHTSANWAELTE. - RECHTSSACHE C-340/89.

Entscheidungsgründe:

1 Der Bundesgerichtshof hat mit Beschluß vom 18. September 1989, beim Gerichtshof eingegangen am 3. November 1989, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung von Artikel 52 EWG-Vertrag zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen Frau Vlassopoulou, einer in Athen zugelassenen Rechtsanwältin griechischer Staatsangehörigkeit, und dem Ministerium für Justiz, Bundes- und Europaangelegenheiten Baden-Württemberg, das es abgelehnt hat, sie als Rechtsanwältin beim Amtsgericht Mannheim sowie bei den Landgerichten Mannheim und Heidelberg zuzulassen.

3 Neben ihren griechischen Diplomen erwarb Frau Vlassopoulou an der Universität Tübingen den Titel eines Doktors der Rechte. Seit Juli 1983 ist sie in einer deutschen Anwaltskanzlei in Mannheim tätig. Im November 1984 wurde ihr die Erlaubnis zur Besorgung fremder Rechtsgeschäfte nach dem Rechtsberatungsgesetz (BGBl. III 303-12) für das griechische Recht und für das Gemeinschaftsrecht erteilt. In bezug auf das deutsche Recht ist Frau Vlassopoulou unter der Verantwortung eines ihrer deutschen Kollegen aus der Kanzlei tätig.

4 Am 13. Mai 1988 beantragte Frau Vlassopoulou beim Ministerium ihre Zulassung zur Rechtsanwaltschaft. Das Ministerium lehnte den Antrag mit der Begründung ab, Frau Vlassopoulou habe nicht die gemäß § 4 der Bundesrechtsanwaltsordnung (BGBl. 1959 I, S. 565) für den Zugang zum Anwaltsberuf erforderliche Befähigung zum Richteramt erworben. Im wesentlichen wird diese Befähigung durch ein rechtswissenschaftliches Studium an einer deutschen Universität, das Ablegen der ersten Staatsprüfung, einen Vorbereitungsdienst und eine zweite Staatsprüfung nach dessen Abschluß erworben. Das Ministerium führte ausserdem an, Artikel 52 EWG-Vertrag gewähre der Antragstellerin nicht das Recht, ihren Beruf in der Bundesrepublik Deutschland aufgrund ihrer in Griechenland erworbenen beruflichen Qualifikation auszuüben.

5 Der wegen dieses Bescheids angerufene Ehrengerichtshof wies den Antrag von Frau Vlassopoulou auf gerichtliche Entscheidung zurück. Hiergegen legte sie sofortige Beschwerde zum Bundesgerichtshof ein, der zu der Auffassung gelangt ist, der Rechtsstreit werfe eine Frage nach der Auslegung von Artikel 52 EWG-Vertrag auf, und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt hat:

Verletzt es die Niederlassungsfreiheit nach Artikel 52 EWG-Vertrag, wenn ein Angehöriger der Gemeinschaft, der bereits in seinem Heimatstaat als Rechtsanwalt zugelassen und tätig und im Aufnahmestaat seit fünf Jahren als Rechtsbeistand zugelassen und in einer dort ansässigen Rechtsanwaltskanzlei ebenfalls tätig ist, nur nach den gesetzlichen Regeln des Aufnahmestaats zur Rechtsanwaltschaft im Aufnahmestaat zugelassen wird?

6 Wegen weiterer Einzelheiten des rechtlichen Rahmens und des Sachverhalts des Ausgangsrechtsstreits, des Verfahrensablaufs sowie der beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt ist im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

7 Gemäß Artikel 52 Absatz 2 EWG-Vertrag "umfasst die Niederlassungsfreiheit die Aufnahme und Ausübung selbständiger Erwerbstätigkeiten... nach den Bestimmungen des Aufnahmestaats für seine eigenen Angehörigen".

8 Nach Ansicht der italienischen Regierung und der Bundesregierung geht aus dieser Bestimmung hervor, daß die Mitgliedstaaten, solange es weder gemeinschaftsrechtliche Vorschriften über die Koordinierung der Voraussetzungen für den Zugang zur selbständigen Tätigkeit eines Rechtsanwalts und über deren Ausübung noch Richtlinien über die gegenseitige Anerkennung der Diplome gebe, die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft von der Erfuellung diskriminierungsfreier Voraussetzungen des nationalen Rechts abhängig machen könnten.

9 Hierzu ist zunächst zu bemerken, daß die Mitgliedstaaten, solange es an einer Harmonisierung der Voraussetzungen für den Zugang zu einem Beruf fehlt, festlegen dürfen, welche Kenntnisse und Fähigkeiten zur Ausübung dieses Berufes notwendig sind, und die Vorlage eines Diploms verlangen dürfen, mit dem diese Kenntnisse und Fähigkeiten bescheinigt werden (siehe das Urteil

vom 15. Oktober 1987 in der Rechtssache 222/86, Heylens, Slg. 1987, 4097, Randnr. 10).

10 Es steht fest, daß noch keine Maßnahme gemäß Artikel 57 Absatz 2 EWG-Vertrag zur Harmonisierung der Voraussetzungen für den Zugang zur Anwaltstätigkeit erlassen wurde.

11 Bei der Einreichung des Antrags von Frau Vlassopoulou am 13. Mai 1988 war auch keine Richtlinie über die gegenseitige Anerkennung der zur Aufnahme des Rechtsanwaltsberufs berechtigenden Diplome gemäß Artikel 57 Absatz 1 EWG-Vertrag erlassen worden.

12 Die vom Rat am 21. Dezember 1988 erlassene Richtlinie 89/48/EWG über eine allgemeine Regelung zur Anerkennung der Hochschuldiplome, die eine mindestens dreijährige Berufsausbildung abschließen (ABl. 1989 L 19, S. 16), die die Mitgliedstaaten bis zum 4. Januar 1991 umzusetzen hatten, ist auf den vorliegenden Sachverhalt nicht anwendbar.

13 Artikel 52 erlegt jedoch, soweit er das Ende der Übergangszeit als Zeitpunkt für die Herstellung der Niederlassungsfreiheit bestimmt, eine Verpflichtung auf, deren Ergebnis klar umrissen ist und deren Erfuellung durch die Verwirklichung programmatisch festgelegter, abgestufter Maßnahmen zwar erleichtert, nicht aber bedingt werden sollte (siehe das Urteil vom 28. Juni 1977 in der Rechtssache 11/77, Patrick, Slg. 1977, 1199, Randnrn. 10/11).

14 Im übrigen geht aus dem Urteil vom 28. April 1977 in der Rechtssache 71/76 (Thieffry, Slg. 1977, 765, Randnrn. 15/18) hervor, daß die Ziele des Vertrages und insbesondere die Niederlassungsfreiheit, soweit das Gemeinschaftsrecht hierzu selbst nichts bestimmt, durch Maßnahmen der Mitgliedstaaten verwirklicht werden können, denen es nach Artikel 5 des Vertrages obliegt, "alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Erfuellung der Verpflichtungen, die sich aus dem Vertrag oder aus Handlungen der Organe der Gemeinschaft ergeben", zu treffen und "alle Maßnahmen, welche die Verwirklichung der Ziele dieses Vertrages gefährden könnten", zu unterlassen.

15 Hierzu ist festzustellen, daß nationale Qualifikationsvoraussetzungen, selbst wenn sie ohne Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit angewandt werden, sich dahin auswirken können, daß sie die Staatsangehörigen der anderen Mitgliedstaaten in der Ausübung des ihnen durch Artikel 52 EWG-Vertrag gewährleisteten Niederlassungsrechts beeinträchtigen. Dies kann der Fall sein, wenn die fraglichen nationalen Vorschriften die von dem Betroffenen in einem anderen Mitgliedstaat bereits erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten unberücksichtigt lassen.

16 Ein Mitgliedstaat, bei dem die Zulassung zu einem Beruf beantragt worden ist, dessen Aufnahme nach nationalem Recht vom Besitz eines Diploms oder einer beruflichen Qualifikation abhängt, hat somit die Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstigen Befähigungsnachweise, die der Betroffene erworben hat, um den gleichen Beruf in einem anderen Mitgliedstaat auszuüben, in der Weise zu berücksichtigen, daß er die durch diese Diplome bescheinigten Fachkenntnisse mit den nach nationalem Recht vorgeschriebenen Kenntnissen und Fähigkeiten vergleicht.

17 Dieses Prüfungsverfahren muß es den Behörden des Aufnahmemitgliedstaats ermöglichen, objektiv festzustellen, ob ein ausländisches Diplom seinem Inhaber die gleichen Kenntnisse und Fähigkeiten wie das innerstaatliche Diplom oder diesen zumindest gleichwertige Kenntnisse und Fähigkeiten bescheinigt. Diese Beurteilung der Gleichwertigkeit eines ausländischen Diploms muß ausschließlich danach erfolgen, welches Maß an Kenntnissen und Fähigkeiten dieses Diplom unter Berücksichtigung von Art und Dauer des Studiums und der praktischen Ausbildung, auf die es sich bezieht, bei seinem Besitzer vermuten lässt (siehe das Urteil vom 15. Oktober 1987 in der Rechtssache 222/86, a. a. O., Randnr. 13)

18 Im Rahmen dieser Prüfung kann ein Mitgliedstaat jedoch objektiven Unterschieden Rechnung tragen, die sowohl hinsichtlich des im Herkunftsmitgliedstaat für den fraglichen Beruf bestehenden rechtlichen Rahmens als auch hinsichtlich des Tätigkeitsbereichs dieses Berufs vorhanden sind. Im Falle des Anwaltsberufs darf ein Mitgliedstaat somit eine vergleichende Prüfung der Diplome unter Berücksichtigung der festgestellten Unterschiede zwischen den betroffenen nationalen Rechtsordnungen vornehmen.

19 Führt diese vergleichende Prüfung zu der Feststellung, daß die durch das ausländische Diplom bescheinigten Kenntnisse und Fähigkeiten den nach den nationalen Rechtsvorschriften verlangten entsprechen, so hat der Mitgliedstaat anzuerkennen, daß dieses Diplom die in diesen Vorschriften aufgestellten Voraussetzungen erfuellt. Ergibt der Vergleich hingegen, daß diese Kenntnisse und Fähigkeiten einander nur teilweise entsprechen, so kann der Aufnahmemitgliedstaat von dem Betroffenen den Nachweis, daß er die fehlenden Kenntnisse und Fähigkeiten erworben hat, verlangen.

20 Insoweit müssen die zuständigen nationalen Behörden beurteilen, ob die im Aufnahmemitgliedstaat im Rahmen eines Studiengangs oder praktischer Erfahrung erworbenen Kenntnisse für den Nachweis des Erwerbs der fehlenden Kenntnisse ausreichen.

21 Ist im Aufnahmemitgliedstaat die Absolvierung eines beruflichen Vorbereitungsdienstes oder eines Berufspraktikums vorgeschrieben, so haben die nationalen Behörden zu beurteilen, ob eine im Herkunfts- oder im Aufnahmemitgliedstaat erworbene Berufserfahrung als diesem Erfordernis ganz oder teilweise entsprechend angesehen werden kann.

22 Schließlich ist darauf hinzuweisen, daß die Prüfung, ob die durch das ausländische Diplom bescheinigten Kenntnisse und Fähigkeiten den nach dem Recht des Aufnahmemitgliedstaats vorgeschriebenen entsprechen, von den nationalen Behörden nach einem Verfahren vorgenommen werden muß, das mit den Erfordernissen des Gemeinschaftsrechts in bezug auf den effektiven Schutz der den Gemeinschaftsangehörigen vom Vertrag verliehenen Grundrechte in Einklang steht. Deshalb muß jede Entscheidung gerichtlich auf ihre Rechtmässigkeit im Hinblick auf das Gemeinschaftsrecht überprüft werden und der Betroffene von den Gründen Kenntnis erhalten können, auf denen die ihm gegenüber ergangene Entscheidung beruht (siehe das Urteil vom 15. Oktober 1987 in der Rechtssache 222/86, a. a. O., Randnr. 17).

23 Auf die Frage des Bundesgerichtshofs ist somit zu antworten, daß Artikel 52 EWG-Vertrag dahin auszulegen ist, daß die Behörden eines Mitgliedstaats, bei denen ein Gemeinschaftsangehöriger die Zulassung zum Anwaltsberuf beantragt, der bereits in seinem Herkunftsland als Rechtsanwalt zugelassen und im erstgenannten Mitgliedstaat als Rechtsbeistand tätig ist, prüfen müssen, inwieweit die Kenntnisse und Fähigkeiten, die durch das von dem Betroffenen in seinem Herkunftsland erworbene Diplom bescheinigt werden, den nach dem Recht des Aufnahmestaats vorgeschriebenen Kenntnissen und Fähigkeiten entsprechen; entsprechen diese Diplome einander nur teilweise, so können die betreffenden nationalen Behörden von dem Antragsteller den Nachweis verlangen, daß er die fehlenden Kenntnisse und Fähigkeiten erworben hat.

Kostenentscheidung:

Kosten

24 Die Auslagen der Bundesrepublik Deutschland und der Italienischen Republik sowie der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem nationalen Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

auf die ihm vom Bundesgerichtshof mit Beschluß vom 18. September 1989 vorgelegte Frage für Recht erkannt:

Artikel 52 EWG-Vertrag ist dahin auszulegen, daß die Behörden eines Mitgliedstaats, bei denen ein Gemeinschaftsangehöriger die Zulassung zum Anwaltsberuf beantragt, der bereits in seinem Herkunftsland als Rechtsanwalt zugelassen und im erstgenannten Mitgliedstaat als Rechtsbeistand tätig ist, prüfen müssen, inwieweit die Kenntnisse und Fähigkeiten, die durch das von dem Betroffenen in seinem Herkunftsland erworbene Diplom bescheinigt werden, den nach dem Recht des Aufnahmestaats vorgeschriebenen Kenntnissen und Fähigkeiten entsprechen; entsprechen diese Diplome einander nur teilweise, so können die betreffenden nationalen Behörden von dem Antragsteller den Nachweis verlangen, daß er die fehlenden Kenntnisse und Fähigkeiten erworben hat.

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