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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 21.07.2005
Aktenzeichen: C-349/03
Rechtsgebiete: Richtlinie 77/799/EWG


Vorschriften:

Richtlinie 77/799/EWG
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Urteil des Gerichtshofes (Große) vom 21. Juli 2005. - Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen Vereinigtes Königreich Grossbritannien und Nordirland. - Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats - Richtlinie 77/799/EWG - Gegenseitige Amtshilfe zwischen den zuständigen Behörden - Bereiche Mehrwertsteuer und Verbrauchsteuern - Unvollständige Umsetzung - Gebiet von Gibraltar. - Rechtssache C-349/03.

Parteien:

In der Rechtssache C-349/03

betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Artikel 226 EG, eingereicht am 7. August 2003,

Kommission der Europäischen Gemeinschaften , vertreten durch R. Lyal als Bevollmächtigten, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

Klägerin,

unterstützt durch:

Königreich Spanien , vertreten durch N. Díaz Abad als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

Streithelfer,

gegen

Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland , vertreten durch K. Manji und R. Caudwell als Bevollmächtigte im Beistand von D. Wyatt, QC, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

Beklagter,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, der Kammerpräsidenten P. Jann und A. Rosas, der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta und des Kammerpräsidenten A. Borg Barthet, des Richters R. Schintgen, der Richterin N. Colneric (Berichterstatterin) sowie der Richter S. von Bahr, J. N. Cunha Rodrigues, G. Arestis, M. Ilei, J. Malenovský und J. Kluka,

Generalanwalt: A. Tizzano,

Kanzler: R. Grass,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 10. März 2005

folgendes

Urteil

Entscheidungsgründe:

1. Mit ihrer Klageschrift beantragt die Kommission der Europäischen Gemeinschaften, festzustellen, dass das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland dadurch gegen seine Verpflichtungen aus dem EG-Vertrag verstoßen hat, dass es die Richtlinie 77/799/EWG des Rates vom 19. Dezember 1977 über die gegenseitige Amtshilfe zwischen den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten im Bereich der direkten und indirekten Steuern (ABl. L 336, S. 15) in der durch die Richtlinien 79/1070/EWG des Rates vom 6. Dezember 1979 (ABl. L 331, S. 8) und 92/12/EWG des Rates vom 25. Februar 1992 über das allgemeine System, den Besitz, die Beförderung und die Kontrolle verbrauchsteuerpflichtiger Waren (ABl. L 76, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 77/799) nicht auf das Gebiet von Gibraltar anwendet.

2. Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofes vom 4. Dezember 2003 ist das Königreich Spanien als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge der Kommission zugelassen worden.

3. Das Vereinigte Königreich beantragt, die Klage der Kommission abzuweisen und der Kommission die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

Rechtlicher Rahmen

Teilweiser Ausschluss des Gebietes von Gibraltar vom Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts

4. Artikel 28 der Akte über die Bedingungen des Beitritts des Königreichs Dänemark, Irlands und des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland und die Anpassungen der Verträge (ABl. 1972, L 73, S. 14) lautet:

Die Rechtsakte der Organe der Gemeinschaft betreffend die Erzeugnisse des Anhangs II des EWG-Vertrags und die Erzeugnisse, die bei der Einfuhr in die Gemeinschaft infolge der Durchführung der gemeinsamen Agrarpolitik einer Sonderregelung unterliegen, sowie die Rechtsakte betreffend die Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuer sind auf Gibraltar nicht anwendbar, sofern der Rat nicht einstimmig auf Vorschlag der Kommission etwas anderes bestimmt.

5. Nach Artikel 29 in Verbindung mit Anhang I Teil I Nummer 4 der Beitrittsakte ist Gibraltar vom Zollgebiet der Gemeinschaft ausgeschlossen.

Die Richtlinie 77/799 und ihre Änderungen

6. Die Richtlinie 77/799 in ihrer ursprünglichen Fassung betraf die gegenseitige Amtshilfe zwischen den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten im Bereich der direkten Steuern. Sie wurde auf der Grundlage von Artikel 100 EWG-Vertrag (nach Änderung Artikel 100 EG-Vertrag, jetzt Artikel 94 EG) erlassen.

7. Die Richtlinie 79/1070 erweiterte den Anwendungsbereich der Richtlinie 77/799, indem sie ihn auf die Mehrwertsteuer ausdehnte. Sie erging auf der Grundlage von Artikel 99 EWG-Vertrag (geändert durch die Einheitliche Europäische Akte, nach Änderung Artikel 99 EG-Vertrag, jetzt Artikel 93 EG) und Artikel 100 EWG-Vertrag.

8. Nach der ersten Begründungserwägung der Richtlinie 79/1070 führen die Praktiken der Steuerhinterziehung und Steuerflucht... zu Haushaltseinnahmeverlusten, verstoßen gegen den Grundsatz der Steuergerechtigkeit und verzerren einen gesunden Wettbewerb. Sie beeinträchtigen mithin das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes.

9. Die zweite Begründungserwägung dieser Richtlinie lautet:

Zur wirksameren Bekämpfung dieser Praktiken erscheint es daher geboten, die Zusammenarbeit zwischen den Steuerverwaltungen innerhalb der Gemeinschaft nach gemeinsamen Grundsätzen und Regeln zu verstärken.

10. In der dritten Begründungserwägung dieser Richtlinie heißt es:

Es ist angebracht, [die] gegenseitige Amtshilfe [zwischen den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten] auf das Gebiet der indirekten Steuern auszudehnen, um die korrekte Feststellung und Erhebung dieser Steuern sicherzustellen.

11. Die vierte Begründungserwägung der Richtlinie 79/1070 lautet:

Die Ausdehnung der gegenseitigen Amtshilfe erweist sich als besonders dringend bei der Mehrwertsteuer, und zwar aufgrund ihrer Eigenschaft als allgemeine Verbrauchsteuer und ihrer Rolle, die sie im System der eigenen Einnahmen der Gemeinschaft einnimmt.

12. Nach Artikel 2 der Richtlinie 79/1070 erlassen die Mitgliedstaaten die erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften, um dieser Richtlinie spätestens am 1. Januar 1981 nachzukommen.

13. Die Richtlinie 92/12 erweiterte erneut den Anwendungsbereich der Richtlinie 77/799, indem sie ihn auf die Mineralölsteuer sowie auf die Verbrauchsteuern auf Alkohol und alkoholische Getränke und auf Tabakwaren ausdehnte. Die Richtlinie 92/12 war auf Artikel 99 EWG-Vertrag in der aus der Einheitlichen Europäischen Akte resultierenden Fassung gestützt.

14. Die erste Begründungserwägung der Richtlinie 92/12 lautet:

Die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarktes setzt den freien Verkehr der Waren einschließlich der verbrauchsteuerpflichtigen Waren voraus.

15. Um die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarktes sicherzustellen, muss der Steueranspruch nach der vierten Begründungserwägung dieser Richtlinie in allen Mitgliedstaaten identisch sein.

16. Artikel 1 Absatz 1 der Richtlinie 77/799 in der geänderten Fassung sieht vor:

(1) Die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten erteilen sich nach dieser Richtlinie gegenseitig alle Auskünfte, die für die zutreffende Festsetzung der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen geeignet sein können, sowie alle Auskünfte bezüglich der Festsetzung und Erhebung folgender indirekten Steuern:

- Mehrwertsteuer;

- Mineralölsteuer;

- Verbrauchsteuer auf Alkohol und alkoholische Getränke;

- Verbrauchsteuer auf Tabakwaren.

17. Artikel 8 Absatz 1 dieser Richtlinie lautet:

Diese Richtlinie verpflichtet nicht zu Ermittlungen oder zur Übermittlung von Auskünften, wenn deren Durchführung oder deren Beschaffung oder Verwertung durch die zuständige Behörde des auskunftgebenden Staates für ihre eigenen steuerlichen Zwecke gesetzliche Vorschriften oder ihre Verwaltungspraxis entgegenstünden.

18. Nach Artikel 31 Absatz 1 der Richtlinie 92/12 erlassen die Mitgliedstaaten die Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die erforderlich sind, um dieser Richtlinie am 1. Januar 1993 nachzukommen.

Vorverfahren

19. Da die Kommission der Ansicht war, dass ihr vom Vereinigten Königreich keine Maßnahmen zur Umsetzung der Richtlinie 77/799 in der geänderten Fassung in die das Gebiet von Gibraltar betreffende innerstaatliche Rechtsordnung mitgeteilt worden seien, leitete sie das Vertragsverletzungsverfahren nach Artikel 226 EG ein und gab diesem Mitgliedstaat Gelegenheit zur Äußerung. Die Behörden des Vereinigten Königreichs übermittelten daraufhin der Kommission die Maßnahmen, die sie in Bezug auf die direkten Steuern mit der am 1. Oktober 1997 in Kraft getretenen Verordnung Nr. 26 von 1997 zur Änderung der Verordnung über die Einkommensteuer (Income Tax [Amendment] [Nº 2] Ordinance 1997) ergriffen hatten. Das Vereinigte Königreich war jedoch der Auffassung, da Gibraltar weder dem gemeinsamen Mehrwertsteuersystem noch den harmonisierten Vorschriften im Bereich der Verbrauchsteuern unterliege, seien die Vorschriften der Richtlinie über diese Steuern nicht auf das Gebiet von Gibraltar anwendbar. Nach einem ergänzenden Mahnschreiben gab die Kommission am 27. Juni 2002 eine mit Gründen versehene Stellungnahme ab, in der sie das Vereinigte Königreich aufforderte, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um diesem Schreiben binnen zwei Monaten nach Bekanntgabe nachzukommen. Da sich aus den von der Regierung des Vereinigten Königreichs auf diese Stellungnahme eingereichten Bemerkungen nach Ansicht der Kommission ergab, dass die in der mit Gründen versehenen Stellungnahme geltend gemachte Vertragsverletzung fortbestand, hat die Kommission die vorliegende Klage erhoben.

Zur Klage

Vorbringen der Verfahrensbeteiligten

20. Die Kommission räumt ein, dass das Gebiet von Gibraltar nach Artikel 28 der Beitrittsakte vom Anwendungsbereich der Vorschriften über die Harmonisierung der Umsatzsteuer ausgenommen ist, und ist für die Zwecke des vorliegenden Verfahrens bereit, davon auszugehen, dass auch die Vorschriften des Gemeinschaftsrechts über die Harmonisierung der Verbrauchsteuern nicht für dieses Gebiet gelten.

21. Sie vertritt jedoch die Auffassung, dass die Richtlinie 77/799 in der geänderten Fassung, soweit sie die gegenseitige Amtshilfe zwischen den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten in den Bereichen Mehrwertsteuer und Verbrauchsteuern betreffe, zu den auf Gibraltar anwendbaren Vorschriften des Gemeinschaftsrechts gehöre.

22. Diese Richtlinie führe einen Mechanismus für die Auskunftserteilung zwischen den Steuerbehörden der Mitgliedstaaten ein, um ihnen zu ermöglichen, den nationalen Rechtsvorschriften größere Beachtung zu verschaffen. Ihr Ziel bestehe ausschließlich darin, die gegenseitige Erteilung von Auskünften zu erleichtern, die für die Festsetzung und die Erhebung der Steuern nach dem Steuersystem der einzelnen Mitgliedstaaten erforderlich seien, auf diese Weise die Steuerhinterziehung zu bekämpfen, Verzerrungen des Kapitalverkehrs zu verhindern und einen gesunden Wettbewerb zu bewahren. Die Änderungen der Richtlinie 77/799 durch die Richtlinien 79/1070 und 92/12 hätten keine Auswirkung auf das Steuerrecht der Mitgliedstaaten als solches gehabt. Es handele sich nicht um eine Maßnahme zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften über die Mehrwertsteuer oder die Verbrauchsteuern.

23. Die von den Steuerbehörden Gibraltars erteilten Auskünfte könnten für die zutreffende Festsetzung der Mehrwertsteuer oder der Verbrauchsteuern in anderen Regionen der Europäischen Gemeinschaft nützlich, ja sogar unerlässlich sein, auch wenn diese Steuern in Gibraltar nicht erhoben würden.

24. Letzten Endes könne geltend gemacht werden, dass Artikel 10 EG die Ausdehnung des gegenseitigen Auskunftssystems auf Gibraltar verlange.

25. Da die Richtlinie 92/12 fast ausschließlich die Harmonisierung der materiellen Rechtsvorschriften im Bereich der Verbrauchsteuern betreffe, stütze sie sich zwangsläufig auf Artikel 99 EWG-Vertrag. Die bloße Tatsache, dass eine Vorschrift in einer Maßnahme enthalten sei, die sich im Wesentlichen auf eine materielle Harmonisierung beziehe, verleihe ihr nicht den Charakter einer Harmonisierungsvorschrift. Was die Richtlinie 79/1070 betreffe, so habe sie auf Artikel 100 EWG-Vertrag gestützt werden müssen. Die Rechtsgrundlage, die für die Ausdehnung des Anwendungsbereichs der Richtlinie 77/799 auf die Mehrwertsteuer und die Verbrauchsteuern jeweils angeführt worden sei, könne keinesfalls die Behandlung der Maßnahmen über die gegenseitige Amtshilfe im Hinblick auf Artikel 28 der Beitrittsakte bestimmen.

26. Die spanische Regierung ist der Ansicht, auch wenn die Gemeinschaft aus verschiedenen Gründen gewollt und akzeptiert habe, dass bestimmte Gebiete von der Harmonisierung der indirekten Steuern ausgenommen seien, habe sie nicht gewollt, dass diese Gebiete zum Ort von Delikten zum Nachteil der anderen Mitgliedstaaten würden, weil ein Mitgliedstaat es ablehne, einem anderen Auskünfte über eines dieser Gebiete zu erteilen. Eine solche Situation behindere wahrscheinlich eine materielle Harmonisierung in den anderen Gebieten, die der Harmonisierung unterlägen.

27. Die wirtschaftlichen Gegebenheiten Gibraltars einschließlich ihres Einflusses auf verschiedene Aspekte des Funktionierens des Binnenmarktes hätten sich geändert. Da das Königreich Spanien von der unterbliebenen Umsetzung besonders nachteilig betroffen sei, verfüge es über hinreichende Beweise, um darzutun, dass die Nichtanwendung der Richtlinie 77/799 in der geänderten Fassung auf Gibraltar den Mitgliedstaaten Schaden zufüge. Dieses Argument führe in letzter Konsequenz zu der sich aus Artikel 10 EG ergebenden Pflicht zur Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten.

28. Es sei ein gewisser Wandel der Konzeption und der Bedeutung festzustellen, die der Zusammenarbeit beizumessen sei, die die Steuerbehörden einander durch gegenseitige Auskunftserteilung zu leisten hätten, um Steuerhinterziehung und Steuerflucht wirksamer zu bekämpfen. Mit der Zeit sei es möglich geworden, danach zu unterscheiden, ob eine Maßnahme der Zusammenarbeit auf eine Steuerharmonisierung abziele oder sich nur auf eine Maßnahme beziehe, die nicht so weit reiche und sich darauf beschränke, Vorschriften über die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten festzulegen.

29. Auch wenn es in Spanien Gebiete gebe, in denen die Mehrwertsteuer nicht gelte oder die nicht zur Zollunion gehörten, ist das Königreich Spanien nicht der Meinung, dass die Richtlinie 77/799 in der durch die Richtlinie 79/1070 oder die Richtlinie 92/12 geänderten Fassung in diesen Gebieten nicht gelten solle.

30. Im Ergebnis vertritt die spanische Regierung die Auffassung, dass die Tatsache, dass bestimmte Gebiete vom Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer und der harmonisierten Verbrauchsteuern ausgenommen seien, nicht bedeute, dass sie ohne weiteres vom Anwendungsbereich der Richtlinie 77/799 in der geänderten Fassung ausgenommen wären. Diese Richtlinie ziele auf eine allgemeine räumliche Anwendung ab.

31. Die Regierung des Vereinigten Königreichs hält die Klage für nicht begründet. Die Ausdehn ungen der Regelung der Richtlinie 77/799 durch die Richtlinie 79/1070 auf die Mehrwertsteuer und durch die Richtlinie 92/12 auf die Verbrauchsteuern seien nicht auf Gibraltar anwendbar.

32. Soweit die Richtlinie 77/799 in der geänderten Fassung die gegenseitige Amtshilfe im Bereich der Mehrwertsteuer betreffe, schließe sie eine Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuer im Sinne von Artikel 28 der Beitrittsakte ein und gelte daher nicht für Gibraltar. Der Wortlaut dieser Vorschrift sei in seiner gewöhnlichen Bedeutung zu verstehen.

33. Soweit die Richtlinie die gegenseitige Amtshilfe im Bereich der Verbrauchsteuern betreffe, gelte sie ebenfalls nicht für Gibraltar. Dies ergebe sich aus dem Ausschluss Gibraltars vom Zollgebiet der Gemeinschaft und daraus, dass die Vorschriften des EG-Vertrags, die den freien Warenverkehr innerhalb des Binnenmarktes sichern sollten, auf Gibraltar nicht anwendbar seien. Die erste Begründungserwägung der Richtlinie 92/12 und andere Begründungserwägungen zeigten, dass die Zielsetzung dieser Richtlinie darin bestehe, den freien Warenverkehr zu gewährleisten.

34. Die Ziele der gegenseitigen Amtshilfe im Bereich der Festsetzung und Erhebung der Mehrwertsteuer und der Verbrauchsteuern ließen sich nicht unterscheiden von den Zielen einer Harmonisierung der Vorschriften über die Mehrwertsteuer und die Verbrauchsteuern selbst. Die Festsetzung und die Erhebung der Mehrwertsteuer und der Verbrauchsteuern in enger Verbindung mit der in dieser Richtlinie vorgesehenen gegenseitigen Amtshilfe seien unentwirrbar mit den zugrunde liegenden Steuern verbunden, die festzusetzen und zu erheben seien. Die Wirksamkeit, mit der ein Steuersystem verwaltet werde, stelle einen wichtigen Faktor bei der Bestimmung des tatsächlichen Steuersatzes dar und könne von der Befugnis der Mitgliedstaaten, die Steuern zu erheben, praktisch nicht getrennt werden.

35. Die Ausdehnungen des Anwendungsbereichs der Richtlinie 77/799 durch die Richtlinien 79/1070 und 92/12 seien auf der Grundlage von Artikel 99 EWG-Vertrag erfolgt, der die Harmonisierung der Rechtsvorschriften im Bereich der indirekten Besteuerung betreffe, soweit sie für die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarktes notwendig sei. Die Rechtsgrundlagen, die zur Ausweitung der Regelung der gegenseitigen Amtshilfe auf die Mehrwertsteuer und die Verbrauchsteuern herangezogen worden seien, könnten für die im vorliegenden Verfahren streitigen Fragen nicht ausschlaggebend sein, sie bildeten aber den Hintergrund des Rechtsstreits und seien zu berücksichtigen.

36. Die Regierung des Vereinigten Königreichs erinnert daran, dass der Gerichtshof in Randnummer 67 des Urteils vom 29. April 2004 in der Rechtssache C338/01 (Kommission/Rat, Slg. 2004, I4829) festgestellt habe, dass der Ausdruck Bestimmungen über die Steuern in Artikel 95 Absatz 2 EG dahin auszulegen sei, dass er nicht nur die Bestimmungen über die Steuerpflichtigen, die steuerbaren Umsätze, die Besteuerungsgrundlage sowie die Sätze der direkten und indirekten Steuern und die Befreiungen von ihnen, sondern auch diejenigen über die Modalitäten der Beitreibung dieser Steuern abdecke. Entsprechendes gelte für die vorliegende Rechtssache.

37. Der Ansatz des Vereinigten Königreichs stehe mit dem Ansatz in Einklang, von dem bei der jüngeren gemeinschaftlichen Steuergesetzgebung ausgegangen worden sei, in der die Maßnahmen der Zusammenarbeit im Mehrwertsteuerbereich als Steuerharmonisierungsmaßnahmen behandelt würden (vgl. dritte Begründungserwägung der Verordnung [EG] Nr. 1798/2003 des Rates vom 7. Oktober 2003 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer und zur Aufhebung der Verordnung [EWG] Nr. 218/92 [ABl. L 264, S. 1]).

38. Die Argumentation auf Artikel 10 EG zu stützen, um eine Konsequenz zu vermeiden, die sich andernfalls aus Artikel 28 der Beitrittsakte ergeben würde, sei weder mit dem Wortlaut noch mit dem Geist von Artikel 10 EG vereinbar.

39. Das Vorbringen des Königreichs Spanien zur Rechtslage der betreffenden spanischen Gebiete sei in der Angelegenheit, die Gegenstand des vorliegenden Verfahrens sei, irrelevant.

Würdigung durch den Gerichtshof

Vorbemerkung

40. Nach dem Vorverfahren und der Begründung der Klageschrift ist die vorliegende Klage so zu verstehen, dass sie die Nichtanwendung der Richtlinie 77/799 in der geänderten Fassung nur in Bezug auf die Mehrwertsteuer und die Verbrauchsteuern zum Gegenstand hat.

Die gegenseitige Amtshilfe zwischen den zuständigen Behörden im Bereich der Mehrwertsteuer

41. Nach Artikel 299 Absatz 4 EG findet der Vertrag auf Gibraltar Anwendung, da Gibraltar eine Kronkolonie ist, deren auswärtige Beziehungen das Vereinigte Königreich wahrnimmt. Jedoch gelten nach der Beitrittsakte einige Bestimmungen des Vertrages nicht für Gibraltar (Urteil vom 23. September 2003 in der Rechtssache C30/01, Kommission/Vereinigtes Königreich, Slg. 2003, I9481, Randnr. 47); diese Ausnahmen wurden mit Rücksicht auf die besondere Rechtslage und insbesondere den Freihafenstatus dieses Gebietes eingeführt.

42. Aus Artikel 28 der Beitrittsakte ergibt sich, dass die Rechtsakte der Organe der Gemeinschaft betreffend die Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuer auf Gibraltar nicht anwendbar sind, sofern der Rat der Europäischen Union nicht einstimmig auf Vorschlag der Kommission etwas anderes bestimmt.

43. Diese Vorschrift muss als Ausnahme von der Anwendung des Gemeinschaftsrechts auf das Gebiet der Gemeinschaft so ausgelegt werden, dass ihr Umfang auf das zur Wahrung der Interessen, deren Schutz sie Gibraltar ermöglicht, unbedingt Erforderliche begrenzt wird. Außerdem ist sie im Licht von Artikel 10 Absatz 1 Satz 2 EG zu sehen, wonach die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, der Gemeinschaft die Erfüllung ihrer Aufgabe zu erleichtern (in diesem Sinne Urteil vom 25. Februar 1988 in den Rechtssachen 194/85 und 241/85, Kommission/Griechenland, Slg. 1988, 1037, Randnr. 20).

44. Daher können Bestimmungen, die sich darauf beschränken, eine Zusammenarbeit zwischen Mitgliedstaaten vorzusehen, und es jedem Mitgliedstaat überlassen, für Ermittlungen und die Übermittlung der Auskunft seine eigenen Methoden anzuwenden, nicht als Rechtsakte betreffend die Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuer im Sinne von Artikel 28 der Beitrittsakte angesehen werden.

45. Die Richtlinie 77/799 in der geänderten Fassung geht darüber nicht hinaus, wie sich insbesondere aus Artikel 8 Absatz 1 ergibt, der auf die Grenzen des Auskunftsaustauschs verweist, die sich aus gesetzlichen Vorschriften oder der Verwaltungspraxis des betreffenden Mitgliedstaats ergeben.

46. Folglich ist der Schluss zu ziehen, dass die Richtlinie 77/799 in der geänderten Fassung, soweit sie die Mehrwertsteuer betrifft, nicht unter die Rechtsakte betreffend die Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuer im Sinne von Artikel 28 der Beitrittsakte fällt.

47. Diese Würdigung steht nicht im Widerspruch zu der des Gerichtshofes im Urteil Kommission/Rat vom 29. April 2004, in dem der Begriff Bestimmungen über die Steuern im Sinne von Artikel 95 Absatz 2 EG und nicht der Begriff Rechtsakte betreffend die Harmonisierung im Sinne von Artikel 28 der Beitrittsakte ausgelegt wird.

48. Im Übrigen heißt es zwar in der von der Regierung des Vereinigten Königreichs angeführten dritten Begründungserwägung der Verordnung Nr. 1798/2003, dass zu den Steuerharmonisierungsmaßnahmen, die im Hinblick auf die Vollendung des Binnenmarktes eingeleitet werden,... daher die Einrichtung eines gemeinsamen Systems für die Auskunftserteilung zwischen den Mitgliedstaaten gehören [sollte], bei dem die Verwaltungsbehörden der Mitgliedstaaten einander Amtshilfe gewähren und mit der Kommission zusammenarbeiten, um eine ordnungsgemäße Anwendung der Mehrwertsteuer auf Warenlieferungen und Dienstleistungen, den innergemeinschaftlichen Erwerb von Gegenständen und auf die Einfuhr von Waren zu gewährleisten.

49. Jedoch kann eine primärrechtliche Vorschrift wie Artikel 28 der Beitrittsakte nicht im Licht einer Begründungserwägung eines sekundärrechtlichen Aktes ausgelegt werden. Außerdem stellt diese dritte Begründungserwägung ein Element der Begründung einer vom Gemeinschaftsgesetzgeber auf der Grundlage von Artikel 93 EG erlassenen Verordnung dar, die insbesondere, anders als Artikel 28 der Beitrittsakte, nicht den Charakter einer Ausnahmevorschrift hat. Diese Begründungserwägung kann daher die vom Gerichtshof in Randnummer 46 des vorliegenden Urteils vorgenommene Würdigung nicht in Frage stellen.

50. Aus alledem folgt, dass die Richtlinie 77/799 in der geänderten Fassung, soweit sie die Mehrwertsteuer betrifft, auf Gibraltar anwendbar ist.

Die gegenseitige Amtshilfe zwischen den zuständigen Behörden im Bereich der Verbrauchsteuern

51. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Gibraltar nach Artikel 29 in Verbindung mit Anhang I Teil I Nummer 4 der Beitrittsakte vom Zollgebiet der Gemeinschaft ausgeschlossen ist. Diese Ausnahme ist wie Artikel 28 der Beitrittsakte eng auszulegen.

52. Im Rahmen der vorliegenden Rechtssache braucht nicht festgestellt zu werden, ob der Ausschluss Gibraltars vom Zollgebiet der Gemeinschaft zur Folge hat, dass die Bestimmungen der Richtlinie 92/12 über die Harmonisierung der materiellen Rechtsvorschriften im Bereich der Verbrauchsteuern auf Gibraltar nicht anwendbar sind.

53. Denn auch wenn diese Bestimmungen auf Gibraltar nicht anwendbar wären, bedeutete der Ausschluss jedenfalls nicht, dass Gibraltar zu der gegenseitigen Amtshilfe zwischen den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten, die die Richtlinie 77/799 in der geänderten Fassung im Bereich der Verbrauchsteuern vorsieht, nicht verpflichtet wäre. Die Tatsache, dass die Behörden Gibraltars dieser Verpflichtung unterliegen, hat nämlich keine Auswirkungen auf die Frage, ob die Vorschriften, die eine Harmonisierung der Verbrauchsteuern als solcher verlangen, auf Gibraltar anwendbar sind.

54. Daher ist die Richtlinie 77/799 in der geänderten Fassung, soweit sie die Verbrauchsteuern betrifft, auf Gibraltar anwendbar.

55. Nach alledem ist die Klage der Kommission begründet.

56. Daher ist festzustellen, dass das Vereinigte Königreich dadurch gegen seine Verpflichtungen aus dem EG-Vertrag verstoßen hat, dass es in den Bereichen Mehrwertsteuer und Verbrauchsteuern die Richtlinie 77/799 in der geänderten Fassung nicht auf das Gebiet von Gibraltar anwendet.

Kosten

57. Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kommission die Verurteilung des Vereinigten Königreichs beantragt hat und dieses mit seinem Vorbringen unterlegen ist, sind ihm die Kosten aufzuerlegen. Nach Artikel 69 § 4 Absatz 1 der Verfahrensordnung trägt das Königreich Spanien, das dem Rechtsstreit als Streithelfer beigetreten ist, seine eigenen Kosten.

Tenor:

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt und entschieden:

1. Das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland hat dadurch gegen seine Verpflichtungen aus dem EG-Vertrag verstoßen, dass es in den Bereichen Mehrwertsteuer und Verbrauchsteuern die Richtlinie 77/799/EWG des Rates vom 19. Dezember 1977 über die gegenseitige Amtshilfe zwischen den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten im Bereich der direkten und indirekten Steuern in der durch die Richtlinien 79/1070/EWG des Rates vom 6. Dezember 1979 und 92/12/EWG des Rates vom 25. Februar 1992 über das allgemeine System, den Besitz, die Beförderung und die Kontrolle verbrauchsteuerpflichtiger Waren geänderten Fassung nicht auf das Gebiet von Gibraltar anwendet.

2. Das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland trägt die Kosten des Verfahrens.

3. Das Königreich Spanien trägt seine eigenen Kosten.

Ende der Entscheidung

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