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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 02.08.1993
Aktenzeichen: C-355/90
Rechtsgebiete: Richtlinie 79/409/EWG


Vorschriften:

Richtlinie 79/409/EWG Art. 3
Richtlinie 79/409/EWG Art. 4
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Die Artikel 3 und 4 der Richtlinie 79/409 über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten verpflichten die Mitgliedstaaten, die Lebensräume als solche wegen ihres Wertes für die Umwelt zu erhalten und wiederherzustellen. Die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten nach diesen Artikeln bestehen daher, schon bevor eine Abnahme der Vogelzahl festgestellt worden ist oder bevor sich die Gefahr des Verschwindens einer geschützten Art konkretisiert hat.

2. Bei der Durchführung der Richtlinie 79/409 über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten sind die Mitgliedstaaten nicht befugt, nach Belieben aus der Berücksichtigung anderer Interessen Gründe für eine Abweichung abzuleiten. Was die in Artikel 4 der Richtlinie aufgestellte Verpflichtung zum Erlaß besonderer Schutzmaßnahmen für bestimmte Arten angeht, sind zulässige Gründe für eine Abweichung nur solche des Gemeinwohls, die Vorrang vor den mit der Richtlinie verfolgten Umweltbelangen haben. Insbesondere können die in Artikel 2 genannten Belange, nämlich wirtschaftliche und freizeitbedingte Erfordernisse, nicht berücksichtigt werden, da diese Bestimmung keine eigenständige Abweichung von der durch die Richtlinie geschaffenen Schutzregelung darstellt.

3. Bei der Wahl der Gebiete, die für eine Einstufung als besondere Schutzgebiete nach Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/409 am besten geeignet sind, verfügen die Mitgliedstaaten über einen gewissen Ermessensspielraum, der dadurch begrenzt wird, daß die Ausweisung dieser Gebiete bestimmten in der Richtlinie festgelegten ornithologischen Kriterien gehorcht wie etwa dem Vorkommen der in Anhang I der Richtlinie aufgeführten Vögel und der Einstufung eines Lebensraums als Feuchtgebiet.

Dagegen steht den Mitgliedstaaten im Rahmen von Artikel 4 Absatz 4 der Richtlinie nicht der gleiche Ermessensspielraum zu, wenn sie die Fläche derartiger Gebiete ändern oder verkleinern.


URTEIL DES GERICHTSHOFES VOM 2. AUGUST 1993. - KOMMISSION DER EUROPAEISCHEN GEMEINSCHAFTEN GEGEN KOENIGREICH SPANIEN. - ERHALTUNG DER WILDLEBENDEN VOGELARTEN - SCHUTZGEBIETE. - RECHTSSACHE C-355/90.

Entscheidungsgründe:

1 Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat mit Klageschrift, die am 30. November 1990 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 169 EWG-Vertrag Klage erhoben auf Feststellung, daß das Königreich Spanien dadurch gegen seine Verpflichtungen aus den Artikeln 3 und 4 der Richtlinie 79/409/EWG des Rates vom 2. April 1979 über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten (ABl. L 103, S. 1; nachstehend: Richtlinie) verstossen hat, daß es keine Maßnahmen zur ökologisch richtigen Pflege und Gestaltung der Lebensräume und zur Wiederherstellung zerstörter Lebensräume in den Santoña-Marschen in der autonomen Gemeinschaft Kantabrien getroffen hat, diese nicht als besonderes Schutzgebiet ausgewiesen und keine geeigneten Maßnahmen getroffen hat, um die Verschmutzung oder die Beeinträchtigung der Lebensräume in diesem Gebiet zu vermeiden.

2 Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie bestimmt, daß die Mitgliedstaaten unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen und freizeitbedingten Erfordernisse die erforderlichen Maßnahmen treffen, um für alle unter Artikel 1 der Richtlinie fallenden Vogelarten eine ausreichende Vielfalt und eine ausreichende Flächengrösse der Lebensräume zu erhalten oder wiederherzustellen.

3 Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie legt fest, daß auf die in Anhang I der Richtlinie aufgeführten Arten besondere Schutzmaßnahmen hinsichtlich ihrer Lebensräume anzuwenden sind, um ihr Überleben und ihre Vermehrung in ihrem Verbreitungsgebiet sicherzustellen. Die Mitgliedstaaten sind insbesondere verpflichtet, die für die Erhaltung dieser Vogelarten zahlen- und flächenmässig geeignetsten Gebiete zu besonderen Schutzgebieten zu erklären.

4 Gemäß Artikel 4 Absatz 2 der Richtlinie haben die Mitgliedstaaten entsprechende Maßnahmen für die in Anhang I aufgeführten, regelmässig auftretenden Zugvogelarten hinsichtlich ihrer Vermehrungs-, Mauser- und Überwinterungsgebiete sowie der Rastplätze in ihren Wanderungsgebieten zu treffen. Zu diesem Zweck müssen sie dem Schutz der Feuchtgebiete und ganz besonders der international bedeutsamen Feuchtgebiete besondere Bedeutung beimessen.

5 Schließlich haben die Mitgliedstaaten gemäß Artikel 4 Absatz 4 der Richtlinie geeignete Maßnahmen zu treffen, um die Verschmutzung oder Beeinträchtigung der Lebensräume sowie die Belästigung der Vögel, sofern sich diese auf die Zielsetzungen dieses Artikels erheblich auswirken, in den in den Absätzen 1 und 2 dieses Artikels genannten Schutzgebieten zu vermeiden.

6 Die Kommission ist der Auffassung, daß Spanien seine Schutzpflichten nach den Artikeln 3 und 4 der Richtlinie durch eine Reihe von Eingriffen in den Santoña-Marschen verletzt hat.

7 Die spanische Regierung tritt dem Vorbringen der Kommission sowohl in rechtlicher als auch in tatsächlicher Hinsicht entgegen.

8 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts, des Verfahrensablaufs und des Vorbringens der Parteien wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt ist im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

I ° Zur Auslegung der Artikel 3 und 4 der Richtlinie

9 Die Kommission ist erstens der Auffassung, das Königreich Spanien sei verpflichtet gewesen, die Vorschriften der Richtlinie vom 1. Januar 1986 an durchzuführen.

10 Die spanische Regierung macht geltend, die Verpflichtungen nach den Artikeln 3 und 4 der Richtlinie könnten ihrer Natur gemäß nur nach und nach und nicht sofort erfuellt werden.

11 Diesem Vorbringen ist nicht zu folgen. Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß die Akte über die Bedingungen des Beitritts des Königreichs Spanien zu den Europäischen Gemeinschaften keine besondere Vorschrift über die Geltung der Richtlinie in diesem Mitgliedstaat enthält, der daher gemäß Artikel 395 der Akte die erforderlichen Maßnahmen in Kraft zu setzen hatte, um dieser Richtlinie vom Beitritt an nachzukommen. Ausserdem enthält die Richtlinie selbst keinen Hinweis auf eine besondere Frist, die den nationalen Behörden für die Erfuellung der in den Artikeln 3 und 4 vorgesehenen Verpflichtungen zur Verfügung stuende; diese Bestimmungen müssen daher wie alle Bestimmungen der Richtlinie binnen der Zweijahresfrist des Artikels 18 der Richtlinie die notwendige Umsetzung erfahren.

12 Zudem hat die Kommission der spanischen Regierung für die Erfuellung ihrer Verpflichtungen eine beträchtliche Frist eingeräumt. Sie hat nämlich die Klage erst zwei Jahre nach dem Aufforderungsschreiben und nahezu fünf Jahre nach dem Beitritt des Königreichs Spanien zu den Gemeinschaften erhoben.

13 Die Kommission macht zweitens geltend, die Verpflichtungen aus den Artikeln 3 und 4 der Richtlinie setzten inhaltlich voraus, daß bestimmte Maßnahmen zur Erhaltung der Lebensräume der wildlebenden Vögel getroffen würden.

14 Die spanische Regierung ist demgegenüber der Auffassung, daß die genannten Vorschriften lediglich zu einem bestimmten Ergebnis verpflichteten, das in der Sicherstellung der Erhaltung der wildlebenden Vögel bestehe.

15 Insoweit ist der Kommission zu folgen. Die Artikel 3 und 4 der Richtlinie verpflichten die Mitgliedstaaten, die Lebensräume als solche wegen ihres Wertes für die Umwelt zu erhalten und wiederherzustellen. Im übrigen ergibt sich aus der neunten Begründungserwägung der Richtlinie, daß Schutz, Pflege oder Wiederherstellung einer ausreichenden Vielfalt und einer ausreichenden Flächengrösse der Lebensräume für die Erhaltung aller Vogelarten unentbehrlich ist. Die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten aus den Artikeln 3 und 4 der Richtlinie bestehen daher, schon bevor eine Abnahme der Vogelzahl festgestellt worden ist oder bevor sich die Gefahr des Verschwindens einer geschützten Art konkretisiert hat.

16 Die Kommission verweist drittens auf den zwingenden Charakter der Verpflichtungen nach Artikel 4 der Richtlinie.

17 Nach Auffassung der spanischen Regierung sind die ökologischen Erfordernisse dieser Vorschrift anderen Interessen wie etwa denen sozialer und wirtschaftlicher Art unterzuordnen oder zumindest gegen diese Interessen abzuwägen.

18 Diesem Vorbringen ist nicht zu folgen. Die Mitgliedstaaten sind nämlich, wie sich aus dem Urteil des Gerichtshofes vom 28. Februar 1991 in der Rechtssache C-57/89 (Kommission/Deutschland, Slg. 1991, I-883) ergibt, bei der Durchführung der Richtlinie nicht befugt, nach Belieben aus der Berücksichtigung anderer Interessen Gründe für eine Abweichung abzuleiten.

19 Zu Artikel 4 der Richtlinie hat der Gerichtshof in diesem Urteil klargestellt, daß zulässige Gründe für eine Abweichung nur solche des Gemeinwohls sind, die Vorrang vor den mit der Richtlinie verfolgten Umweltbelangen haben. Insbesondere können die in Artikel 2 der Richtlinie genannten Belange ° wirtschaftliche und freizeitbedingte Erfordernisse ° nicht in Betracht kommen. Insoweit hat der Gerichtshof nämlich in seinen Urteilen vom 8. Juli 1987 in der Rechtssache 247/85 (Kommission/Belgien, Slg. 1987, 3029) und in der Rechtssache 262/85 (Kommission/Italien, Slg. 1987, 3073) entschieden, daß diese Bestimmung keine eigenständige Abweichung von der durch die Richtlinie geschaffenen allgemeinen Schutzregelung darstellt.

20 Die Kommission macht viertens geltend, ein Mitgliedstaat könne gleichzeitig gegen Artikel 4 Absätze 1 und 2 (Ausweisung eines Gebietes als besonderes Schutzgebiet) und gegen Artikel 4 Absatz 4 der Richtlinie (Schutzmaßnahmen für ein solches Gebiet) verstossen.

21 Nach Auffassung der spanischen Regierung ist es nicht möglich, einem Mitgliedstaat gleichzeitig die Verletzung dieser beiden Vorschriften vorzuwerfen, da Schutzmaßnahmen erst getroffen werden könnten, wenn zuvor entschieden worden sei, ein Gebiet als besonderes Schutzgebiet auszuweisen.

22 Dieses Vorbringen ist zurückzuweisen. Die in der Richtlinie genannten Schutzziele, wie sie in der neunten Begründungserwägung ausdrücklich angeführt sind, könnten nämlich nicht erreicht werden, wenn die Mitgliedstaaten die Verpflichtungen aus Artikel 4 Absatz 4 der Richtlinie nur dann zu beachten hätten, wenn zuvor ein besonderes Schutzgebiet ausgewiesen worden wäre.

23 Was schließlich das Verhältnis zwischen den Artikeln 3 und 4 der Richtlinie angeht, so legt die erstgenannte Vorschrift Verpflichtungen allgemeiner Art fest, nämlich die Pflicht, eine ausreichende Vielfalt und eine ausreichende Flächengrösse der Lebensräume für alle in der Richtlinie aufgeführten Vögel sicherzustellen, während die zweite Vorschrift spezifische Verpflichtungen bezueglich der in Anhang I der Richtlinie aufgeführten Vogelarten und der in diesem Anhang nicht genannten Zugvogelarten begründet. Da feststeht, daß beide Gruppen von Vögeln in den Santoña-Marschen vorkommen, genügt eine Prüfung der Rügen der Kommission unter dem Blickwinkel des Artikels 4 der Richtlinie.

II ° Zur Pflicht der Ausweisung der Santoña-Marschen als besonderes Schutzgebiet nach Artikel 4 Absätze 1 und 2 der Richtlinie

24 Die Kommission weist darauf hin, daß die Santoña-Marschen nicht nur einen wesentlichen Lebensraum für das Überleben vom Aussterben bedrohter Arten im Sinne des Artikels 4 Absatz 1 der Richtlinie darstellten, sondern auch ein international bedeutsames Feuchtgebiet für die in diesem Gebiet regelmässig auftretenden Zugvogelarten im Sinne des Absatzes 2 dieses Artikels seien.

25 Die spanische Regierung räumt die ökologische Bedeutung dieses Gebietes ein. Sie macht geltend, durch das Gesetz Nr. 6 vom 27. März 1992 seien die Marschen von Santoña und von Noja wegen der Bedeutung dieser Feuchtgebiete als Lebensräume für zahlreiche Tierarten als Naturschutzgebiete ausgewiesen worden. Gleichwohl verfügten die nationalen Behörden bezueglich der Auswahl und der Abgrenzung der besonderen Schutzgebiete sowie bezueglich des Zeitpunktes ihrer Ausweisung über einen Ermessensspielraum.

26 Diesem Vorbringen ist nicht zu folgen. Zwar verfügen die Mitgliedstaaten bei der Auswahl der besonderen Schutzgebiete über einen gewissen Ermessensspielraum, doch gehorcht die Ausweisung dieser Gebiete bestimmten in der Richtlinie festgelegten ornithologischen Kriterien wie etwa dem Vorkommen der in Anhang I aufgeführten Vögel und der Einstufung eines Lebensraums als Feuchtgebiet.

27 Insoweit steht fest, daß die Santoña-Marschen für zahlreiche Wasservögel eines der wichtigsten Ökosysteme der Iberischen Halbinsel darstellen. Die Sumpfgebiete dienen nämlich zahlreichen Vögeln auf ihrem Zug von den europäischen Ländern in die südlichen Breiten Afrikas und auf die Iberische Halbinsel selbst als Überwinterungsort oder Zwischenstation. Zu den Vögeln, die in diesem Gebiet vorkommen, gehören mehrere vom Aussterben bedrohte Arten, darunter der Löffler, der sich während seines Zuges in den Santoña-Marschen ernährt und ausruht. Ferner ergibt sich aus den Akten und den Verhandlungen vor dem Gerichtshof, daß das betreffende Gebiet regelmässig neunzehn der in Anhang I der Richtlinie aufgeführten Arten sowie mindestens vierzehn Zugvogelarten Zuflucht bietet.

28 Die durch das Gesetz Nr. 6 vom 27. März 1992 erfolgte Ausweisung der Santoña-Marschen als Naturschutzgebiet erfuellt die Voraussetzungen der Richtlinie weder bezueglich der flächenmässigen Ausdehnung dieses Gebietes noch bezueglich seiner Rechtsstellung als Schutzgebiet.

29 Zum einen umfasst das Naturschutzgebiet nicht das gesamte Sumpfgebiet, da insgesamt 40 000 m2 ausgeschlossen bleiben. Diesen Flächen kommt aber für die vom Aussterben bedrohten Wasservögel im Sinne des Artikels 4 Absatz 1 Buchstabe a der Richtlinie besondere Bedeutung zu, da in den übrigen küstennahen Sumpfgebieten ein allmählicher Rückgang der zum Nisten verfügbaren Räume festgestellt worden ist.

30 Zum anderen sind auch für die Sumpfgebiete innerhalb des ausgewiesenen Gebietes die notwendigen Schutzmaßnahmen nicht genau festgelegt worden. So ergibt sich aus den Akten, daß der in Artikel 4 des Gesetzes vorgesehene Plan zur Gestaltung der Naturschutzgebiete von den zuständigen Behörden nicht genehmigt worden ist. Diesem Plan kommt aber vorrangige Bedeutung für den Schutz der wildlebenden Vögel zu, weil er die Tätigkeit festlegen soll, die zu einer Veränderung der Ökosysteme des Gebietes führen könnten.

31 Da so wesentliche Maßnahmen wie die zur Festlegung der Gestaltung dieses Gebietes oder für die Verwendung der Sumpfgebiete und der dort ausgeuebten Tätigkeiten nicht festgelegt worden sind, können die Erfordernisse der Richtlinie nicht als erfuellt angesehen werden.

32 Folglich ist festzustellen, daß das Königreich dadurch gegen seine Verpflichtungen nach Artikel 4 Absätze 1 und 2 der Richtlinie verstossen hat, daß es die Santoña-Marschen nicht als besonderes Schutzgebiet ausgewiesen hat.

III ° Zur Verpflichtung des Schutzes der Santoña-Marschen nach Artikel 4 Absatz 4 der Richtlinie

A ° Zum zweiten Teilstück der Strasse zwischen Argoños und Santoña

33 Die Kommission bringt vor, die neue Führung der Strasse C-629 zwischen Argoños und Santoña bewirke nicht nur eine nicht unbeachtliche Verkleinerung der Fläche der Santoña-Marschen, sondern auch Störungen der Abgeschiedenheit dieses Gebietes und folglich der durch die Vorschriften der Richtlinie geschützten wildlebenden Vögel.

34 Die spanische Regierung legt dar, daß die neue Strasse für einen besseren Strassenverkehrsanschluß der Stadt Santoña notwendig sei. Die neue Strassenführung stelle ferner vor allem wegen der geringfügigen Inanspruchnahme der Gesamtfläche der Marschen durch diese Strasse die beste unter mehreren möglichen Lösungen dar.

35 Diesen Erklärungen kann nicht gefolgt werden. Wie der Gerichtshof in dem erwähnten Urteil Kommission/Deutschland ausgeführt hat, verfügen die Mitgliedstaaten zwar über einen gewissen Ermessensspielraum, wenn sie die für eine Erklärung zu besonderen Schutzgebieten am besten geeigneten Gebiete bestimmen müssen, doch steht ihnen im Rahmen von Artikel 4 Absatz 4 der Richtlinie nicht der gleiche Ermessensspielraum zu, wenn sie die Fläche derartiger Gebiete ändern oder verkleinern.

36 Der Bau der neuen Strasse C-629 zwischen Argoños und Santoña führt zu einer Verkleinerung der Fläche des Sumpfgebiets, die durch die Errichtung mehrerer neuer Gebäude in der Nähe der neuen Strassenführung zusätzliches Gewicht gewinnt. Diese Maßnahmen haben zum Verschwinden von Rast-, Ruhe- und Nistplätzen der Vögel geführt. Neben den Störungen durch die Strassenarbeiten bewirkt dieser Eingriff eine Änderung des Gezeitenflusses und kann daher zur Versandung dieses Teils des Sumpfgebiets führen.

37 Da ein solcher Eingriff angesichts der angeführten grundsätzlichen Erwägungen nicht durch die Notwendigkeit gerechtfertigt werden kann, die Verkehrsanschlüsse der Gemeinde Santoña zu verbessern, ist dieser Rüge stattzugeben.

B ° Die Industriegebiete in Laredo und Colindres

38 Die Kommission ist der Auffassung, daß die Schaffung von Industriegebieten in Laredo und Colindres zum Verschwinden eines bedeutenden Teils des Sumpfgebiets, nämlich des Gebietes neben der Mündung des Rio Asón (auch Ría del Asón oder de Treto genannt), führe. Die Aufschüttung der am Rand dieser Orte liegenden Fläche beeinflusse ebenfalls den Gezeitenfluß innerhalb der Bucht.

39 Die spanische Regierung legt dar, die zuständigen Behörden hätten die Einrichtung dieser Industriegebiete in ihrer ursprünglich geplanten Form aufgegeben.

40 Der Gerichtshof nimmt die schriftlichen und mündlichen Erklärungen der spanischen Regierung zur Kenntnis, wonach die Schaffung von Industriegebieten in Laredo und Colindres nicht durchgeführt worden ist und die betreffenden Gemeinden auf die Durchführung dieser beiden Vorhaben in ihrer ursprünglichen Gestalt verzichtet haben.

41 Zwar ist nicht mehr an eine Durchführung dieser Vorhaben gedacht, doch haben die örtlichen Behörden noch nach dem Beitritt des Königreichs Spanien zu den Gemeinschaften die zuvor um die für die Ansiedlung von Industriebetrieben vorgesehenen Flächen herum errichteten Deiche verdichtet. Es steht ebenfalls fest, daß bisher keine Maßnahme zur Zerstörung dieser Deiche getroffen worden ist, obwohl dieselben Behörden deren abträgliche Auswirkung auf die aquatische Umwelt erkannt und sich zu ihrer Zerstörung verpflichtet haben. Daher ist auch insoweit eine Rechtsverletzung festzustellen.

C ° Zu den Aquakulturanlagen

42 Die Kommission rügt die Erteilung einer Genehmigung für einen Fischerzusammenschluß durch die spanische Verwaltung, um im zentralen Teil des Sumpfgebiets eine Venusmuschelzucht zu betreiben, sowie die Pläne bezueglich anderer Aquakulturtätigkeiten im Mündungsgebiet.

43 Die spanische Regierung verweist auf die wirtschaftliche Bedeutung dieser Tätigkeit und ihre geringe Auswirkung auf die ökologische Situation in den Sumpfgebieten.

44 Die Einrichtung von Aquakulturanlagen, die nicht nur zu einer Verkleinerung der Fläche des Sumpfgebiets und zu Veränderungen in den natürlichen Sedimentierungsprozessen in den Sumpfgegenden führen, sondern auch die bestehende Bodenstruktur verändern, bewirkt eine Zerstörung der besonderen Vegetation dieser Orte, die eine wichtige Nahrungsquelle für die Vögel darstellt.

45 Wie bereits ausgeführt, können Erwägungen im Zusammenhang mit den wirtschaftlichen Problemen infolge des Niedergangs der Industrie und der Fischwirtschaft in der Region, gegen die im übrigen die Tatsache spricht, daß andere Vorhaben wegen mangelnder Rentabilität aufgegeben wurden, eine Abweichung von den Schutzerfordernissen nach Artikel 4 Absatz 4 der Richtlinie nicht rechtfertigen.

46 Da die durch die betreffende Tätigkeit beanspruchte Fläche keineswegs unbedeutend ist und diese Tätigkeit zu einer erheblichen Beeinträchtigung des Lebensraums und der Qualität der Lebensbedingungen für Vögel im Zentrum der Santoña-Marschen geführt hat, ist diese Rüge als begründet anzusehen.

D ° Zur Entsorgung von Festmüll

47 Die Kommission macht geltend, daß die Entsorgung von Festmüll die Strömungen, die sich aus dem Zusammenwirken der Gezeiten und des Flußwassers ergäben, beeinträchtige und damit zu einer erheblichen Veränderung der physikalischen und chemischen Parameter des Sumpfgebiets führe.

48 Die spanische Regierung legt dar, daß dieses Problem seit 1988 gelöst sei. Im Rahmen des Plans für die Entsorgung des festen Haushaltsmülls der Gemeinden in der Bucht von Santoña seien nämlich Maßnahmen getroffen worden. Lediglich einige rechtswidrige Entsorgungen hätten bis 1990 stattgefunden.

49 Aus den Verhandlungen vor dem Gerichtshof ergibt sich, daß die genehmigte Entsorgung von Abfällen 1988, d. h. vor der mit Gründen versehenen Stellungnahme der Kommission, beendet worden ist. Diese Rüge ist daher als unzulässig zurückzuweisen.

E ° Zur Einleitung von Abwässern

50 Die Kommission legt dar, daß die Einleitung nicht gereinigter Abwässer abträgliche Auswirkungen auf die Qualität des Wassers in der Bucht von Santoña gehabt habe.

51 Die spanische Regierung bestreitet nicht, daß nicht gereinigte Abwässer der Gemeinden in der Bucht von Santoña in die Santoña-Marschen eingeleitet worden sind. Ihrer Auffassung nach verpflichtet aber keine Vorschrift der Richtlinie die Mitgliedstaaten zur Einrichtung von Kläranlagen, um die Qualität des Wassers in einem besonderen Schutzgebiet sicherzustellen.

52 Dieses Vorbringen ist zurückzuweisen. Die Einleitung von Abwässern mit giftigen und gefährlichen Stoffen verursacht eine erhebliche Beeinträchtigung der ökologischen Bedingungen der Santoña-Marschen und verändert die Qualität des Wassers in diesem Gebiet erheblich.

53 Wegen der grundlegenden Bedeutung der Wasserqualität für die Sumpfgebiete ist das Königreich Spanien gegebenenfalls verpflichtet, Kläranlagen einzurichten, um die Verschmutzung dieser Lebensräume zu verhindern. Folglich ist die Rechtsverletzung in diesem Punkt nachgewiesen.

F ° Zu den Aufschüttungsarbeiten in Escalante und dem Betrieb des Steinbruchs von Montehano

54 Die Kommission trägt vor, daß die von der Gemeinde Escalante in den Sumpfgebieten durchgeführten Aufschüttungsarbeiten sowie die Ausbeutung des Steinbruchs und die Lagerung von Abraum in den Sumpfgebieten zu einer Verkleinerung der Fläche des geschützten Gebietes geführt hätten.

55 Die spanische Regierung weist darauf hin, daß diese Beanstandungen sich auf Sachverhalte vor dem Beitritt Spaniens zur Gemeinschaft bezögen. Die Ablagerung dieses Abraums in den Sumpfgebieten sei 1986 verboten worden und demgemäß rechtswidrig geworden.

56 Es ist festzustellen, daß während der Verhandlung vor dem Gerichtshof weder der Zeitpunkt noch das Ausmaß der streitigen Maßnahmen am Rande des Sumpfgebiets klargeworden ist. Es kann daher nicht festgestellt werden, ob und in welchem Umfang die Aufschüttungsarbeiten und die Lagerung von Abraum aus dem betreffenden Steinbruch in dem Sumpfgebiet nach dem Jahr 1986 erfolgt sind. Demgegenüber steht fest, daß zum einen die Arbeiten der Gemeinde Escalante 1986 beendet wurden und für andere Arbeiten keine Genehmigung erteilt wurde und daß zum anderen der Betrieb des Steinbruchs von Montehano kontrolliert wird und die Lagerung trockener Stoffe in den Sumpfgebieten endgültig untersagt worden ist. Diese Rüge ist daher zurückzuweisen.

G ° Zur Gesamtheit der unter III angeführten Rügen

57 Nach alledem hat das Königreich Spanien durch die genannten Eingriffe mit Ausnahme derjenigen, gegen die sich die Rügen unter III ° D und F richten, seine Verpflichtungen aus Artikel 4 Absatz 4 der Richtlinie dadurch verletzt, daß es keine geeigneten Maßnahmen ergriffen hat, um die Verschmutzung oder die Beeinträchtigung der Lebensräume in den Santoña-Marschen zu vermeiden.

58 Es ist daher festzustellen, daß das Königreich Spanien dadurch gegen seine Verpflichtungen aus dem EWG-Vertrag verstossen hat, daß es entgegen Artikel 4 der Richtlinie die Santoña-Marschen nicht als besonderes Schutzgebiet ausgewiesen und keine geeigneten Maßnahmen ergriffen hat, um die Verschmutzung oder die Beeinträchtigung der Lebensräume in diesem Gebiet zu verhindern.

Kostenentscheidung:

Kosten

59 Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei zur Tragung der Kosten des Verfahrens zu verurteilen. Da das Königreich Spanien mit seinem Vorbringen im wesentlichen unterlegen ist, sind ihm die Kosten aufzuerlegen.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

für Recht erkannt und entschieden:

1) Das Königreich Spanien hat dadurch gegen seine Verpflichtungen aus dem EWG-Vertrag verstossen, daß es entgegen Artikel 4 der Richtlinie 79/409/EWG des Rates vom 2. April 1979 über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten die Marismas de Santoña nicht als besonderes Schutzgebiet ausgewiesen und keine geeigneten Maßnahmen getroffen hat, um die Verschmutzung oder die Beeinträchtigung der Lebensräume in diesem Gebiet zu verhindern.

2) Das Königreich Spanien trägt die Kosten des Verfahrens.

Ende der Entscheidung

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