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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 07.09.1999
Aktenzeichen: C-355/97
Rechtsgebiete: EGV, Akte über die Bedingungen des Beitritts der Republik Österreich, der Republik Finnland und des Königreichs Schweden, TGVG 1996, (Österreich)


Vorschriften:

EGV Art. 177 (jetzt EGV Art.234)
Akte über die Bedingungen des Beitritts der Republik Österreich, der Republik Finnland und des Königreichs Schweden Art. 70
TGVG 1996, (Österreich) § 40
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1 Die Vermutung, die für die Entscheidungserheblichkeit von Fragen spricht, die von nationalen Gerichten zur Vorabentscheidung vorgelegt werden, kann nur in Ausnahmefällen widerlegt werden, wenn offensichtlich ist, daß die erbetene Auslegung des Gemeinschaftsrechts in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, oder wenn das Problem hypothetischer Natur ist und der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen oder rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind. Mit Ausnahme dieser Fälle ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über die Vorlagefragen nach der Auslegung von Vorschriften des Gemeinschaftsrechts zu befinden.

2 Unter den Begriff der "bestehenden Rechtsvorschriften" im Sinne des Artikels 70 der Beitrittsakte von 1994, wonach die Republik Österreich ihre bestehenden Rechtsvorschriften betreffend Zweitwohnungen während fünf Jahren ab dem Beitritt beibehalten kann, fallen Bestimmungen, die nach dem Beitritt erlassen worden sind und die im wesentlichen mit der zu jenem Zeitpunkt geltenden Regelung übereinstimmen oder nur ein Hindernis, das nach dieser Regelung der Ausübung der gemeinschaftlichen Rechte und Freiheiten entgegenstand, abmildern oder beseitigen.


Urteil des Gerichtshofes (Fünfte Kammer) vom 7. September 1999. - Landesgrundverkehrsreferent der Tiroler Landesregierung gegen Beck Liegenschaftsverwaltungsgesellschaft mbH und Bergdorf Wohnbau GmbH, in Liquidation. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Oberster Gerichtshof - Österreich. - Artikel 70 der Akte über den Beitritt Österreichs - Zweitwohnungen - Tiroler Grundverkehrsverfahren - Begriff der 'bestehenden Rechtsvorschriften'. - Rechtssache C-355/97.

Entscheidungsgründe:

1 Der Oberste Gerichtshof hat mit Beschluß vom 28. August 1997, beim Gerichtshof eingegangen am 15. Oktober 1997, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag (jetzt Artikel 234 EG) eine Frage nach der Auslegung des Artikels 70 der Akte über die Bedingungen des Beitritts der Republik Österreich, der Republik Finnland und des Königreichs Schweden und die Anpassungen der die Europäische Union begründenden Verträge (ABl. 1994, C 241, S. 21, und ABl. 1995, L 1, S. 1; im folgenden: Beitrittsakte) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Frage stellt sich im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Landesgrundverkehrsreferenten der Tiroler Landesregierung (im folgenden: Kläger) und der Beck Liegenschaftsverwaltungsgesellschaft mbH (im folgenden: Beck) sowie der Bergdorf Wohnbau GmbH (im folgenden: Bergdorf) über den Verkauf einer Wohnung in Fieberbrunn (Tirol) von der Beklagten Bergdorf an die Beklagte Beck durch einen vor dem Notar Hacker am 14. Oktober 1983 geschlossenen Vertrag (im folgenden: streitiges Rechtsgeschäft).

Innerstaatliches Recht

3 Das Tiroler Grundverkehrsgesetz vom 18. Oktober 1983 (LGBl für Tirol 1983/69; im folgenden: TGVG 1983) in der Fassung des Gesetzes vom 3. Juli 1991 (LGBl für Tirol 1991/74; im folgenden: Gesetz von 1991), das am 1. Oktober 1991 in Kraft getreten ist, ermächtigt den Landesgrundverkehrsreferenten, die Nichtigkeit des Kaufs oder Verkaufs in Tirol belegener Grundstücke einschließlich der vor dem Inkrafttreten des Gesetzes von 1991 abgeschlossenen Geschäfte gerichtlich feststellen zu lassen, wenn Grund zur Annahme besteht, daß es sich um ein Schein- oder Umgehungsgeschäft handelt.

4 Das TGVG 1983 in der geänderten Fassung wurde mit Wirkung vom 1. Januar 1994 durch das Tiroler Grundverkehrsgesetz vom 7. Juli 1993 (LGBl für Tirol 1993/82; im folgenden: TGVG 1993) ersetzt. Dieses Gesetz, das ebenfalls vorsieht, daß der Landesgrundverkehrsreferent Klage auf Feststellung der Nichtigkeit von Schein- oder Umgehungsgeschäften über Grundstücke einschließlich jener Geschäfte, die vor dem Inkrafttreten des neuen Gesetzes abgeschlossen wurden, erheben kann, legt fest, daß die Bestimmungen des TGVG 1983 in ihrer zuletzt gültigen Fassung für die Klagen gegen vor dem 1. Januar 1994 abgeschlossene Rechtsgeschäfte weiterhin gelten.

5 Das TGVG 1993 wurde seinerseits mit Wirkung vom 1. Oktober 1996 durch das Tiroler Grundverkehrsgesetz vom 3. Juli 1996 (LGBl für Tirol 1996/61; im folgenden: TGVG 1996) geändert; es bestätigt in § 35 Absatz 1 das Recht des Landesgrundverkehrsreferenten, die Nichtigkeit von Schein- oder Umgehungsgeschäften über Grundstücke gerichtlich feststellen zu lassen, und sieht ausserdem vor, daß die Bestimmungen des TGVG 1983 in ihrer zuletzt gültigen Fassung für Verfahren in bezug auf vor dem 1. Januar 1994 abgeschlossene Rechtsgeschäfte weiterhin Anwendung finden.

6 § 40 Absatz 2 TGVG 1996 hat folgenden Wortlaut:

"In jenen grundverkehrsbehördlichen Verfahren, die am 1. Jänner 1994 anhängig waren, ist in materiellrechtlicher Hinsicht weiterhin das Grundverkehrsgesetz 1983 anzuwenden. Hinsichtlich der Behörden und des Verfahrens gelten die Bestimmungen dieses Gesetzes."

7 § 40 Absatz 5 TGVG 1996 lautet:

"Das Recht des Landesgrundverkehrsreferenten, nach § 35 Abs 1 Feststellungsklage zu erheben, erstreckt sich auch auf die vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes abgeschlossenen Schein- und Umgehungsgeschäfte. Auf Verfahren nach § 35 Abs 1, die ein vor dem 1. Jänner 1994 abgeschlossenes Schein- oder Umgehungsgeschäft zum Gegenstand haben, ist das Grundverkehrsgesetz 1983 anzuwenden."

Gemeinschaftsrecht

8 Artikel 70 der Beitrittsakte bestimmt:

"Abweichend von den Verpflichtungen im Rahmen der die Europäische Union begründenden Verträge kann die Republik Österreich ihre bestehenden Rechtsvorschriften betreffend Zweitwohnungen während eines Zeitraums von fünf Jahren ab dem Beitritt beibehalten."

Der Ausgangsrechtsstreit

9 Der Kläger erhob, gestützt auf die Bestimmungen des TGVG 1983 in der Fassung des Gesetzes von 1991, beim Landesgericht Innsbruck Klage auf Feststellung der Nichtigkeit des streitigen Rechtsgeschäfts.

10 Das Landesgericht Innsbruck mit Urteil vom 25. Januar 1995 und anschließend im Berufungsverfahren das Oberlandesgericht Innsbruck mit Urteil vom 28. Juni 1995 gaben der Klage statt.

11 Die Beklagte Beck und Notar Hacker als Nebenintervenient legten daraufhin Revision beim Obersten Gerichtshof ein und bestritten insbesondere das Klagerecht des Klägers, da es für seine Klage keine Rechtsgrundlage gebe.

12 Der Oberste Gerichtshof stellte fest, daß das Gesetz von 1991 zur Änderung des TGVG 1983, auf das die Klage gestützt war, vom Verfassungsgerichtshof mit Erkenntnis vom 28. September 1996 für verfassungswidrig erklärt worden war, so daß es auf den Rechtsstreit keine Anwendung mehr finden konnte.

13 Bei der Prüfung, ob die Klage im Ausgangsrechtsstreit auf das TGVG 1993 gestützt werden könne, warf der Oberste Gerichtshof die Frage nach der Verfassungsmässigkeit dieses Gesetzes auf und befasste den Verfassungsgerichtshof mit dieser Frage, der mit Erkenntnis vom 10. Dezember 1996 das TGVG 1993 mit Ausnahme derjenigen Bestimmungen für verfassungswidrig und auf den Rechtsstreit nicht anwendbar erklärte, die gemäß § 40 TGVG 1996 weiterhin anwendbar blieben.

14 Dementsprechend ist der Oberste Gerichtshof der Auffassung, daß er auf der Grundlage des § 40 TGVG 1996 zu prüfen habe, ob dem Kläger ein Klagerecht zustehe, weil das früher geltende Recht nicht mehr anwendbar sei.

15 Da das TGVG 1996 nach dem am 1. Januar 1995 erfolgten Beitritt der Republik Österreich zur Europäischen Union erlassen worden ist, fragt sich der Oberste Gerichtshof, ob § 40 Absätze 2 und 5 TGVG 1996 zu den Bestimmungen zählt, die die Republik Österreich gemäß Artikel 70 der Beitrittsakte für die Dauer von fünf Jahren ab dem Beitritt beibehalten darf.

16 In der Erwägung, daß die Entscheidung des Rechtsstreits eine Auslegung des Artikels 70 der Beitrittsakte erforderlich mache, hat der Oberste Gerichtshof dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Ist Artikel 70 der Akte über die Bedingungen des Beitritts der Republik Österreich, der Republik Finnland und des Königreichs Schweden und die Anpassungen der die Europäische Union begründenden Verträge (BA), wonach abweichend von den Verpflichtungen im Rahmen der die Europäische Union begründenden Verträge die Republik Österreich ihre bestehenden Rechtsvorschriften betreffend Zweitwohnungen während eines Zeitraums von fünf Jahren ab dem Beitritt (1.1.1995) beibehalten kann, so auszulegen, daß die Übergangsbestimmungen des § 40 Absätze 2 und 5 des am 1.10.1996 in Kraft getretenen Tiroler Grundverkehrsgesetzes 1996, Landesgesetzblatt für Tirol 1996/61, unter den Begriff der bestehenden Rechtsvorschriften fallen, oder sind diese Bestimmungen dann als neue Rechtsvorschriften anzusehen, wenn auf Grund von Erkenntnissen des österreichischen Verfassungsgerichtshofes die Vorschriften früherer Tiroler Grundverkehrsgesetze auf den vorliegenden Fall nicht anzuwenden waren?

17 Das vorlegende Gericht möchte mit seiner Frage wissen, ob unter den Begriff der bestehenden Rechtsvorschriften im Sinne des Artikels 70 der Beitrittsakte Bestimmungen wie § 40 Absätze 2 und 5 TGVG 1996 fallen, die nach dem Beitritt erlassen worden sind und vorsehen, daß auf vor dem Beitritt abgeschlossene Rechtsgeschäfte weiterhin Rechtsvorschriften Anwendung finden, die zum Zeitpunkt des Beitritts zwar bereits galten, inzwischen jedoch für verfassungswidrig und in den anhängigen Verfahren für nicht anwendbar erklärt worden sind und die einer Behörde das Recht geben, die Nichtigkeit von Grundstücksverkäufen gerichtlich feststellen zu lassen.

Zulässigkeit

18 Der Kläger, die österreichische Regierung und die Kommission vertreten die Meinung, daß eine Antwort des Gerichtshofes auf die Vorlagefrage für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits keinesfalls von Nutzen sein könne.

19 Zum einen könne das Gemeinschaftsrecht im Ausgangsrechtsstreit keine Anwendung finden, und zwar weder ratione temporis, da das am 14. Oktober 1983 abgeschlossene streitige Rechtsgeschäft wie auch die am 28. März 1994 erhobene Nichtigkeitsklage vor dem Beitritt der Republik Österreich gelegen hätten, noch ratione materiä, da das Rechtsgeschäft, das zwischen zwei österreichischen Gesellschaften abgeschlossen worden sei und ausserhalb des österreichischen Staatsgebiets keine Rechtswirkung entfalte, nicht in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts falle.

20 Zum anderen beziehe sich die erbetene Auslegung zwar auf den Begriff der "bestehenden Rechtsvorschriften betreffend Zweitwohnungen" im Sinne des Artikels 70 der Beitrittsakte; jedoch deute in dem Vorlagebeschluß nichts darauf hin, daß es im Ausgangsrechtsstreit um eine Zweitwohnung gehe, so daß die Vorlagefrage nicht entscheidungserheblich sei.

21 Zum Dritten begründe der Vorlagebeschluß nicht hinreichend, welche Rechtsfolgen die wiederholten Gesetzesänderungen und die Feststellung der Verfassungswidrigkeit hätten, so daß der Gerichtshof nicht erkennen könne, ob die erbetene Auslegung Einfluß auf die Prüfung der rechtlichen Begründetheit der Klage haben könne.

22 Keines dieser Argumente kann die Vermutung widerlegen, die für die Entscheidungserheblichkeit von Fragen spricht, die von nationalen Gerichten zur Vorabentscheidung vorgelegt werden. Diese Vermutung kann nur in Ausnahmefällen widerlegt werden, wenn offensichtlich ist, daß die erbetene Auslegung des Gemeinschaftsrechts in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, oder wenn das Problem hypothetischer Natur ist und der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen oder rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (vgl. insbesondere Urteile vom 15. Dezember 1995 in der Rechtssache C-415/93, Bosman, Slg. 1995, I-4921, Randnr. 61, und vom 5. Juni 1997 in der Rechtssache C-105/94, Celestini, Slg. 1997, I-2971, Randnr. 22). Mit Ausnahme dieser Fälle ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über die Vorlagefragen nach der Auslegung von Vorschriften des Gemeinschaftsrechts zu befinden (vgl. Urteil Bosman, Randnr. 59).

23 Im vorliegenden Fall enthält der Vorlagebeschluß die Darstellung der Erwägungen über das innerstaatliche Recht, die das vorlegende Gericht zu der Annahme veranlasst haben, daß die Frage der Befugnis des Klägers, die Nichtigkeit eines Grundstücksgeschäfts im Klageweg feststellen zu lassen, von der das Ergebnis des Ausgangsrechtsstreits abhänge, auf der Grundlage von § 40 Absätze 2 und 5 TGVG 1996 zu behandeln sei. Dieses Gesetz enthält insbesondere in den §§ 11 und 14 Bestimmungen, die der Schaffung von Zweitwohnungen vorbeugen sollen.

24 In dem sachlichen und rechtlichen Rahmen, den das vorlegende Gericht damit in eigener Verantwortung festgelegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat (vgl. Urteil vom 20. März 1997 in der Rechtssache C-352/95, Phytheron International, Slg. 1997, I-1729, Randnrn. 9 bis 14), ist nicht ersichtlich, daß der Auslegung des Begriffes der bestehenden Rechtsvorschriften im Sinne des Artikels 70 der Beitrittsakte jeder Bezug zum Ausgangsrechtsstreit fehlte, daß das Problem hypothetischer Natur wäre oder daß der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen oder rechtlichen Angaben verfügte, die für eine zweckdienliche Antwort erforderlich sind.

25 Der Kläger und die Kommission machen weiter geltend, daß die Vorlagefrage so, wie sie formuliert sei, auf die Aufforderung an den Gerichtshof hinauslaufe, die innerstaatlichen Bestimmungen des TGVG 1996 am gemeinschaftsrechtlichen Begriff der bestehenden Rechtsvorschriften zu messen, d. h. das innerstaatliche Recht auszulegen. Es sei jedoch ausschließlich Sache der nationalen Gerichte, festzustellen, welche Bestimmungen zu den in einem Mitgliedstaat zum Zeitpunkt seines Beitritts bestehenden Rechtsvorschriften gehörten.

26 Zwar fällt es in der Tat grundsätzlich in die Zuständigkeit der nationalen Gerichte, den Inhalt des am 1. Januar 1995 bestehenden Rechts über Zweitwohnungen festzustellen; demgegenüber ist es jedoch Aufgabe des Gerichtshofes, diesen Gerichten die Kriterien für die Auslegung des gemeinschaftsrechtlichen Begriffes der bestehenden Rechtsvorschriften an die Hand zu geben, um ihnen diese Feststellung zu ermöglichen (vgl. Urteil vom 1. Juni 1999 in der Rechtssache C-302/97, Konle, Slg. 1999, I-3099, Randnr. 27).

27 Die Vorlagefrage ist daher zu beantworten.

Zur Vorlagefrage

28 Aufgrund ihres Ausnahmecharakters ist die Regelung des Artikels 70 der Beitrittsakte grundsätzlich nur dann anzuwenden, wenn innerstaatliche Bestimmungen ohne eine solche Regelung an sich mit dem Gemeinschaftsrecht nicht vereinbar wären. Das vorlegende Gericht muß also zunächst feststellen, daß § 40 Absätze 2 und 5 TGVG 1996, vorbehaltlich der Anwendung des Artikels 70 der Beitrittsakte, gegen eine gemeinschaftsrechtliche Vorschrift verstieße, und kann erst dann prüfen, ob diese Bestimmungen zu den zur Zeit des Beitritts der Republik Österreich zur Europäischen Union bestehenden Rechtsvorschriften betreffend Zweitwohnungen gehören. Diese Feststellung, die in die Zuständigkeit des vorlegenden Gerichts fällt, geht zudem über den Rahmen der dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorgelegten Frage hinaus.

29 Der Kläger, die österreichische Regierung und die Kommission machen geltend, daß Bestimmungen wie § 40 Absätze 2 und 5 TGVG 1996 nur die Anwendung von Vorschriften, die Bestandteil des zum Zeitpunkt des Beitritts der Republik Österreich zur Europäischen Union geltenden Rechts seien, auf Rechtsgeschäfte aufrecht erhielten, die vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes abgeschlossen worden seien. Demnach liege jedenfalls keine Verschärfung der am 1. Januar 1995 bestehenden Rechtslage vor; die Maßnahme gehe nicht über den Rahmen hinaus, der durch die Übergangsbestimmungen zur Beitrittsakte festgelegt worden sei, die der Republik Österreich eine Frist von fünf Jahren einräumten, um ihre Rechtsvorschriften an das Gemeinschaftsrecht anzupassen.

30 Die Beklagte Beck trägt demgegenüber vor, daß es sich bei § 40 TGVG 1996 um eine neue Bestimmung handle, da die vor dem TGVG 1996 erlassenen Rechtsvorschriften aufgrund der vom Verfassungsgerichtshof getroffenen Feststellung der Verfassungswidrigkeit rückwirkend aus der österreichischen Rechtsordnung verschwunden seien. Diese Bestimmung verschlechtere die Lage der Betroffenen im Vergleich zur früheren Regelung nach dem TGVG 1983 in der Fassung, die vor den durch das Gesetz von 1991 eingefügten Änderungen gegolten habe. Nach dieser Regelung habe die Verwaltung ein Rechtsgeschäft nämlich nur in den drei Jahren nach dessen Abschluß anfechten können, während das TGVG 1996 ihr ein Vorgehen ohne Beschränkung durch Fristen ermögliche.

31 Der Begriff der bestehenden Rechtsvorschriften im Sinne des Artikels 70 der Beitrittsakte, den anzuwenden Sache des vorlegenden Gerichts ist, beruht auf einem materiellen Kriterium, so daß für seine Anwendung nicht beurteilt zu werden braucht, ob die betreffenden innerstaatlichen Vorschriften nach nationalem Recht gültig sind. Daher fällt jede Vorschrift über Zweitwohnsitze, die in der Republik Österreich zum Zeitpunkt des Beitritts in Kraft war, grundsätzlich unter die Ausnahmeregelung des Artikels 70 der Beitrittsakte (vgl. Urteil Konle, Randnr. 28).

32 Etwas anderes würde gelten, wenn diese Vorschrift aus der innerstaatlichen Rechtsordnung durch eine Entscheidung entfernt worden wäre, die nach dem Beitritt ergangen wäre, aber auf einen vor ihm liegenden Zeitpunkt zurückwirkte und die betreffende Vorschrift damit für die Vergangenheit beseitigte (vgl. Urteil Konle, Randnr. 29).

33 In einem Vorabentscheidungsverfahren ist es Sache der Gerichte des betreffenden Mitgliedstaats, die zeitlichen Wirkungen der Feststellung der Verfassungswidrigkeit durch das Verfassungsgericht dieses Mitgliedstaats zu beurteilen (vgl. Urteil Konle, Randnr. 30).

34 Werden Vorschriften nach dem Beitritt erlassen, so sind sie nicht schon allein deswegen von der Ausnahmeregelung des Artikels 70 der Beitrittsakte ausgeschlossen. Eine Bestimmung fällt unter die Ausnahmeregelung, wenn sie im wesentlichen mit der früheren Regelung übereinstimmt oder nur ein Hindernis, das nach der früheren Regelung der Ausübung der gemeinschaftlichen Rechte und Freiheiten entgegenstand, abmildert oder beseitigt (vgl. Urteil Konle, Randnr. 52).

35 Beruht dagegen eine Regelung auf einem anderen Grundgedanken als das frühere Recht und führt sie neue Verfahren ein, so kann sie den zum Zeitpunkt des Beitritts bestehenden Rechtsvorschriften nicht gleichgestellt werden (vgl. Urteil Konle, Randnr. 53).

36 Demzufolge fallen die Bestimmungen des § 40 TGVG 1996 unter die Ausnahmeregelung des Artikels 70 der Beitrittsakte, wenn sie allein bewirken, daß Vorschriften, die am 1. Januar 1995 anwendbar waren, in Kraft bleiben.

37 Somit ist auf die Vorabentscheidungsfrage zu antworten, daß unter den Begriff der bestehenden Rechtsvorschriften im Sinne des Artikels 70 der Beitrittsakte Bestimmungen fallen, die nach dem Beitritt erlassen worden sind und die im wesentlichen mit der zu jenem Zeitpunkt geltenden Regelung übereinstimmen oder nur ein Hindernis, das nach dieser Regelung der Ausübung der gemeinschaftlichen Rechte und Freiheiten entgegenstand, abmildern oder beseitigen.

Kostenentscheidung:

Kosten

38 Die Auslagen der österreichischen Regierung sowie der Kommission, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

(Fünfte Kammer)

auf die ihm vom Obersten Gerichtshof mit Beschluß vom 28. August 1997 vorgelegte Frage für Recht erkannt:

Unter den Begriff der bestehenden Rechtsvorschriften im Sinne des Artikels 70 der Akte über die Bedingungen des Beitritts der Republik Österreich, der Republik Finnland und des Königreichs Schweden und die Anpassungen der die Europäische Union begründenden Verträge fallen Bestimmungen, die nach dem Beitritt erlassen worden sind und die im wesentlichen mit der zu jenem Zeitpunkt geltenden Regelung übereinstimmen oder nur ein Hindernis, das nach dieser Regelung der Ausübung der gemeinschaftlichen Rechte und Freiheiten entgegenstand, abmildern oder beseitigen.

Ende der Entscheidung

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