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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 21.03.1996
Aktenzeichen: C-39/95
Rechtsgebiete: EG-Vertrag, Verordnung Nr. 3820/85 des Rates vom 20.12.1985


Vorschriften:

EG-Vertrag Art. 177
Verordnung Nr. 3820/85 des Rates vom 20.12.1985 Art. 4 Nr. 6
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Artikel 4 Nr. 6 der Verordnung Nr. 3820/85 über die Harmonisierung bestimmter Sozialvorschriften im Strassenverkehr ist so auszulegen, daß unter Beförderungen mit "Fahrzeugen, die von den zuständigen Stellen der Müllabfuhr eingesetzt werden", und die nach dieser Bestimmung zu den Beförderungsarten zu zählen sind, die vom Geltungsbereich der Verordnung ausgeschlossen sind, Beförderungen mit Fahrzeugen zu verstehen sind, die im Rahmen einer im öffentlichen Interesse liegenden allgemeinen Dienstleistung, die unmittelbar von den Behörden oder unter ihrer Kontrolle von Privatunternehmen erbracht wird, für die Abholung von Abfällen aller Art, die keiner Sonderregelung unterliegen, und für deren Weitertransport im Nahbereich eingesetzt sind.


Urteil des Gerichtshofes (Erste Kammer) vom 21. März 1996. - Strafverfahren gegen Pierre Goupil. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Tribunal de police de La Rochelle - Frankreich. - Sozialvorschriften im Straßenverkehr - Ausnahme für Fahrzeuge, die von den zuständigen Stellen der Müllabfuhr eingesetzt werden. - Rechtssache C-39/95.

Entscheidungsgründe:

1 Das Tribunal de police La Rochelle hat mit Urteil vom 31. Januar 1995, beim Gerichtshof eingegangen am 17. Februar 1995, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung von Artikel 4 Nr. 6 der Verordnung (EWG) Nr. 3820/85 des Rates vom 20. Dezember 1985 über die Harmonisierung bestimmter Sozialvorschriften im Strassenverkehr (ABl. L 370, S. 1; im folgenden: Verordnung) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Frage stellt sich in einem Strafverfahren gegen Pierre Goupil (Angeklagter), der beschuldigt wird, in vier Fällen gegen die Regelung der Arbeitszeit der Kraftfahrer verstossen zu haben.

3 Die Verordnung regelt in ihren Abschnitten IV und V die Dauer der Lenk- und Ruhezeiten. In Artikel 4 ist jedoch bestimmt:

"Diese Verordnung gilt nicht für Beförderungen mit:

...

6. Fahrzeugen, die von den zuständigen Stellen für Kanalisation, Hochwasserschutz, der Wasser-, Gas- und Elektrizitätswerke, der Strassenbauämter, der Müllabfuhr, des Telegrafen- und Fernsprechdienstes, des Postsachenbeförderungsdienstes, von Rundfunk und Fernsehen oder für die Erkennung von Rundfunk- und Fernsehübertragungen oder -empfang eingesetzt werden".

4 Der Angeklagte ist Président directeur général eines Unternehmens, dessen Tätigkeit in der Reinigung, Abwasserbeseitigung und Abfallverwertung besteht. Die Fahrzeuge des Unternehmens holen die Abfälle in den Betrieben ab und befördern sie zu einer technischen Abfallbeseitigungsanlage oder zu einer Verbrennungsanlage. Bei einer Kontrolle stellte die Gendarmerie fest, daß einer der Fahrer des Unternehmens die vorgeschriebene Dauer der ununterbrochenen Lenkzeit in vier Fällen überschritten hatte. Gegen den Angeklagten wurde daraufhin ein Strafverfahren wegen Verstosses gegen die Verordnung und gegen das französische Dekret Nr. 1130 vom 17. Oktober 1986 eingeleitet.

5 In der Hauptverhandlung vor dem nationalen Gericht machte der Angeklagte geltend, er sei wegen Artikel 4 Nr. 6 der Verordnung nicht verpflichtet, die Fahrzeuge seines Unternehmens mit einem Fahrtschreiber auszurüsten, und daher könne die Überschreitung der Lenkzeit kein Delikt darstellen.

6 Das Tribunal de police La Rochelle hat das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Schließt Artikel 4 der Verordnung (EWG) Nr. 3820/85 von der Regelung der Verordnung (EWG) Nr. 3821/85 die Fahrzeuge privater Unternehmen für die Abfuhr und Behandlung von Abfällen, die Müllbehälter oder industrielle Abfälle befördern, einschließlich solcher Beförderungen aus, die über weite Strecken erfolgen?

7 Mit dieser Frage möchte das nationale Gericht im Kern eine Definition des Begriffes "Fahrzeuge, die von den zuständigen Stellen der Müllabfuhr eingesetzt werden", im Sinne von Artikel 4 Nr. 6 der Verordnung erhalten.

8 Artikel 4 der Verordnung zählt bestimmte Arten von Beförderungen auf, für die die Verordnung nicht gilt. Als Ausnahme von der allgemeinen Regelung kann Artikel 4 nicht so ausgelegt werden, daß seine Wirkung über das hinausgeht, was zum Schutz der von ihm gewährleisteten Interessen erforderlich ist. Ausserdem sind die dort vorgesehenen Ausnahmen unter Berücksichtigung der Zielsetzungen der Verordnung zu bestimmen (vgl. Urteil vom 25. Juni 1992 in der Rechtssache C-116/91, British Gas, Slg. 1992, I-4071, Randnr. 12).

9 Was die Interessen angeht, deren Schutz durch Artikel 4 Nr. 6 der Verordnung gewährleistet werden soll, ist festzustellen, daß die in dieser Vorschrift vorgesehenen Ausnahmen auf der Art der Dienstleistungen beruhen, für die die Fahrzeuge eingesetzt werden. Die Aufzählung in Artikel 4 Nr. 6 der Verordnung enthält ausschließlich im öffentlichen Interesse liegende allgemeine Dienstleistungen (Urteil British Gas, a. a. O., Randnr. 13).

10 Ziel der Verordnung ist, wie aus ihrer ersten Begründungserwägung hervorgeht, die Harmonisierung der Bedingungen des Wettbewerbs sowie die Verbesserung der Arbeitsbedingungen und der Sicherheit im Strassenverkehr.

11 In Anbetracht dieser Ziele, hauptsächlich desjenigen der Verbesserung der Sicherheit im Strassenverkehr, ist der Begriff "Müllabfuhr" so auszulegen, daß damit nur das Abholen des Mülls von einem Ort gemeint ist, wo dieser abgelegt wurde. Fahrzeuge der Müllabfuhr legen innerhalb kurzer Zeit kurze Strecken zurück, wobei die Beförderung gegenüber der Abfuhr zurücktritt. Mülltransport, der diese Merkmale nicht aufweist, fällt nicht unter die Befreiung. Es ist Sache des nationalen Gerichts, im jeweiligen Einzelfall zu entscheiden, ob dies der Fall ist.

12 Da die zuständigen Stellen im Sinne von Artikel 4 Nr. 6 im Allgemeininteresse tätig werden, sind als Müll im Sinne dieser Bestimmung Abfälle sowohl häuslicher als auch gewerblicher Art sowie Sonderabfälle zu definieren, soweit ihre Abfuhr im Allgemeininteresse liegt. Diese Auslegung steht auch im Einklang mit dem Ziel der Harmonisierung der Bedingungen des Wettbewerbs, ohne der Anwendung von Sonderregelungen für bestimmte Arten von Abfällen, wie Artikel 13 Absatz 1 Buchstabe d der Verordnung über die Beförderung von tierischen Abfällen, entgegenzustehen.

13 In diesem Rahmen fallen unter Artikel 4 Nr. 6 der Verordnung auch Leerfahrten der Fahrzeuge sowie Fahrten zur Vorbereitung von Beförderungen.

14 Schließlich setzt eine Befreiung der in Rede stehenden Fahrzeuge nicht voraus, daß sie unmittelbar von den Behörden eingesetzt werden. Die Verordnung Nr. 3820/85 soll die Verordnung (EWG) Nr. 543/69 des Rates vom 25. März 1969 über die Harmonisierung bestimmter Sozialvorschriften im Strassenverkehr (ABl. L 77, S. 49) flexibler gestalten. Artikel 4 Nr. 6 der Verordnung Nr. 3820/85 trat an die Stelle von Artikel 4 Nr. 4 der Verordnung Nr. 543/69 in der Fassung der Verordnung (EWG) Nr. 2827/77 des Rates vom 12. Dezember 1977 zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 543/69 (ABl. L 334, S. 1); im Gegensatz zu dieser Bestimmung enthält er keinen Bezug auf "Fahrzeuge..., die von anderen Trägern öffentlicher Gewalt zu öffentlichen Zwecken eingesetzt... werden". Aufgrund dieser Änderung erfasst die Ausnahme neben Behörden auch Privatunternehmen, die unter behördlicher Kontrolle eine im öffentlichen Interesse liegende allgemeine Dienstleistung erbringen.

15 Daher ist auf die Frage zu antworten, daß unter "Fahrzeugen, die von den zuständigen Stellen der Müllabfuhr eingesetzt werden", im Sinne von Artikel 4 Nr. 6 der Verordnung Fahrzeuge zu verstehen sind, die im Rahmen einer im öffentlichen Interesse liegenden allgemeinen Dienstleistung, die unmittelbar von den Behörden oder unter ihrer Kontrolle von Privatunternehmen erbracht wird, für die Abholung von Abfällen aller Art, die keiner Sonderregelung unterliegen, und für deren Weitertransport im Nahbereich eingesetzt sind.

Kostenentscheidung:

Kosten

16 Die Auslagen der französischen Regierung und der Regierung des Vereinigten Königreichs sowie der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahren; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

auf die ihm vom Tribunal de police La Rochelle mit Beschluß vom 31. Januar 1995 vorgelegte Frage für Recht erkannt:

Unter "Fahrzeugen, die von den zuständigen Stellen der Müllabfuhr eingesetzt werden", im Sinne von Artikel 4 Nr. 6 der Verordnung (EWG) Nr. 3820/85 vom 20. Dezember 1985 über die Harmonisierung bestimmter Sozialvorschriften im Strassenverkehr sind Fahrzeuge zu verstehen, die im Rahmen einer im öffentlichen Interesse liegenden allgemeinen Dienstleistung, die unmittelbar von den Behörden oder unter ihrer Kontrolle von Privatunternehmen erbracht wird, für die Abholung von Abfällen aller Art, die keiner Sonderregelung unterliegen, und für deren Weitertransport im Nahbereich eingesetzt sind.

Ende der Entscheidung

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