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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 09.08.1994
Aktenzeichen: C-396/92
Rechtsgebiete: EWG-Vertrag, UVPG


Vorschriften:

EWG-Vertrag Art. 177
EWG-Vertrag Art. 100
EWG-Vertrag Art. 235
UVPG § 22 Abs. 1
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Artikel 12 Absatz 1 der Richtlinie 85/337 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten gestattet es nicht, daß ein Mitgliedstaat, der diese Richtlinie nach dem 3. Juli 1988, dem Tag des Ablaufs der Umsetzungsfrist, in seine nationale Rechtsordnung umgesetzt hat, Projekte, für die das Genehmigungsverfahren vor Inkrafttreten des nationalen Gesetzes zur Umsetzung dieser Richtlinie, aber nach dem 3. Juli 1988 eingeleitet wurde, durch eine Übergangsvorschrift von der in der Richtlinie vorgeschriebenen Umweltverträglichkeitsprüfung ausnimmt.


URTEIL DES GERICHTSHOFES VOM 9. AUGUST 1994. - BUND NATURSCHUTZ IN BAYERN E.V. UND RICHARD STAHNSDORF UND ANDERE GEGEN FREISTAAT BAYERN, STADT VILSBIBURG UND LANDKREIS LANDSHUT. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: BAYERISCHER VERWALTUNGSGERICHTSHOF - DEUTSCHLAND. - RICHTLINIE 85/337/EWG DES RATES - NATIONALE UEBERGANGSREGELUNG. - RECHTSSACHE C-396/92.

Entscheidungsgründe:

1 Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat mit Beschluß vom 5. November 1992, bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen am 18. November 1992, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag drei Fragen nach der Auslegung der Richtlinie 85/337/EWG des Rates vom 27. Juni 1985 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten (ABl. L 175, S. 40, im folgenden: Richtlinie) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in Rechtsstreitigkeiten zwischen dem Bund Naturschutz in Bayern e. V., einer Umweltvereinigung, und 41 weiteren Klägern, weit überwiegend Landwirten, auf der einen und dem Freistaat Bayern auf der anderen Seite über die Vereinbarkeit des Planfeststellungsverfahrens für den Bau zweier Streckenabschnitte der Bundesstrasse B 15 neu in Bayern mit den Erfordernissen der Richtlinie.

3 Die Richtlinie wurde auf der Grundlage der Artikel 100 und 235 EWG-Vertrag erlassen. Nach ihrer ersten Begründungserwägung wurde in den Aktionsprogrammen der Europäischen Gemeinschaften für den Umweltschutz "bekräftigt, daß bei allen technischen Planungs- und Entscheidungsprozessen die Auswirkungen auf die Umwelt so früh wie möglich berücksichtigt werden müssen"; nach ihrer achten Begründungserwägung haben "Projekte bestimmter Klassen... erhebliche Auswirkungen auf die Umwelt und sind grundsätzlich einer systematischen Prüfung zu unterziehen".

4 Artikel 1 der Richtlinie bestimmt:

"(1) Gegenstand dieser Richtlinie ist die Umweltverträglichkeitsprüfung bei öffentlichen und privaten Projekten, die möglicherweise erhebliche Auswirkungen auf die Umwelt haben.

(2) Im Sinne dieser Richtlinie sind Projekt:

° die Errichtung von baulichen oder sonstigen Anlagen,

° sonstige Eingriffe in Natur und Landschaft einschließlich derjenigen zum Abbau von Bodenschätzen;

..."

5 Nach Artikel 2 Absatz 1 der Richtlinie treffen "die Mitgliedstaaten... die erforderlichen Maßnahmen, damit vor der Erteilung der Genehmigung die Projekte, bei denen insbesondere aufgrund ihrer Art, ihrer Grösse oder ihres Standortes mit erheblichen Auswirkungen auf die Umwelt zu rechnen ist, einer Prüfung in bezug auf ihre Auswirkungen unterzogen werden. Diese Projekte sind in Artikel 4 definiert."

6 Nach Artikel 2 Absatz 2 kann "die Umweltverträglichkeitsprüfung... in den Mitgliedstaaten im Rahmen der bestehenden Verfahren zur Genehmigung der Projekte durchgeführt werden oder, falls solche nicht bestehen, im Rahmen anderer Verfahren oder der Verfahren, die einzuführen sind, um den Zielen dieser Richtlinie zu entsprechen". Nach Absatz 3 können "die Mitgliedstaaten... in Ausnahmefällen ein einzelnes Projekt ganz oder teilweise von den Bestimmungen dieser Richtlinie ausnehmen"; in diesem Fall müssen sie jedoch prüfen, ob eine andere Form der Prüfung angemessen ist, und die Kommission zuvor über die Gründe für die Gewährung dieser Ausnahme unterrichten.

7 Nach Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie werden "Projekte der in Anhang I aufgeführten Klassen... vorbehaltlich des Artikels 2 Absatz 3 einer Prüfung gemäß den Artikeln 5 bis 10 unterzogen". In Anhang I wird unter Nr. 7 unter anderem der Bau von Autobahnen und Schnellstrassen genannt.

8 Die Artikel 5 bis 10 enthalten insbesondere Vorschriften über die Maßnahmen, die die Mitgliedstaaten zu ergreifen haben, damit der Projektträger bestimmte Angaben vorlegt, die nationalen Behörden, aber auch die anderen Mitgliedstaaten, die von dem fraglichen Projekt berührt sein könnten, angehört werden und die Öffentlichkeit unterrichtet wird. Nach Artikel 6 Absatz 2 tragen die Mitgliedstaaten des näheren dafür Sorge, daß jeder Genehmigungsantrag sowie die vom Projektträger vorgelegten Angaben der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden; dieser wird Gelegenheit gegeben, sich dazu zu äussern.

9 Nach Artikel 12 Absatz 1 der Richtlinie hatten die Mitgliedstaaten alle erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um dieser innerhalb von drei Jahren nach ihrer Bekanntgabe nachzukommen. Da die Richtlinie den Mitgliedstaaten am 3. Juli 1985 bekanntgegeben wurde, lief diese Frist am 3. Juli 1988 ab.

10 Aus den Akten geht hervor, daß die Richtlinie in der Bundesrepublik Deutschland mit dem Gesetz vom 12. Februar 1990 zur Umsetzung der Richtlinie, das am 1. August 1990 in Kraft trat (BGBl. 1990 I, S. 205), und somit verspätet umgesetzt wurde. Artikel 1 dieses Gesetzes ist das Gesetz über die Umweltverträglichkeitsprüfung (UVPG). § 22 Absatz 1 UVPG sieht als Übergangsregelung vor, daß bereits begonnene Verfahren nach den Vorschriften dieses Gesetzes zu Ende zu führen sind, wenn das Vorhaben bei Inkrafttreten dieses Gesetzes noch nicht öffentlich bekanntgemacht worden ist.

11 Für bereits begonnene Genehmigungsverfahren gilt also eine Ausnahmeregelung von den Erfordernissen der Richtlinie, wenn das betreffende Vorhaben bei Inkrafttreten des UVPG, also am 1. August 1990, bereits bekanntgemacht worden war.

12 Gegenstand der Ausgangsverfahren ist der Bau zweier Streckenabschnitte der Bundesstrasse B 15 neu in Bayern, einer insgesamt 130 km langen Strassenverbindung, deren Planung und Linie vor vielen Jahren bestimmt wurden. Umstritten ist zum einen der 6,9 km lange Streckenabschnitt Geisenhausen°Haarbach und zum anderen die ca. 3 km lange "Vilstalspange", die die B 15 neu mit der B 388 verbinden und als Umgehung der Stadt Vilsbiburg dienen soll.

13 Aus dem Vorlagebeschluß ergibt sich, daß die Autobahndirektion Südbayern für die Bundesrepublik Deutschland als Projektträger die Planfeststellung für die beiden fraglichen Streckenabschnitte am 7. September 1988 bzw. am 9. November 1989 beantragt hatte, also nach dem 3. Juli 1988, an dem die Frist zur Umsetzung der Richtlinie abgelaufen war, und vor dem 1. August 1990, dem Tag des Inkrafttretens des Umsetzungsgesetzes. Die Planunterlagen wurden der Öffentlichkeit Ende 1989 zugänglich gemacht. Mit zwei Planfeststellungsbeschlüssen vom 16. Dezember 1991 stellte die Regierung von Niederbayern die betreffenden Pläne fest. Aufgrund von § 22 Absatz 1 UVPG erfolgte bei diesen Projekten keine den Erfordernissen der Richtlinie entsprechende Umweltverträglichkeitsprüfung.

14 Der Bund Naturschutz in Bayern e. V. und die 41 weiteren Kläger erhoben beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof Klage auf Aufhebung der beiden genannten Planfeststellungsbeschlüsse. Die Kläger vertraten die Ansicht, daß nach der Richtlinie, die in der Bundesrepublik Deutschland verspätet umgesetzt worden sei, keine nationale Übergangsregelung wie die des § 22 Absatz 1 UVPG hätte eingeführt werden dürfen.

15 Da das nationale Gericht Zweifel an der Vereinbarkeit dieser Übergangsregelung mit den Erfordernissen der Richtlinie hatte, hat es die Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1) Ist Artikel 12 der Richtlinie dahin auszulegen, daß

a) die Mitgliedstaaten verpflichtet gewesen sind, bis zum 3. Juli 1988 die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, damit alle nach diesem Zeitpunkt erstmals genehmigten öffentlichen Projekte, die in den Anwendungsbereich der Richtlinie fallen, deren Anforderungen entsprechen,

oder

b) die Mitgliedstaaten bis zum 3. Juli 1988 zwar die erforderlichen Maßnahmen zu treffen hatten, nicht aber gehindert gewesen sind, für bereits eingeleitete Genehmigungsverfahren Übergangsregelungen zu schaffen?

2) Wenn Frage 1 im Sinne von b zu beantworten ist:

Ist Artikel 12 der Richtlinie dahin auszulegen, daß

a) maßgeblicher Stichtag für Übergangsregelungen der 3. Juli 1988 zu sein hat

oder

b) die Mitgliedstaaten bei Übergangsregelungen auf das spätere Inkrafttreten ihrer nationalen Umsetzungsmaßnahmen abstellen dürfen?

3) Wenn Frage 2 im Sinne von b zu beantworten ist:

Ist der Begriff des Projekts in Artikel 1, 3, 4, Anhang I Nr. 7 der Richtlinie bei seiner Anwendung auf Autobahnen und Schnellstrassen so zu verstehen, daß die Umweltverträglichkeit

a) lediglich für den zur Genehmigung gestellten Abschnitt einer Strassenverbindung

oder

b) über den räumlichen Bereich dieses Abschnitts hinaus für die Strassenverbindung insgesamt zu prüfen ist?

Zu den ersten beiden Fragen

16 Wie in Randnummer 13 aufgezeigt, ergibt sich aus dem Vorlagebeschluß, daß das Verfahren, das zu den beiden Planfeststellungsbeschlüssen führte, die Gegenstand der Ausgangsverfahren sind, nach dem 3. Juli 1988, dem Tag des Ablaufs der Frist für die Umsetzung der Richtlinie, eingeleitet wurde. Unter Berücksichtigung dieses Umstands sind die ersten beiden Fragen zu prüfen.

17 Diese Fragen des vorlegenden Gerichts gehen dahin, ob Artikel 12 Absatz 1 der Richtlinie gestattet, daß ein Mitgliedstaat, der die Richtlinie nach dem 3. Juli 1988, dem Tag des Ablaufs der Umsetzungsfrist, in seine nationale Rechtsordnung umgesetzt hat, Projekte, für die das Genehmigungsverfahren vor Inkrafttreten des nationalen Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie, aber nach dem 3. Juli 1988 eingeleitet wurde, durch eine Übergangsvorschrift von der in der Richtlinie vorgeschriebenen Umweltverträglichkeitsprüfung ausnimmt.

18 In der Richtlinie findet sich kein Anhaltspunkt dafür, daß die Mitgliedstaaten ermächtigt wären, Projekte, für die das Genehmigungsverfahren nach dem Stichtag des 3. Juli 1988 eingeleitet wurde, von der Umweltverträglichkeitsprüfung auszunehmen. Vielmehr gehen alle Vorschriften der Richtlinie davon aus, daß die Richtlinie spätestens am 3. Juli 1988 in die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten umgesetzt werden müsse.

19 Daher steht die Richtlinie, unabhängig von der Frage, ob sie es einem Mitgliedstaat gestattet, eine Übergangsregelung für vor dem Stichtag des 3. Juli 1988 begonnene und bereits in Gang befindliche Genehmigungsverfahren einzuführen, jedenfalls für nach diesem Zeitpunkt begonnene Verfahren der Einführung einer Regelung der in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Art durch ein nationales Gesetz entgegen, das die Richtlinie unter Verstoß gegen deren Vorschriften verspätet in die interne Rechtsordnung umsetzt. Eine derartige Auslegung würde zu einem Aufschub des Stichtages des 3. Juli 1988 führen und stuende im Widerspruch zu den sich aus der Richtlinie ergebenden Verpflichtungen.

20 Somit ist auf die ersten beiden Fragen zu antworten, daß Artikel 12 Absatz 1 der Richtlinie es nicht gestattet, daß ein Mitgliedstaat, der die Richtlinie nach dem 3. Juli 1988, dem Tag des Ablaufs der Umsetzungsfrist, in seine nationale Rechtsordnung umgesetzt hat, Projekte, für die das Genehmigungsverfahren vor Inkrafttreten des nationalen Gesetzes zur Umsetzung dieser Richtlinie, aber nach dem 3. Juli 1988 eingeleitet wurde, durch eine Übergangsvorschrift von der der in der Richtlinie vorgeschriebenen Umweltverträglichkeitsprüfung ausnimmt.

Zur dritten Frage

21 Die dritte Frage ist nur für den Fall gestellt, daß die Antwort auf die ersten beiden Fragen gegenteilig ausgefallen wäre. Da der Gerichtshof nicht in dieser Weise geantwortet hat, braucht die dritte Frage nicht beantwortet zu werden.

Kostenentscheidung:

Kosten

22 Die Auslagen der Regierung des Vereinigten Königreichs, der deutschen und der niederländischen Regierung sowie der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Beteiligten der Ausgangsverfahren ist das Verfahren ein Zwischenstreit in den bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreitigkeiten; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

auf die ihm vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof mit Beschluß vom 5. November 1992 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

Artikel 12 Absatz 1 der Richtlinie 85/337/EWG des Rates vom 27. Juni 1985 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten gestattet es nicht, daß ein Mitgliedstaat, der diese Richtlinie nach dem 3. Juli 1988, dem Tag des Ablaufs der Umsetzungsfrist, in seine nationale Rechtsordnung umgesetzt hat, Projekte, für die das Genehmigungsverfahren vor Inkrafttreten des nationalen Gesetzes zur Umsetzung dieser Richtlinie, aber nach dem 3. Juli 1988 eingeleitet wurde, durch eine Übergangsvorschrift von der in der Richtlinie vorgeschriebenen Umweltverträglichkeitsprüfung ausnimmt.

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