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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 07.12.1995
Aktenzeichen: C-41/95
Rechtsgebiete: EG-Vertrag, EAG-Vertrag


Vorschriften:

EG-Vertrag Art. 203 Abs. 9
EG-Vertrag Art. 173 Abs. 5
EG-Vertrag Art. 174 Abs. 2
EAG-Vertrag Art. 147 Abs. 2
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Nach dem Vertrag muß zwar die Festlegung des Hoechstsatzes der nichtobligatorischen Ausgaben durch die Kommission nach objektiven Gesichtspunkten erfolgen, jedoch ist für die Änderung dieses Satzes kein Kriterium vorgesehen. Nach Artikel 203 Absatz 9 Unterabsatz 5 genügt es, daß Rat und Parlament sich einigen. Angesichts der Bedeutung einer solchen Einigung, die den beiden Organen bei einvernehmlichem Vorgehen die Möglichkeit gibt, die Mittelansätze für die nichtobligatorischen Ausgaben über den von der Kommission festgestellten Satz hinaus zu erhöhen, reicht es für die Annahme einer Einigung nicht aus, daß der entsprechende Wille des einen oder des anderen Organs vermutet wird, und eine solche Einigung liegt tatsächlich nicht vor, wenn sich die beiden Organe über den Gesamtbetrag derjenigen Ausgaben, die als nichtobligatorisch anzusehen sind, und damit über die Bemessungsgrundlage für den Hoechstsatz nicht geeinigt haben.

Folglich ist die Feststellung des Präsidenten des Parlaments, daß der Haushaltsplan endgültig festgestellt sei, rechtswidrig und der Haushaltsplan damit unwirksam, wenn der Rat es durch seinen Präsidenten abgelehnt hat, dem neuen Satz für die Erhöhung der nichtobligatorischen Ausgaben, wie sie vom Parlament klassifiziert worden waren, zuzustimmen.

2. Stellt der Gerichtshof im Rahmen eines Verfahrens gemäß Artikel 173 EG-Vertrag und Artikel 146 EAG-Vertrag die Unwirksamkeit des Haushaltsplans für ein bestimmtes Haushaltsjahr zu einem Zeitpunkt fest, in dem bereits ein wesentlicher Teil dieses Haushaltsjahrs abgelaufen ist, so ist es, da die Kontinuität des europäischen öffentlichen Dienstes gewährleistet werden muß, ebenso wie aus wichtigen Gründen der Rechtssicherheit, die denen ähnlich sind, die im Fall der Nichtigerklärung bestimmter Verordnungen zu berücksichtigen sind, gerechtfertigt, daß der Gerichtshof von der ihm in Artikel 174 Absatz 2 EG-Vertrag und in Artikel 147 Absatz 2 EAG-Vertrag ausdrücklich verliehenen Befugnis Gebrauch macht, die Wirkungen des betreffenden Haushaltsplans zu bezeichnen, die als fortgeltend zu betrachten sind.


Urteil des Gerichtshofes vom 7. Dezember 1995. - Rat der Europäischen Union gegen Europäisches Parlament. - Haushaltsplan. - Rechtssache C-41/95.

Entscheidungsgründe:

1 Der Rat der Europäischen Union hat mit Klageschrift, die am 17. Februar 1995 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 173 EG-Vertrag und Artikel 146 EAG-Vertrag beantragt, die Feststellung des Präsidenten des Europäischen Parlaments vom 15. Dezember 1994, daß der Gesamthaushaltsplan der Europäischen Union für das Haushaltsjahr 1995 endgültig festgestellt ist (ABl. L 369, S. 1), für nichtig zu erklären.

2 Das Parlament nahm in seiner ersten Lesung des Entwurfs für den Haushaltsplan 1995 am 25. und 27. Oktober 1994 131 Abänderungen zu Mitteln des Teileinzelplans B1 (EAGFL Garantie ) und des Mittelansatzes B7-800 (Internationale Fischerei-Abkommen) an, die im Entwurf des Haushaltsplans als obligatorische Ausgaben bezeichnete Ausgaben betrafen.

3 Zu jedem der betroffenen Mittelansätze des Teileinzelplans B1 fügte das Parlament unter der Überschrift Erläuterung den folgenden Satz hinzu: Die Haushaltsbehörde ist der Auffassung, daß die Grundverordnungen der Kommission bei der Durchführung dieser Maßnahme einen Ermessensspielraum lassen. Die Ausführung dieser Maßnahme erfolgt im Einklang mit Artikel 5 Absatz 2 der Haushaltsordnung. Auf diese Erklärung folgt eine Begründung , die wie folgt abgefasst ist: Das Parlament vertritt die Ansicht, daß die dieser Maßnahme zugrundeliegenden Verordnungen der Kommission die Flexibilität lassen, diese Maßnahme im Rahmen der von der Haushaltsbehörde eingesetzten Mittel zu verwirklichen.

4 Zum Mittelansatz B7-800 fügte das Parlament unter der Überschrift Erläuterung folgenden Absatz ein: Veranschlagt sind auch Mittel von 1 Mio. ECU zur Deckung der Ausgaben eines Fischereiabkommens, das die Gemeinschaft mit Rußland zur Finanzierung der Übergabefischerei [sic] bei Hering aushandeln wird.

5 Der Rat lehnte in seiner zweiten Lesung des Entwurfs für den Haushaltsplan am 16. November 1994 die vom Parlament vorgeschlagenen Abänderungen mit der Begründung ab, diese stellten in Wirklichkeit Änderungsvorschläge in bezug auf obligatorische Ausgaben dar. Mit Schreiben vom 2. Dezember 1994 wies der Präsident des Rates den Präsidenten des Parlaments darauf hin, daß der Rat schon immer den Standpunkt vertreten habe, daß es sich bei den unter die Agrarleitlinie fallenden Ausgaben um obligatorische Ausgaben handle.

6 Das Parlament erklärte in seiner zweiten Lesung des Entwurfs für den Haushaltsplan 1995 am 13. und 15. Dezember 1994, daß es alle Abänderungen , die der Rat als Änderungsvorschläge angesehen habe, aufrechterhalte.

7 Am 13. Dezember 1994 erklärte der Präsident des Rates vor dem Parlament, daß der Rat die Änderung der Klassifizierung der Ausgaben, die das Parlament vorgenommen habe, nicht akzeptieren könne, da die weit überwiegende Mehrheit der Ausgaben, die unter die betroffenen Haushaltslinien fielen, im Rahmen der Gemeinsamen Erklärung des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission vom 30. Juni 1982 über verschiedene Maßnahmen zur Gewährleistung einer besseren Abwicklung des Haushaltsverfahrens (ABl. C 194, S. 1; nachstehend: Erklärung von 1982) als obligatorische Ausgaben klassifiziert worden sei, und daß die Klassifizierung dieser Ausgaben im Rahmen der Verhandlungen über die Interinstitutionelle Vereinbarung zur Haushaltsdisziplin und zur Verbesserung des Haushaltsverfahrens (ABl. C 331, S. 1; nachstehend: Vereinbarung von 1993) unverändert geblieben sei.

8 Am 15. Dezember 1994 stellte der Präsident des Parlaments fest, daß der Haushaltsplan 1995 endgültig festgestellt sei.

9 Der Präsident des Rates erklärte bei diesem Anlaß vor dem Parlament:

... Der Standpunkt des Rates in dieser Frage ist dem Parlament mit Schreiben des Ratspräsidenten vom 2. Dezember 1994 und von mir in meiner Erklärung vom 13. Dezember 1994 dargelegt worden. Ich sehe mich deshalb veranlasst, zu erklären, daß sich der Rat diesbezueglich alle Rechte vorbehält. Gleichzeitig möchte ich darauf hinweisen, daß die Zustimmung des Rates zu dem neuen Satz für die nichtobligatorischen Ausgaben auf der Grundlage der dargelegten Haltung des Rates erfolgt.

10 Der Präsident des Parlaments gab daraufhin folgende Erklärung ab: Trotz der Meinungsverschiedenheiten zu einigen Punkten stelle ich fest, daß im Sinne von Artikel 203 EG-Vertrag eine Übereinstimmung mit dem Rat über einen neuen Hoechstsatz erzielt wurde. Das Haushaltsverfahren kann somit erfolgreich abgeschlossen werden.

11 In der vorliegenden Klage trägt der Rat zwei Rügen gegen das Parlament vor:

12 Erstens habe das Parlament gegen Artikel 203 Absatz 4 Unterabsatz 2, Absätze 5 und 6 EG-Vertrag verstossen, indem es im Wege der Abänderung über Linien des vom Rat erstellten Entwurfs des Haushaltsplans entschieden habe, die als obligatorische Ausgaben klassifizierte Ausgaben betroffen hätten, bei denen es nach diesem Artikel nur im Wege von Änderungsvorschlägen hätte handeln können.

13 Zweitens wirft der Rat dem Parlament vor, es habe gegen die Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit der Gemeinschaftsorgane verstossen, indem es einseitig und willkürlich eine Umklassifizierung von obligatorischen und nichtobligatorischen Ausgaben vorgenommen habe, was gegen die im Rahmen der Erklärung von 1982 und der Vereinbarung von 1993 eingegangenen Verpflichtungen verstosse.

14 Das Parlament macht dagegen geltend, daß die obligatorischen Ausgaben diejenigen Ausgaben seien, die im Entwurf des Haushaltsplans des Rates enthalten seien und zu denen das Parlament in erster Lesung Änderungen vorschlagen dürfe, während die nichtobligatorischen Ausgaben Gegenstand von Abänderungen durch das Parlament seien. Wenn der Rat in zweiter Lesung mit Änderungen des Entwurfs des Haushaltsplans konfrontiert sei, die das Parlament als Abänderungen ansehe, während der Rat die fraglichen Mittelansätze zu den obligatorischen Ausgaben zähle, so behandle er diese Abänderungen als Änderungen und lehne sie im allgemeinen ab. Halte das Parlament jedoch in zweiter Lesung an diesen Abänderungen fest, so stufe es den betreffenden Mittelansatz endgültig als nichtobligatorische Ausgabe ein.

15 Ausserdem habe das Parlament bei der Prüfung des Gesamthaushaltsplans die Vereinbarung von 1993 voll eingehalten und die eingegangenen Verpflichtungen zu keiner Zeit und in keiner Weise in Frage gestellt oder gegen sie verstossen. Die Erklärung von 1982 sei zwar noch in Kraft, aber weitgehend überholt, da der Grossteil der heutigen Haushaltslinien nicht mehr denen von 1982 entspreche und da die Vereinbarung von 1993 das Verfahren der interinstitutionellen Zusammenarbeit geändert habe.

16 Zunächst sind diejenigen Bestimmungen des Artikels 203 EG-Vertrag zu erörtern, die durch den vorliegenden Rechtsstreit betroffen sind.

17 Artikel 203 Absatz 9 betrifft das Verfahren, das für die Festlegung der sogenannten nichtobligatorischen Ausgaben, also derjenigen Ausgaben gilt, die sich nicht zwingend aus dem EG-Vertrag oder den aufgrund des EG-Vertrags erlassenen Rechtsakten ergeben.

18 Aus Artikel 203 Absatz 4 Unterabsatz 2, Absatz 5 Buchstabe a und Absatz 6 ergibt sich für die nichtobligatorischen Ausgaben, daß das Parlament berechtigt ist, den Haushaltsplan abzuändern, daß der Rat jede so vorgenommene Abänderung ändern kann, daß aber das Parlament in seiner zweiten Lesung des Entwurfs des Haushaltsplans in seiner durch den Rat geänderten Fassung die Änderungen, die vom Rat an seinen Abänderungen vorgenommen wurden, ändern oder ablehnen kann.

19 Dagegen kann das Parlament bei den obligatorischen Ausgaben in erster Lesung zwar Änderungen des vom Rat erstellten Haushaltsplans vorschlagen, ist aber nicht berechtigt, die Entscheidung des Rates über diese Änderungsvorschläge wieder umzustossen.

20 Ausserdem begrenzt Artikel 203 Absatz 9 den Umfang, in dem die nichtobligatorischen Ausgaben gegenüber den gleichartigen Ausgaben des Vorjahreshaushalts erhöht werden können. Dieser Umfang bestimmt sich nach einem Hoechstsatz , den die Gemeinschaftsorgane gemäß Artikel 203 Absatz 9 Unterabsatz 3 im Haushaltsverfahren einzuhalten haben.

21 Gemäß Artikel 203 Absatz 9 Unterabsatz 2 wird dieser Hoechstsatz von der Kommission jährlich nach folgenden drei objektiven Gesichtspunkten festgelegt: der Entwicklung des in Volumen ausgedrückten Bruttosozialprodukts in der Gemeinschaft, der durchschnittlichen Veränderung der Haushaltspläne der Mitgliedstaaten und der Entwicklung der Lebenshaltungskosten während des letzten Haushaltsjahres.

22 Ist das Parlament, der Rat oder die Kommission der Ansicht, daß die Tätigkeiten der Gemeinschaft eine Überschreitung dieses Hoechstsatzes erforderlich machen, so kann gemäß Absatz 9 Unterabsatz 5 in Übereinstimmung zwischen dem Rat und dem Parlament ein neuer Satz festgelegt werden.

23 Wie der Gerichtshof bereits festgestellt hat, muß nach dem Vertrag zwar die Festlegung des Hoechstsatzes durch die Kommission nach objektiven Gesichtspunkten erfolgen, jedoch ist für die Änderung dieses Satzes kein Kriterium vorgesehen. Nach Artikel 203 Absatz 9 Unterabsatz 5 genügt es, daß Rat und Parlament sich einigen. Angesichts der Bedeutung einer solchen Einigung, die den beiden Organen bei einvernehmlichem Vorgehen die Möglichkeit gibt, die Mittelansätze für die nichtobligatorischen Ausgaben über den von der Kommission festgestellten Satz hinaus zu erhöhen, reicht es für die Annahme einer Einigung nicht aus, daß der entsprechende Wille des einen oder des anderen Organs vermutet wird (Urteil vom 3. Juli 1986 in der Rechtssache 34/86, Rat/Parlament, Slg. 1986, 2155, Randnr. 34).

24 Im vorliegenden Fall steht fest, daß die Mittel, die im Haushaltsplan für das Haushaltsjahr 1995, wie er vom Präsidenten des Parlaments gemäß Artikel 203 Absatz 7 festgestellt worden ist, für alle sich nicht zwingend aus dem EG-Vertrag oder den aufgrund des EG-Vertrags erlassenen Rechtsakten ergebenden Ausgaben eingesetzt sind, den Hoechstsatz im Sinne des Artikels 203 Absatz 9 Unterabsatz 1, um den die gleichartigen Ausgaben des Haushaltsjahres 1994 erhöht werden können, überschreiten.

25 Nach der genannten Bestimmung durfte der Haushaltsplan vom Präsidenten des Parlaments daher nur festgestellt werden, wenn in Übereinstimmung zwischen dem Rat und dem Parlament ein neuer Hoechstsatz festgelegt war.

26 Eine Einigung über den Hoechstsatz kann jedoch nur vorliegen, wenn Parlament und Rat sich über den Gesamtbetrag derjenigen Ausgaben geeinigt haben, die als nichtobligatorisch anzusehen sind. Denn dieser Betrag ist hierfür die Grundlage.

27 Das Parlament macht hierzu erstens geltend, aus den Vorgängen in der Plenarsitzung vom 15. Dezember 1994, die sowohl im Protokoll dieser Sitzung als auch in dem ausführlichen Sitzungsbericht festgehalten seien, ergebe sich, daß der amtierende Präsident des Rates den neuen Sätzen nicht nur öffentlich vor dem Parlament mündlich zugestimmt habe, was den Präsidenten des Parlaments berechtigt habe, die endgültige Feststellung des Haushaltsplans festzustellen, sondern sich darüber hinaus während der ganzen Tagung, die mit der Unterschrift des Präsidenten zu Ende gegangen sei, vor den Augen aller so verhalten habe, als sei er mit dem Präsidenten des Parlaments völlig eins.

28 Dem ist nicht zu folgen.

29 Erstens hat der Präsident des Rates den Präsidenten des Parlaments mit Schreiben vom 2. Dezember 1994 auf den Standpunkt des Rates hingewiesen, daß die Ausgaben, die durch die Agrarleitlinie gedeckt seien, entsprechend der Erklärung von 1982 und der Vereinbarung von 1993 als obligatorische Ausgaben anzusehen seien.

30 Sodann hat der Präsident des Rates am 13. Dezember 1994 vor dem Parlament erklärt, der Rat könne nicht akzeptieren, daß von der Klassifizierung der betreffenden Ausgaben als obligatorische Ausgaben abgewichen werde, da im Rahmen der Vereinbarung von 1993 vereinbart worden sei, daß sämtliche Ausgaben der Ansätze 2 und 3 künftig als nichtobligatorisch eingestuft würden, die Klassifizierung aller anderen Ausgaben einschließlich jener des Ansatzes 1, um den es hier geht, aber unverändert bleibe.

31 Schließlich hat der amtierende Präsident des Rates in der Erklärung, die er vor der Unterzeichnung des Haushaltsplans durch den Präsidenten des Parlaments abgab, die dessen endgültige Feststellung zur Folge hatte, festgestellt, daß der Rat sich in der Angelegenheit alle Rechte vorbehalte, und auf das Schreiben vom 2. Dezember 1994 sowie auf die Erklärung vom 13. Dezember 1994 verwiesen.

32 Der Rat hat somit dem neuen Satz für die Erhöhung der nichtobligatorischen Ausgaben, wie sie vom Parlament klassifiziert worden waren, nicht zugestimmt.

33 Zweitens macht das Parlament geltend, daß der Rat nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet sei, bei der geringsten Unklarheit über das Vorliegen seiner Zustimmung tätig zu werden, weil im Fall des Artikels 203 Absatz 9 Unterabsatz 5 EG-Vertrag die Rechtmässigkeit der Feststellung des Präsidenten, daß der Haushaltsplan endgültig festgestellt sei, von der Haltung des Rates abhänge. Entgegen dem Vorbringen des Rates könne das Verhalten seines Präsidenten bei der endgültigen Feststellung des Haushaltsplans nicht als blosses Befolgen diplomatischer Höflichkeitsregeln angesehen werden.

34 Auch dem ist nicht zu folgen. Nach dem Wortlaut von Artikel 203 Absatz 10 EG-Vertrag übt jedes Organ die ihm auf dem Gebiet des Haushaltsrechts übertragenen Befugnisse unter Beachtung der Vorschriften des EG-Vertrags aus. Da der Rat dem neuen Satz für die Erhöhung der nichtobligatorischen Ausgaben, wie sie vom Parlament klassifiziert worden waren, nicht zugestimmt hatte, kann dieses nicht geltend machen, daß der Präsident des Rates dessen Standpunkt, wie er im Schreiben vom 2. Dezember 1994 und in der Erklärung vom 13. Dezember 1994 zum Ausdruck gebracht worden war, geändert habe, indem er sich nach Abgabe der in Randnummer 31 genannten Erklärung gegenüber dem Parlament an die Regeln der Höflichkeit gehalten habe.

35 Schließlich macht das Parlament geltend, der Rat hätte, anstatt bei Ablauf der Frist des Artikels 173 Absatz 5 EG-Vertrag den Gerichtshof anzurufen, den Mangel, mit dem die Feststellung des Präsidenten, daß der Haushaltsplan 1995 endgültig festgestellt sei, behaftet gewesen sei, sofort nach Zugang dieser Feststellung mitteilen müssen.

36 Artikel 173 Absatz 5 schreibt als Frist für die Anrufung des Gerichtshofes nur vor, daß die in diesem Artikel vorgesehenen Klagen binnen zwei Monaten zu erheben sind, wobei diese Frist je nach Lage des Falles von der Bekanntgabe der betreffenden Handlung, ihrer Mitteilung an den Kläger oder in Ermangelung dessen von dem Zeitpunkt an läuft, zu dem der Kläger von dieser Handlung Kenntnis erlangt hat.

37 Nach alledem erging die Feststellung des Präsidenten des Parlaments vom 15. Dezember 1994, daß der Haushaltsplan 1995 endgültig festgestellt sei, zu einem Zeitpunkt, als das Haushaltsverfahren wegen fehlender Übereinstimmung zwischen den beiden Organen über die Bemessungsgrundlage für den neuen Hoechstsatz noch nicht abgeschlossen war. Diese Feststellung ist daher rechtswidrig.

Zu den Folgen der festgestellten Rechtswidrigkeit

38 Der Rat beantragt ausserdem, den Haushaltsplan, wie er vom Parlament am 15. Dezember 1994 festgestellt wurde, für nichtig zu erklären.

39 Nach Auffassung des Parlaments ist dieser Antrag unzulässig, da überfluessig, wenn die Feststellung des Präsidenten des Parlaments vom 15. Dezember 1994 für nichtig erklärt werde.

40 Die Nichtigerklärung des Rechtsakts des Präsidenten des Parlaments vom 15. Dezember 1994 beruht auf dem Umstand, daß dieser die Feststellung gemäß Artikel 203 Absatz 7, daß der Haushaltsplan endgültig festgestellt sei, getroffen hatte, obwohl die beiden Organe sich weder über einen neuen Hoechstsatz noch über den Gesamtbetrag der nichtobligatorischen Ausgaben, der dafür die Grundlage ist, geeinigt hatten. Da diese wesentliche Einigung nicht vorlag, konnte der Präsident des Parlaments nicht rechtmässig feststellen, daß der Haushaltsplan endgültig festgestellt sei, so daß diese Feststellung für nichtig zu erklären ist.

41 Die Nichtigerklärung des Rechtsakts des Präsidenten des Parlaments hat zur Folge, daß der Haushaltsplan 1995 unwirksam ist. Daher ist über den Antrag des Rates auf Nichtigerklärung des Haushaltsplans nicht zu entscheiden.

42 Es ist Sache des Rates und des Parlaments, die sich aus diesem Urteil ergebenden Maßnahmen zu ergreifen und das Haushaltsverfahren in dem Stand wiederaufzunehmen, in dem das Parlament in zweiter Lesung erklärt hat, alle vom Rat als Änderungsvorschläge angesehenen Abänderungen aufrechtzuerhalten.

Zu den zeitlichen Wirkungen dieses Urteils

43 Die Feststellung der Unwirksamkeit des Haushaltsplans 1995 erfolgt zu einem Zeitpunkt, in dem bereits ein wesentlicher Teil des Haushaltsjahrs 1995 abgelaufen ist.

44 Da die Kontinuität des europäischen öffentlichen Dienstes gewährleistet werden muß, ist es daher ebenso wie aus wichtigen Gründen der Rechtssicherheit, die denen ähnlich sind, die im Fall der Nichtigerklärung bestimmter Verordnungen zu berücksichtigen sind, gerechtfertigt, daß der Gerichtshof von der ihm in Artikel 174 Absatz 2 EG-Vertrag und in Artikel 147 Absatz 2 EAG-Vertrag für den Fall der Nichtigerklärung einer Verordnung ausdrücklich verliehenen Befugnis Gebrauch macht, die Wirkungen des Haushaltsplans 1995 zu bezeichnen, die als fortgeltend zu betrachten sind.

45 In Anbetracht der besonderen Umstände des vorliegenden Falles sind die Wirkungen des Haushaltsplans 1995, wie er im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften veröffentlicht ist, bis zu dem Zeitpunkt aufrechtzuerhalten, zu dem dieser endgültig festgestellt wird.

Kostenentscheidung:

Kosten

46 Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da das Parlament mit seinem Vorbringen unterlegen ist, sind ihm die Kosten aufzuerlegen.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

für Recht erkannt und entschieden:

1) Die Feststellung des Präsidenten des Europäischen Parlaments vom 15. Dezember 1994, daß der Gesamthaushaltsplan der Europäischen Union für das Haushaltsjahr 1995 endgültig festgestellt ist, wird für nichtig erklärt.

2) Die Wirkungen des Haushaltsplans 1995, wie er im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften veröffentlicht worden ist, werden bis zu dem Zeitpunkt aufrechterhalten, zu dem dieser endgültig festgestellt wird.

3) Im übrigen wird die Klage abgewiesen.

4) Das Parlament trägt die Kosten des Verfahrens.

Ende der Entscheidung

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