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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 13.12.1990
Aktenzeichen: C-42/90
Rechtsgebiete: EWGV


Vorschriften:

EWGV Art. 177
EWGV Art. 30
EWGV Art. 36
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Die Artikel 30 und 36 EWG-Vertrag verwehren es einem Mitgliedstaat nicht, das Inverkehrbringen von Lebensmitteln, die aus einem anderen Mitgliedstaat, in dem sie rechtmässig hergestellt und in den Verkehr gebracht worden sind, eingeführt werden und denen einer der in der Anlage zur Richtlinie 64/54 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten für konservierende Stoffe, die in Lebensmitteln verwendet werden dürfen, aufgeführten Stoffe zugesetzt worden ist, zu verbieten, sofern der Grundsatz der Verhältnismässigkeit beachtet wird, der Artikel 36 Satz 2 EWG-Vertrag zugrunde liegt. Dies setzt voraus, daß im Einfuhrmitgliedstaat das Inverkehrbringen in einem leicht zugänglichen Verfahren, das innerhalb eines angemessenen Zeitraums abgeschlossen werden kann, zugelassen wird, wenn der Zusatz des betreffenden Stoffes einem echten Bedürfnis, insbesondere technologischer Art, entspricht und keine Gefahr für die öffentliche Gesundheit darstellt. Es ist Sache der zuständigen nationalen Stellen, in jedem Einzelfall unter Berücksichtigung der nationalen Ernährungsgewohnheiten und der Ergebnisse der internationalen wissenschaftlichen Forschung darzutun, daß die von ihnen erlassene Regelung erforderlich ist, um die in Artikel 36 EWG-Vertrag genannten Rechtsgüter wirksam zu schützen.


URTEIL DES GERICHTSHOFES (ERSTE KAMMER) VOM 13. DEZEMBER 1990. - STRAFVERFAHREN GEGEN JEAN-CLAUDE BELLON. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: TRIBUNAL DE GRANDE INSTANCE DE MARSEILLE - FRANKREICH. - FREIER WARENVERKEHR - AUSNAHMEN - GESUNDHEITSSCHUTZ - REGELUNG UEBER DIE VERWENDUNG VON KONSERVIERENDEN STOFFEN UND LEBENSMITTELZUSAETZEN. - RECHTSSACHE C-42/90.

Entscheidungsgründe:

1 Das Tribunal de grande instance Marseille hat mit Urteil vom 20. November 1987, bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen am 15. Februar 1990, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung der Richtlinie 64/54/EWG des Rates vom 5. November 1963 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten für konservierende Stoffe, die in Lebensmitteln verwendet werden dürfen (ABl. 1964, Nr. 12, S. 161), sowie der Artikel 30 und 36 EWG-Vertrag zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Frage stellt sich in einem Strafverfahren gegen den Geschäftsführer der Firma SARL Bellon Import. Diese hatte aus Italien Backwaren nach Frankreich eingeführt und dort in den Handel gebracht, die in Italien unter der Bezeichnung "Panettone" hergestellt worden waren und das nach italienischem Recht zulässige Konservierungsmittel Sorbinsäure enthielten.

3 Aus den Akten ergibt sich, daß die anwendbare französische Regelung (Dekret vom 15. April 1912, JORF vom 29. 6. 1912) die Verwendung von Stoffen, die nicht zuvor durch interministerielle Verordnung ausdrücklich zugelassen worden sind, in Lebensmitteln untersagt. Ein Rundschreiben vom 8. August 1980 (JORF vom 25. 9. 1980) regelt den Inhalt der Zulassungsanträge, die namentlich darlegen müssen, welchen Nutzen dieser Stoff für Verwender und Verbraucher bietet, und die die Unschädlichkeit dieses Stoffes unter normalen Verwendungsbedingungen dartun müssen.

4 Das mit dem Strafverfahren befasste Tribunal de grande instance Marseille hat das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

"Steht es im Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht, die Einfuhr eines in einem anderen Mitgliedstaat rechtmässig hergestellten und in den Verkehr gebrachten Lebensmittels in Frankreich mit der Begründung zu verbieten, daß es Sorbinsäure enthalte, einen nach der Richtlinie 64/54/EWG vom 5. November 1963, ergänzt und geändert durch die Richtlinie 67/427/EWG vom 27. Juni 1967, die Richtlinie 71/160/EWG vom 30. März 1971 sowie die Richtlinie 74/62/EWG vom 17. Dezember 1973, zulässigen Konservierungsstoff, dessen Verwendung nach den französischen Rechtsvorschriften nur für bestimmte, abschließend aufgezählte Lebensmittel zulässig ist, ohne daß dafür ein zwingender Grund angegeben ist?"

5 Wegen weiterer Einzelheiten des Ausgangsverfahrens, des Verfahrensablaufs sowie der beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

6 Vorab ist darauf hinzuweisen, daß der Gerichtshof im Rahmen des Artikels 177 EWG-Vertrag zwar nicht über die Vereinbarkeit innerstaatlicher Rechtsvorschriften mit dem Vertrag entscheiden kann, wohl aber dafür zuständig ist, dem vorlegenden Gericht alle Hinweise zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts an die Hand zu geben, die dieses in die Lage versetzen, zur Entscheidung der ihm vorliegenden Sache über diese Vereinbarkeit zu befinden.

7 Die Vorabentscheidungsfrage ist daher so zu verstehen, daß es darum geht, ob die Artikel 30 und 36 EWG-Vertrag dahin gehend auszulegen sind, daß sie es einem Mitgliedstaat verwehren, in Anwendung einzelstaatlicher Vorschriften über die Bekämpfung von Irreführungen und Verfälschungen im Lebensmittelhandel das Inverkehrbringen eines in einem anderen Mitgliedstaat rechtmässig hergestellten Erzeugnisses in seinem Hoheitsgebiet zu untersagen, wenn es den Konservierungsstoff Sorbinsäure enthält, dessen Verwendung nach der genannten Richtlinie 64/54 zulässig ist.

8 Zunächst ist festzustellen, daß gemäß Artikel 1 der mehrfach geänderten Richtlinie 64/54 die Mitgliedstaaten zum Schutz der Lebensmittel gegen den Verderb durch Mikroorganismen nur die in der Anlage zu dieser Richtlinie aufgeführten konservierenden Stoffe, zu denen auch Sorbinsäure gehört, zulassen dürfen.

9 Nach ihren Begründungserwägungen stellt die Richtlinie lediglich ein erstes Stadium der Angleichung der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften in diesem Bereich dar. In diesem Stadium sind die Mitgliedstaaten also nicht verpflichtet, alle in der Anlage zur Richtlinie aufgeführten Stoffe zuzulassen. Sie können jedoch ihre Freiheit, Regeln über den Zusatz von Konservierungsstoffen zu Lebensmitteln festzulegen, nur unter der zweifachen Voraussetzung ausüben, daß kein in der Anlage zur Richtlinie nicht aufgeführter Konservierungsstoff zugelassen und kein dort aufgeführter Konservierungsstoff - ausser in den besonderen Fällen, in denen die Verwendung eines solchen Stoffes in Lebensmitteln, die in ihrem Hoheitsgebiet erzeugt und verbraucht werden, keinem technologischen Bedürfnis entspricht - vollkommen verboten wird (vgl. die Urteile vom 12. Juni 1980 in der Rechtssache 88/79, Grunert, Slg. 1980, 1827, und vom 5. Februar 1981 in der Rechtssache 108/80, Kugelmann, Slg. 1981, 433).

10 Da es im Ausgangsverfahren um Erzeugnisse geht, die aus einem anderen Mitgliedstaat, in dem sie rechtmässig hergestellt und in den Verkehr gebracht werden, eingeführt wurden, ist festzustellen, daß die Anwendung einer einzelstaatlichen Regelung, wie sie Gegenstand des Ausgangsverfahrens ist, den innergemeinschaftlichen Handel behindert und daher im Grundsatz eine Maßnahme mit gleicher Wirkung wie eine mengenmässige Einfuhrbeschränkung im Sinne des Artikels 30 EWG-Vertrag darstellt. Angesichts der partiellen gemeinschaftlichen Harmonisierung in diesem Bereich ist jedoch zu prüfen, ob eine solche Maßnahme zum Schutz der Gesundheit von Menschen nach Artikel 36 EWG-Vertrag gerechtfertigt sein kann.

11 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes (vgl. insbesondere das Urteil vom 14. Juli 1983 in der Rechtssache 174/82, Sandoz, Slg. 1983, 2445) ist es, soweit beim jeweiligen Stand der Forschung noch Unsicherheiten bestehen, mangels einer vollständigen Harmonisierung Sache der Mitgliedstaaten, unter Berücksichtigung der Erfordernisse des freien Warenverkehrs innerhalb der Gemeinschaft zu bestimmen, in welchem Umfang sie den Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen gewährleisten wollen.

12 Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofes (insbesondere den Urteilen vom 14. Juli 1983 in der Rechtssache 174/82, Sandoz, a. a. O., vom 10. Dezember 1985 in der Rechtssache 247/84, Motte, Slg. 1985, 3887, vom 6. Mai 1986 in der Rechtssache 304/84, Muller, Slg. 1986, 1511, und vom 12. März 1987 in der Rechtssache 178/84, Kommission/Deutschland, Slg. 1987, 1227) ergibt sich ebenfalls, daß unter diesen Umständen das Gemeinschaftsrecht dem Erlaß einer Regelung durch die Mitgliedstaaten nicht entgegensteht, mit der die Verwendung von Zusatzstoffen von einer vorherigen Zulassung abhängig gemacht wird, die durch einen Rechtsakt mit allgemeiner Wirkung für bestimmte Zusatzstoffe erteilt wird und sich auf alle oder nur auf einige Erzeugnisse oder aber auf bestimmte Verwendungszwecke bezieht. Eine solche Regelung entspricht dem legitimen gesundheitspolitischen Ziel, die unkontrollierte Aufnahme von Zusatzstoffen mit der Nahrung einzuschränken.

13 Auf Importwaren dürfen Verkehrsverbote für Erzeugnisse, die im Herstellungsmitgliedstaat zugelassene, aber im Einfuhrmitgliedstaat verbotene Zusatzstoffe enthalten, nur insoweit angewandt werden, als dies mit Artikel 36 EWG-Vertrag in der Auslegung durch den Gerichtshof im Einklang steht.

14 Insoweit ist zunächst darauf hinzuweisen, daß der Gerichtshof in den genannten Urteilen in der Rechtssache 174/82 (Sandoz), 247/84 (Motte), 304/84 (Muller) und 178/84 (Kommission/Deutschland) aus dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit, der Artikel 36 Satz 2 EWG-Vertrag zugrunde liegt, abgeleitet hat, daß Verkehrsverbote für Erzeugnisse, die im Herstellungsmitgliedstaat zugelassene, im Einfuhrmitgliedstaat hingegen verbotene Zusatzstoffe enthalten, auf das Maß dessen zu beschränken sind, was für den Gesundheitsschutz tatsächlich erforderlich ist. Der Gerichtshof hat aus diesem Grundsatz ferner abgeleitet, daß die Verwendung eines bestimmten, in einem anderen Mitgliedstaat zugelassenen Zusatzstoffes im Falle der Einfuhr eines Erzeugnisses aus diesem Mitgliedstaat zugelassen werden muß, wenn sie unter Berücksichtigung der Ergebnisse der internationalen wissenschaftlichen Forschung und insbesondere der Arbeiten des Wissenschaftlichen Lebensmittelausschusses der Gemeinschaft und der Codex-alimentarius-Kommission der FAO und der Weltgesundheitsorganisation sowie der Ernährungsgewohnheiten im Einfuhrmitgliedstaat keine Gefahr für die Gesundheit darstellt und einem echten Bedürfnis, insbesondere technologischer Art, entspricht.

15 Weiter ist daran zu erinnern, daß der Grundsatz der Verhältnismässigkeit, wie der Gerichtshof in den Urteilen in der Rechtssache 304/84 (Muller) und 178/84 (Kommission/Deutschland) festgestellt hat, ausserdem erfordert, daß die Wirtschaftsteilnehmer die Möglichkeit haben müssen, in einem leicht zugänglichen Verfahren, das innerhalb eines angemessenen Zeitraums abgeschlossen werden kann, zu beantragen, daß die Verwendung bestimmter Zusatzstoffe durch einen Rechtsakt von allgemeiner Wirkung zugelassen wird.

16 Dem ist hinzuzufügen, daß es den Wirtschaftsteilnehmern möglich sein muß, gegen die rechtswidrige Versagung einer Zulassung im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens vorzugehen. Wie der Gerichtshof bereits in den genannten Urteilen in den Rechtssachen Muller und Kommission/Deutschland entschieden hat, ist es Sache der zuständigen nationalen Stellen des Einfuhrmitgliedstaats, darzutun, daß das Verbot aus Gründen des Schutzes der Gesundheit der Bevölkerung dieses Mitgliedstaats gerechtfertigt ist; dabei können sie jedoch von den Wirtschaftsteilnehmern die Vorlage der in ihrem Besitz befindlichen Unterlagen verlangen, die für die Beurteilung des Sachverhalts von Nutzen sein könnten.

17 Mithin ist auf die Vorlagefrage zu antworten, daß die Artikel 30 und 36 EWG-Vertrag dahin gehend auszulegen sind, daß sie es einem Mitgliedstaat nicht verwehren, das Inverkehrbringen von Lebensmitteln, die aus einem anderen Mitgliedstaat, in dem sie rechtmässig hergestellt und in den Verkehr gebracht worden sind, eingeführt werden und denen einer der in der Anlage zur Richtlinie 64/54/EWG des Rates vom 5. November 1963 aufgeführten Stoffe zugesetzt worden ist, zu verbieten, sofern im Einfuhrmitgliedstaat das Inverkehrbringen in einem leicht zugänglichen Verfahren, das innerhalb eines angemessenen Zeitraums abgeschlossen werden kann, zugelassen wird, wenn der Zusatz des betreffenden Stoffes einem echten Bedürfnis, insbesondere technologischer Art, entspricht und keine Gefahr für die öffentliche Gesundheit darstellt. Es ist Sache der zuständigen nationalen Stellen, in jedem Einzelfall unter Berücksichtigung der nationalen Ernährungsgewohnheiten und der Ergebnisse der internationalen wissenschaftlichen Forschung darzutun, daß die von ihnen erlassene Regelung erforderlich ist, um die in Artikel 36 EWG-Vertrag genannten Rechtsgüter wirksam zu schützen.

Kostenentscheidung:

Kosten

18 Die Auslagen der Regierung der Französischen Republik und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren vor dem Gerichtshof Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

auf die ihm vom Tribunal de grande instance Marseille mit Urteil vom 20. November 1987 vorgelegte Frage für Recht erkannt:

Die Artikel 30 und 36 EWG-Vertrag sind dahin gehend auszulegen, daß sie es einem Mitgliedstaat nicht verwehren, das Inverkehrbringen von Lebensmitteln, die aus einem anderen Mitgliedstaat, in dem sie rechtmässig hergestellt und in den Verkehr gebracht worden sind, eingeführt werden und denen einer der in der Anlage zur Richtlinie 64/54/EWG des Rates vom 5. November 1963 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten für konservierende Stoffe, die in Lebensmitteln verwendet werden dürfen, aufgeführten Stoffe zugesetzt worden ist, zu verbieten, sofern im Einfuhrmitgliedstaat das Inverkehrbringen in einem leicht zugänglichen Verfahren, das innerhalb eines angemessenen Zeitraums abgeschlossen werden kann, zugelassen wird, wenn der Zusatz des betreffenden Stoffes einem echten Bedürfnis, insbesondere technologischer Art, entspricht und keine Gefahr für die öffentliche Gesundheit darstellt. Es ist Sache der zuständigen nationalen Stellen, in jedem Einzelfall unter Berücksichtigung der nationalen Ernährungsgewohnheiten und der Ergebnisse der internationalen wissenschaftlichen Forschung darzutun, daß die von ihnen erlassene Regelung erforderlich ist, um die in Artikel 36 EWG-Vertrag genannten Rechtsgüter wirksam zu schützen.

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