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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 19.11.1996
Aktenzeichen: C-42/95
Rechtsgebiete: EG-Vertrag, RiLi 77/91 EWG


Vorschriften:

EG-Vertrag Art. 177
RiLi 77/91 EWG Art. 58 Abs. 2
RiLi 77/91 EWG Art. 29
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Die Zweite Richtlinie zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Artikels 58 Absatz 2 des Vertrages im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter für die Gründung der Aktiengesellschaft sowie für die Erhaltung und Änderung ihres Kapitals vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten (77/91), insbesondere ihr Artikel 29 Absätze 1 und 4, steht dem nationalen Recht eines Mitgliedstaats nicht entgegen, das bei Kapitalerhöhungen durch Sacheinlagen ein Bezugsrecht der Aktionäre begründet und die Rechtmässigkeit eines Beschlusses, durch den dieses Bezugsrecht ausgeschlossen wird, einer Inhaltskontrolle unterwirft, die einen stärkeren Schutz der Aktionäre gewährleistet, als Artikel 29 Absatz 4 der Richtlinie für Bareinlagen vorschreibt.

Zwar gilt diese Bestimmung nämlich nicht für Erhöhungen des gezeichneten Kapitals durch Sacheinlagen, doch kann daraus nicht geschlossen werden, daß der Gemeinschaftsgesetzgeber die Einräumung eines Bezugsrechts für die Aktionäre auf Kapitalerhöhungen durch Bareinlagen hätte beschränken wollen und den Mitgliedstaaten damit untersagt hätte, ein solches Bezugsrecht auch bei Kapitalerhöhungen durch Sacheinlagen vorzusehen. Da die Zweite Richtlinie lediglich ein Bezugsrecht für Erhöhungen des gezeichneten Kapitals durch Bareinlagen vorschreibt und keine Regelung für den komplexen, in den meisten Mitgliedstaaten unbekannten Sachverhalt der Ausübung des Bezugsrechts bei Kapitalerhöhungen durch Sacheinlagen enthält, stellt sie es den Mitgliedstaaten im Gegenteil frei, ein Bezugsrecht für den letztgenannten Fall vorzusehen. Eine nationale Regelung, durch die der Grundsatz des Bezugsrechts der Aktionäre auf Erhöhungen des Grundkapitals durch Sacheinlagen ausgedehnt wird, gleichzeitig dieses Recht aber unter bestimmten Voraussetzungen eingeschränkt bzw. ausgeschlossen werden kann, entspricht einem der Ziele der Zweiten Richtlinie, das darin besteht, einen wirksameren Schutz der Aktionäre zu gewährleisten.


Urteil des Gerichtshofes vom 19. November 1996. - Siemens AG gegen Henry Nold. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Bundesgerichtshof - Deutschland. - Gesellschaftsrecht - Kapitalerhöhung - Sacheinlagen - Bezugsrecht der Aktionäre - Ausschluß. - Rechtssache C-42/95.

Entscheidungsgründe:

1 Der Bundesgerichtshof hat mit Beschluß vom 30. Januar 1995, beim Gerichtshof eingegangen am 23. Februar 1995, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung der Zweiten Richtlinie des Rates vom 13. Dezember 1976 zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Artikels 58 Absatz 2 des Vertrages im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter für die Gründung der Aktiengesellschaft sowie für die Erhaltung und Änderung ihres Kapitals vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten (77/91/EWG) (ABl. 1977, L 26, S. 1, im folgenden: Zweite Richtlinie), insbesondere ihres Artikels 29 Absätze 1 und 4, zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen Henry Nold (im folgenden: Kläger) und der Siemens AG, einer Gesellschaft deutschen Rechts (im folgenden: Beklagte). Der Kläger ist Aktionär der Beklagten und ficht einen Beschluß der Hauptversammlung der Beklagten an, durch den der Vorstand ermächtigt wurde, das Grundkapital durch Ausgabe von Stammaktien gegen Geld- oder Sacheinlagen um höchstens einen bestimmten Nominalbetrag zu erhöhen. Aufgrund der Kapitalerhöhung sollen den Arbeitnehmern Aktien angeboten und Beteiligungen an anderen Gesellschaften erworben werden können. In ihrem Beschluß schloß die Hauptversammlung das Bezugsrecht der Aktionäre aus.

3 Wie im Vorlagebeschluß ausgeführt, muß nach deutschem Gesellschaftsrecht bei einer Erhöhung des Grundkapitals durch Bar- oder Sacheinlagen jedem Aktionär auf sein Verlangen ein seinem Anteil an dem bisherigen Grundkapital entsprechender Teil der neuen Aktien zugeteilt werden. Eine der Voraussetzungen für einen Ausschluß dieses Bezugsrechts durch die Hauptversammlung ist die Vorlage eines schriftlichen Berichts durch den Vorstand, in dem der Grund für den Ausschluß angegeben und der vorgeschlagene Ausgabebetrag begründet wird.

4 Ferner unterliegen nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs Hauptversammlungsbeschlüsse, in denen das Bezugsrecht der Aktionäre ausgeschlossen wird, einer Inhaltskontrolle anhand weiterer Voraussetzungen.

5 Nach dem Urteil des Bundesgerichtshofs vom 13. März 1978 (BGHZ 71, 40) kann das Bezugsrecht der Aktionäre nur dann ausgeschlossen werden, wenn dies bei gebührender Berücksichtigung der Folgen für die vom Bezugsrecht ausgeschlossenen Aktionäre durch sachliche Gründe im Interesse der Gesellschaft gerechtfertigt ist. Die Prüfung dieser sachlichen Wirksamkeitsvoraussetzung schließt eine Abwägung der Gesellschafts- und Aktionärsinteressen und der Verhältnismässigkeit von Mittel und Zweck ein.

6 Trifft die Hauptversammlung die Entscheidung über den Bezugsrechtsausschluß im Beschluß selbst, müssen die genannten Voraussetzungen nach dem Urteil des Bundesgerichtshofs vom 19. April 1982 (BGHZ 83, 319) zur Kapitalerhöhung im Rahmen des genehmigten Kapitals bereits zu diesem Zeitpunkt so konkret feststehen und offengelegt werden, daß eine endgültige Beurteilung durch die Hauptversammlung möglich ist.

7 Im vorliegenden Fall geht der Bundesgerichtshof davon aus, daß der Hauptversammlungsbeschluß der Beklagten insoweit den in seiner Rechtsprechung entwickelten Voraussetzungen nicht entspricht und folglich als gesetzwidrig anzusehen ist, als er das Bezugsrecht der Aktionäre bei der Ausgabe von Stammaktien zum Erwerb von Beteiligungen an anderen Gesellschaften ausschließt.

8 Der Bundesgerichtshof hat jedoch Zweifel, ob diese Rechtsprechung mit Artikel 29 der Zweiten Richtlinie vereinbar ist, dessen Absatz 1 ein Bezugsrecht nur für eine Kapitalerhöhung durch Bareinlagen vorsieht, so daß sich die in Absatz 4 getroffene Regelung nicht auf Kapitalerhöhungen durch Sacheinlagen bezieht.

9 Artikel 29 Absätze 1 und 4 lautet:

"(1) Bei jeder Erhöhung des gezeichneten Kapitals durch Bareinlagen müssen die Aktien vorzugsweise den Aktionären im Verhältnis zu dem durch ihre Aktien vertretenen Teil des Kapitals angeboten werden.

...

(4) Dieses Bezugsrecht darf durch die Satzung oder den Errichtungsakt weder beschränkt noch ausgeschlossen werden. Dies kann jedoch durch Beschluß der Hauptversammlung geschehen. Das Verwaltungs- oder Leitungsorgan hat der Hauptversammlung einen schriftlichen Bericht über die Gründe für eine Beschränkung oder einen Ausschluß des Bezugsrechts zu erstatten und den vorgeschlagenen Ausgabekurs zu begründen. Die Hauptversammlung entscheidet nach den Vorschriften, die in Artikel 40 über Beschlußfähigkeit und Mehrheitserfordernisse festgelegt sind. Der Beschluß ist nach den in den Rechtsvorschriften der einzelnen Mitgliedstaaten gemäß Artikel 3 der Richtlinie 68/151/EWG vorgesehenen Verfahren offenzulegen."

10 Nach Auffassung des Bundesgerichtshofs stuende diese Bestimmung der in der Rechtsprechung entwickelten Inhaltskontrolle entgegen, wenn ihr zu entnehmen sein sollte, daß eine Kapitalerhöhung durch Sacheinlagen an keinerlei Voraussetzungen zum Schutz der Aktionäre vor einer Entwertung ihrer Beteiligung gebunden ist, sondern lediglich einer Mißbrauchskontrolle unterliegt. Denn die Anforderungen, die im Wege der Inhaltskontrolle an Hauptversammlungsbeschlüsse gestellt werden, mit denen eine Kapitalerhöhung durch Sacheinlagen unter Ausschluß des Bezugsrechts der Aktionäre vorgenommen wird, sind wesentlich strenger als die an einen solchen Beschluß bei der Mißbrauchskontrolle zu stellenden Anforderungen.

11 Das vorlegende Gericht hat daher das Verfahren ausgesetzt und folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Ist es mit der Zweiten Richtlinie des Rates der Europäischen Gemeinschaften vom 13. Dezember 1976 (77/91/EWG; ABl. L 26 vom 31. Januar 1977, S. 1), insbesondere Artikel 29 Absätze 1 und 4 dieser Richtlinie, vereinbar, daß ein Hauptversammlungsbeschluß, der eine Kapitalerhöhung gegen Sacheinlagen bei gleichzeitigem Ausschluß des Bezugsrechts der Aktionäre zum Gegenstand hat, anhand einer Inhaltskontrolle nach den Grundsätzen der Entscheidungen BGHZ 71, 40 und BGHZ 83, 319 auf seine Rechtmässigkeit hin überprüft wird?

12 Mit dieser Frage möchte das vorlegende Gericht im Kern wissen, ob die Zweite Richtlinie, insbesondere ihr Artikel 29 Absätze 1 und 4, dem nationalen Recht eines Mitgliedstaats entgegensteht, das bei Kapitalerhöhungen durch Sacheinlagen ein Bezugsrecht der Aktionäre begründet und die Rechtmässigkeit eines Beschlusses, durch den dieses Bezugsrecht ausgeschlossen wird, einer Inhaltskontrolle der vom Bundesgerichtshof entwickelten Art unterwirft.

13 Die Zweite Richtlinie ist gemäß Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g EG-Vertrag auf die Koordinierung der Schutzbestimmungen gerichtet, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Artikels 58 Absatz 2 des Vertrages vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten und die Interessen der Gesellschafter und Dritter zu schützen. Diese Richtlinie soll nach ihrer zweiten Begründungserwägung also beim Schutz der Aktionäre einerseits und der Gläubiger der Aktiengesellschaft andererseits ein Mindestmaß an Gleichwertigkeit sicherstellen.

14 Artikel 29 Absatz 1 der Zweiten Richtlinie sieht vor, daß bei jeder Erhöhung des gezeichneten Kapitals durch Bareinlagen die Aktien vorzugsweise den Aktionären im Verhältnis zu dem durch ihre Aktien vertretenen Teil des Kapitals angeboten werden müssen. Gemäß Artikel 29 Absatz 4 kann die Hauptversammlung unter bestimmten Umständen eine Beschränkung oder einen Ausschluß dieses Rechts beschließen.

15 Schon ihrem Wortlaut nach erfasst diese Bestimmung nur Kapitalerhöhungen durch Bareinlagen.

16 Zwar gilt sie somit nicht für Erhöhungen des gezeichneten Kapitals durch Sacheinlagen, doch kann daraus nicht geschlossen werden, daß der Gemeinschaftsgesetzgeber die Einräumung eines Bezugsrechts für die Aktionäre auf Kapitalerhöhungen durch Bareinlagen hätte beschränken wollen und den Mitgliedstaaten damit untersagt hätte, ein solches Bezugsrecht auch bei Kapitalerhöhungen durch Sacheinlagen vorzusehen.

17 Entgegen der Ansicht der Beklagten folgt letzteres auch nicht daraus, daß Artikel 27 der Zweiten Richtlinie bei den Bestimmungen über Kapitalerhöhungen durch Einlagen, die nicht Bareinlagen sind, kein Bezugsrecht zugunsten der Aktionäre vorsieht.

18 Da die Zweite Richtlinie lediglich ein Bezugsrecht für Erhöhungen des gezeichneten Kapitals durch Bareinlagen vorschreibt und keine Regelung für den komplexen, in den meisten Mitgliedstaaten unbekannten Sachverhalt der Ausübung des Bezugsrechts bei Kapitalerhöhungen durch Sacheinlagen enthält, stellt sie es den Mitgliedstaaten im Gegenteil frei, ein Bezugsrecht für den letztgenannten Fall vorzusehen.

19 Eine nationale Regelung, durch die der Grundsatz des Bezugsrechts der Aktionäre auf Erhöhungen des Grundkapitals durch Sacheinlagen ausgedehnt wird, gleichzeitig dieses Recht aber unter bestimmten Voraussetzungen eingeschränkt bzw. ausgeschlossen werden kann, entspricht einem der Ziele der Zweiten Richtlinie, das darin besteht, einen wirksameren Schutz der Aktionäre zu gewährleisten. Diese können dann nämlich auch in solchen Fällen eine Verringerung ihrer prozentualen Beteiligung am Grundkapital verhindern.

20 Nach Auffassung der Beklagten ist eine Inhaltskontrolle von Hauptversammlungsbeschlüssen, durch die das Bezugsrecht bei einer Kapitalerhöhung durch Sacheinlagen ausgeschlossen wird, wie sie der Bundesgerichtshof in seiner Rechtsprechung entwickelt hat, nicht mit den Zielen der Zweiten Richtlinie vereinbar. Diese Rechtsprechung schütze das Bezugsrecht im Übermaß, da die Minderheitsaktionäre zum Nachteil der Gesellschaft und ihrer Gläubiger die Durchführung von Kapitalerhöhungen durch Klagen gegen Hauptversammlungsbeschlüsse verhindern könnten.

21 Eine solche Inhaltskontrolle, die einen verstärkten Schutz der Aktionäre gewährleistet, steht jedoch entgegen dieser Auffassung nicht im Widerspruch zu den Zielen der Zweiten Richtlinie, selbst wenn sie zu Verzögerungen bei der Durchführung der Kapitalerhöhungen führen sollte. Im übrigen obliegt es den nationalen Gerichten, unter Wahrung der Ziele der Richtlinie mit den Mitteln des innerstaatlichen Rechts in angemessener Weise auf in Verzögerungsabsicht erhobene oder offensichtlich unbegründete Klagen zu reagieren.

22 Nach alledem ist zu antworten, daß die Zweite Richtlinie, insbesondere ihr Artikel 29 Absätze 1 und 4, dem nationalen Recht eines Mitgliedstaats nicht entgegensteht, das bei Kapitalerhöhungen durch Sacheinlagen ein Bezugsrecht der Aktionäre begründet und die Rechtmässigkeit eines Beschlusses, durch den dieses Bezugsrecht ausgeschlossen wird, einer Inhaltskontrolle der vom Bundesgerichtshof entwickelten Art unterwirft.

Kostenentscheidung:

Kosten

23 Die Auslagen der italienischen und der finnischen Regierung sowie der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

auf die ihm vom Bundesgerichtshof mit Beschluß vom 30. Januar 1995 vorgelegte Frage für Recht erkannt:

Die Zweite Richtlinie des Rates vom 13. Dezember 1976 zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Artikels 58 Absatz 2 des Vertrages im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter für die Gründung der Aktiengesellschaft sowie für die Erhaltung und Änderung ihres Kapitals vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten (77/91/EWG), insbesondere ihr Artikel 29 Absätze 1 und 4, steht dem nationalen Recht eines Mitgliedstaats nicht entgegen, das bei Kapitalerhöhungen durch Sacheinlagen ein Bezugsrecht der Aktionäre begründet und die Rechtmässigkeit eines Beschlusses, durch den dieses Bezugsrecht ausgeschlossen wird, einer Inhaltskontrolle der vom Bundesgerichtshof entwickelten Art unterwirft.

Ende der Entscheidung

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