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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 26.09.1996
Aktenzeichen: C-43/95
Rechtsgebiete: EG-Vertrag


Vorschriften:

EG-Vertrag Art. 177
EG-Vertrag Art 6 Abs. 1
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Eine nationale zivilprozessuale Vorschrift eines Mitgliedstaats, die die nicht dort ansässigen Staatsangehörigen und juristischen Personen aus einem anderen Mitgliedstaat zur Leistung einer Sicherheit wegen der Prozeßkosten verpflichtet, wenn sie gegen einen seiner Staatsangehörigen oder eine dort ansässige Gesellschaft gerichtlich vorgehen wollen, fällt in den Anwendungsbereich des EG-Vertrags im Sinne des Artikels 6 Absatz 1 und unterliegt dem in diesem Artikel verankerten allgemeinen Diskriminierungsverbot, soweit sie eine ° wenn auch nur mittelbare ° Auswirkung auf den innergemeinschaftlichen Austausch von Gütern und Dienstleistungen hat, was namentlich der Fall sein kann, wenn sie bei Erhebung einer Klage auf Bezahlung von Warenlieferungen angewandt wird.

2. Artikel 6 Absatz 1 EG-Vertrag ist dahin auszulegen, daß er es einem Mitgliedstaat verbietet, von einer in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen juristischen Person, die bei einem seiner Gerichte eine Klage gegen einen seiner Staatsangehörigen oder eine dort ansässige Gesellschaft erhoben hat, die Leistung einer Sicherheit wegen der Prozeßkosten zu verlangen, wenn eine derartige Forderung an juristische Personen dieses Staates nicht gestellt werden kann und es sich um eine Klage handelt, die mit der Ausübung der vom Gemeinschaftsrecht gewährleisteten Grundfreiheiten zusammenhängt.


Urteil des Gerichtshofes (Sechste Kammer) vom 26. September 1996. - Data Delecta Aktiebolag und Ronny Forsberg gegen MSL Dynamics Ltd. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Högsta Domstolen - Schweden. - Gleichbehandlung - Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit - Sicherheitsleistung wegen der Prozeßkosten. - Rechtssache C-43/95.

Entscheidungsgründe:

1 Der Högsta domstol hat mit Beschluß vom 21. Februar 1995, beim Gerichtshof eingegangen am 24. Februar 1995, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag eine Vorabentscheidungsfrage zu Artikel 6 Absatz 1 dieses Vertrages vorgelegt.

2 Diese Frage stellt sich im Zusammenhang mit einer Klage der britischen Gesellschaft MSL Dynamics Ltd (Firma MSL) gegen die schwedische Gesellschaft Data Delecta Aktiebolag (Firma Data Delecta) und den schwedischen Staatsangehörigen R. Forsberg wegen Bezahlung von Warenlieferungen.

3 Die Beklagten im Verfahren vor dem Solna tingsrätt, die Firma Data Delecta und R. Forsberg, hatten die Leistung einer Sicherheit wegen der Prozeßkosten gemäß § 1 des schwedischen Gesetzes 1980:307 durch die Firma MSL beantragt.

4 Nach dieser Vorschrift sind ausländische Staatsangehörige, die nicht in Schweden wohnen, sowie ausländische juristische Personen, die bei einem schwedischen Gericht Klage gegen einen schwedischen Staatsangehörigen oder eine schwedische juristische Person erheben wollen, verpflichtet, auf Verlangen des Beklagten Sicherheit wegen der Prozeßkosten zu leisten, zu deren Zahlung sie gegebenenfalls verurteilt werden. Diese Verpflichtung besteht jedoch nach § 5 des Gesetzes nicht, wenn dies in internationalen Übereinkünften, die für Schweden bindend sind, vereinbart worden ist. In der Bekanntmachung 1991:112 der Regierung über die Befreiung ausländischer Kläger von der Sicherheitsleistung wegen der Prozeßkosten in bestimmten Fällen ist für britische juristische Personen keine solche Übereinkunft erwähnt.

5 Das Solna tingsrätt lehnte es ab, dem Antrag auf Sicherheitsleistung wegen der Prozeßkosten stattzugeben, da das Gesetz 1980:307 in diesem Punkt gegen das Gesetz 1992:794 verstosse, durch das Schweden das Übereinkommen vom 16. September 1988 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (Luganer Übereinkommen) ratifiziert habe, das auch vom Vereinigten Königreich ratifiziert worden sei.

6 Das Svea hovrätt bestätigte diese Entscheidung in der Berufungsinstanz unter Anwendung des Grundsatzes, daß das jüngere Gesetz dem älteren vorgeht. Es führte insbesondere aus, das Luganer Übereinkommen bewirke, daß die schwedischen Gerichtsentscheidungen im Vereinigten Königreich unmittelbar vollstreckbar seien.

7 Die Firma Data Delecta und R. Forsberg haben daraufhin gegen die Entscheidung des Svea hovrätt Rechtsmittel beim Högsta domstol eingelegt.

8 Da der Högsta domstol der Auffassung ist, daß der Ausgang des Rechtsstreits von der Auslegung des Gemeinschaftsrechts abhänge, hat er das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Verstösst es gegen den Römischen Vertrag ° in erster Linie gegen Artikel 6 (früher Artikel 7) °, daß von einem Kläger, der eine britische juristische Person ist, eine solche Sicherheit verlangt wird, wenn eine derartige Forderung an schwedische juristische Personen nicht gestellt werden kann?

9 Mit dieser Frage möchte das vorlegende Gericht im wesentlichen wissen, ob Artikel 6 Absatz 1 EG-Vertrag es einem Mitgliedstaat verbietet, von einer in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen juristischen Person, die bei einem seiner Gerichte Klage gegen einen seiner Staatsangehörigen oder eine dort ansässige Gesellschaft erhoben hat, die Leistung einer Sicherheit wegen der Prozeßkosten zu verlangen, wenn eine derartige Forderung an juristische Personen dieses Staates nicht gestellt werden kann.

Zum Anwendungsbereich des Artikels 6 Absatz 1 EG-Vertrag

10 Artikel 6 Absatz 1 lautet: Unbeschadet besonderer Bestimmungen dieses Vertrags ist in seinem Anwendungsbereich jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten.

11 Zunächst ist also zu prüfen, ob eine Vorschrift eines Mitgliedstaats in den Anwendungsbereich des EG-Vertrags fällt, nach der in einem anderen Mitgliedstaat ansässige juristische Personen zur Leistung einer Sicherheit wegen der Prozeßkosten verpflichtet sind, wenn sie gegen einen seiner Staatsangehörigen oder eine dort ansässige Gesellschaft gerichtlich vorgehen wollen, während eine derartige Forderung an juristische Personen dieses Staates nicht gestellt wird.

12 Nach ständiger Rechtsprechung ist es zwar mangels einer Gemeinschaftsregelung Sache der internen Rechtsordnung der einzelnen Mitgliedstaaten, die Verfahrensmodalitäten für die Klagen zu regeln, mit denen der volle Schutz der dem einzelnen aus dem Gemeinschaftsrecht erwachsenden Rechte gewährleistet werden soll; doch setzt das Gemeinschaftsrecht dieser Zuständigkeit auch Schranken (Urteil vom 19. November 1991 in den Rechtssachen C-6/90 und C-9/90, Francovich u. a., Slg. 1991, I-5357, Randnr. 42). Derartige Rechtsvorschriften dürfen nämlich weder zu einer Diskriminierung von Personen führen, denen das Gemeinschaftsrecht einen Anspruch auf Gleichbehandlung verleiht, noch die vom Gemeinschaftsrecht garantierten Grundfreiheiten beschränken (Urteil vom 2. Februar 1989 in der Rechtssache 186/87, Cowan, Slg. 1989, 195, Randnr. 19).

13 Es ist festzustellen, daß eine nationale Verfahrensvorschrift wie die oben beschriebene geeignet ist, die wirtschaftliche Betätigung der Wirtschaftsteilnehmer anderer Mitgliedstaaten auf dem Markt des betreffenden Staates zu beeinträchtigen. Obwohl sie nicht als solche dazu bestimmt ist, eine kaufmännische Tätigkeit zu regeln, bewirkt sie, daß sich diese Wirtschaftsteilnehmer hinsichtlich des Zugangs zu den Gerichten dieses Staates in einer weniger günstigen Lage befinden als dessen eigene Staatsangehörige. Denn wenn das Gemeinschaftsrecht ihnen den freien Waren- und Dienstleistungsverkehr im Gemeinsamen Markt garantiert, ist die Möglichkeit für diese Wirtschaftsteilnehmer, ebenso wie die Staatsangehörigen dieses Staates die Gerichte eines Mitgliedstaats mit den Rechtsstreitigkeiten zu befassen, zu denen ihre wirtschaftlichen Tätigkeiten führen können, die logische Folge dieser Freiheiten.

14 Wie der Gerichtshof im Urteil vom 20. Oktober 1993 in den Rechtssachen C-92/92 und C-326/92 (Phil Collins u. a., Slg. 1993, I-5145, Randnr. 27) entschieden hat, unterliegen nationale Rechtsvorschriften, die wegen ihrer Auswirkungen auf den innergemeinschaftlichen Austausch von Gütern und Dienstleistungen in den Anwendungsbereich des Vertrages fallen, zwangsläufig dem in Artikel 6 Absatz 1 EG-Vertrag niedergelegten allgemeinen Diskriminierungsverbot, ohne daß es noch erforderlich wäre, sie mit den besonderen Vorschriften der Artikel 30, 36, 59 und 66 EG-Vertrag in Verbindung zu bringen.

15 Deshalb ist festzustellen, daß eine nationale zivilprozessuale Vorschrift wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende in den Anwendungsbereich des Vertrages im Sinne des Artikels 6 Absatz 1 fällt und dem in diesem Artikel verankerten allgemeinen Diskriminierungsverbot unterliegt, soweit sie eine ° wenn auch nur mittelbare ° Auswirkung auf den innergemeinschaftlichen Austausch von Gütern und Dienstleistungen hat. Eine solche Auswirkung ist insbesondere dann zu befürchten, wenn eine Sicherheit wegen der Prozeßkosten bei einer Klage auf Bezahlung von Warenlieferungen verlangt wird.

Zur Diskriminierung im Sinne des Artikels 6 Absatz 1 EG-Vertrag

16 Indem Artikel 6 EG-Vertrag jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verbietet, verlangt er in den Mitgliedstaaten die vollständige Gleichbehandlung der Personen, die sich in einer gemeinschaftsrechtlich geregelten Situation befinden, mit den Staatsangehörigen des betreffenden Mitgliedstaats.

17 Es liegt auf der Hand, daß eine Vorschrift wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende eine unmittelbare Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit darstellt.

18 Die schwedische Regierung ist jedoch der Auffassung, daß das Diskriminierungsverbot es nicht ausschließe, eine Sicherheitsleistung von einem ausländischen Kläger zu verlangen, wenn die etwaige Entscheidung über seine Verurteilung in die Kosten des Verfahrens im Staat seines Wohnsitzes nicht vollstreckbar sei. In diesem Fall solle die Sicherheitsleistung verhindern, daß ein ausländischer Kläger vor Gericht Klage erheben könnte, ohne ein finanzielles Risiko für den Fall des Unterliegens einzugehen.

19 Ausserdem sehe das schwedische Recht verschiedene Ausnahmen von dem Erfordernis der Sicherheitsleistung vor, die damit zusammenhingen, daß der schwedische Beklagte insbesondere durch Anwendung von Schweden ratifizierter internationaler Übereinkünfte gegebenenfalls die Möglichkeit habe, ein Urteil zu erwirken, das die Vollstreckung im Wohnsitzstaat des Klägers gestatte.

20 Diesem Vorbringen kann nicht gefolgt werden.

21 Wie der Gerichtshof im Urteil vom 1. Juli 1993 in der Rechtssache C-20/92 (Hubbard, Slg. 1993, I-3777) entschieden hat, kann der im Gemeinschaftsrecht verankerte Anspruch auf Gleichbehandlung nämlich nicht vom Vorliegen internationaler Übereinkünfte der Mitgliedstaaten abhängen.

22 Sonach ist auf die vorgelegte Frage zu antworten, daß Artikel 6 Absatz 1 EG-Vertrag es einem Mitgliedstaat verbietet, von einer in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen juristischen Person, die bei einem seiner Gerichte eine Klage gegen einen seiner Staatsangehörigen oder eine dort ansässige Gesellschaft erhoben hat, die Leistung einer Sicherheit wegen der Prozeßkosten zu verlangen, wenn eine derartige Forderung an juristische Personen dieses Staates nicht gestellt werden kann und es sich um eine Klage handelt, die mit der Ausübung der vom Gemeinschaftsrecht gewährleisteten Grundfreiheiten zusammenhängt.

Kostenentscheidung:

Kosten

23 Die Auslagen der schwedischen, der griechischen und der irischen Regierung sowie der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)

auf die ihm vom Högsta domstol mit Beschluß vom 21. Februar 1995 vorgelegte Frage für Recht erkannt:

Artikel 6 Absatz 1 EG-Vertrag ist dahin auszulegen, daß er es einem Mitgliedstaat verbietet, von einer in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen juristischen Person, die bei einem seiner Gerichte eine Klage gegen einen seiner Staatsangehörigen oder eine dort ansässige Gesellschaft erhoben hat, die Leistung einer Sicherheit wegen der Prozeßkosten zu verlangen, wenn eine derartige Forderung an juristische Personen dieses Staates nicht gestellt werden kann und es sich um eine Klage handelt, die mit der Ausübung der vom Gemeinschaftsrecht gewährleisteten Grundfreiheiten zusammenhängt.

Ende der Entscheidung

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