Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Beschluss verkündet am 12.09.2002
Aktenzeichen: C-431/01
Rechtsgebiete: EGV, Verfahrensordnung, Belgisches Einkommensteuergesetz


Vorschriften:

EGV Art. 234
EGV Art. 48 (jetzt EGV Art. 39)
EGV Art. 52 (jetzt EGV Art. 43)
Verfahrensordnung Art. 104 Abs. 3
Belgisches Einkommensteuergesetz
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Artikel 48 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 39 EG) steht einer Regelung eines Mitgliedstaats, nach der eine natürliche Person, die in diesem Mitgliedstaat ihren Wohnsitz hat und dort eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausübt, bei der Besteuerung natürlicher Personen einen in einem bestimmten Jahr erlittenen Verlust nur dann vom steuerpflichtigen Gewinn des darauf folgenden Jahres abziehen kann, wenn dieser Verlust nicht auf die Einkünfte aus nichtselbständiger Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat in dem ersten der beiden Jahre hat angerechnet werden können, insofern entgegen, als ein so angerechneter Verlust in keinem der betroffenen Mitgliedstaaten von den zu versteuernden Einkünften abgezogen werden kann, während dies sehr wohl möglich wäre, wenn die natürliche Person ihre selbständige und ihre nichtselbständige Tätigkeit ausschließlich in dem Mitgliedstaat ausgeübt hätte, in dem sie ihren Wohnsitz hat.

( vgl. Randnrn. 29, 40 und Tenor )


Beschluss des Gerichtshofes (Erste Kammer) vom 12. September 2002. - Philippe Mertens gegen Belgischer Staat. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Cour d'appel de Mons - Belgien. - Artikel 104 Absatz 3 der Verfahrensordnung - Freizügigkeit - Steuerrecht - Direkte Steuern - Abzug von Verlusten aus Erwerbstätigkeit. - Rechtssache C-431/01.

Parteien:

In der Rechtssache C-431/01

betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 234 EG von der Cour d'appel Mons (Belgien) in dem bei dieser anhängigen Rechtsstreit

Philippe Mertens

gegen

Belgischer Staat

vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung der Artikel 48 und 52 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 39 EG und 43 EG)

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten P. Jann sowie der Richter M. Wathelet und A. Rosas (Berichterstatter),

Generalanwalt: S. Alber

Kanzler: R. Grass

nachdem das vorlegende Gericht davon unterrichtet worden ist, dass der Gerichtshof beabsichtigt, gemäß Artikel 104 § 3 seiner Verfahrensordnung durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden,

nachdem den in Artikel 20 der EG-Satzung des Gerichtshofes bezeichneten Beteiligten Gelegenheit zur Äußerung gegeben worden ist,

nach Anhörung des Generalanwalts,

folgenden

Beschluss

Entscheidungsgründe:

1 Die Cour d'appel Mons hat mit Urteil vom 2. November 2001, beim Gerichtshof eingegangen am 7. November 2001, gemäß Artikel 234 EG eine Frage nach der Auslegung der Artikel 48 und 52 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 39 EG und 43 EG) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen Herrn Mertens und dem belgischen Staat wegen der Steuer, die gegen ihn bei der Besteuerung natürlicher Personen im Steuerjahr 1990 für Einkünfte aus dem Jahr 1989 festgesetzt wurde.

Der rechtliche Rahmen

3 Artikel 5 des belgischen Einkommensteuergesetzes 1964 in der Fassung des Arrêté royal portant coordination des dispositions légales en matière d'impôts sur les revenus vom 26. Februar 1964 (Moniteur Belge vom 10. April 1964, S. 3809, im Folgenden: Einkommensteuergesetz 1964) sieht vor:

Die Einwohner des Königreichs unterliegen der Besteuerung natürlicher Personen mit allen ihren zu versteuernden Einkünften im Sinne dieses Gesetzes, auch wenn diese Einkünfte teilweise im Ausland erzielt worden oder zugeflossen sind."

4 Artikel 43 Absatz 1 des Einkommensteuergesetzes 1964, der die Bestimmung des Nettobetrags der Erwerbseinkünfte regelt, sieht vor:

1. vom Bruttobetrag der Einkünfte aus jeder Erwerbstätigkeit werden die Aufwendungen oder Werbungskosten abgezogen, die mit diesen Einkünften verbunden sind;

2. im Besteuerungszeitraum erlittene Verluste aus irgendeiner Erwerbstätigkeit werden auf Einkünfte aus anderen Tätigkeiten angerechnet;

3. von den nach Nummern 1 oder 2 dieses Artikels bestimmten Erwerbseinkünften werden die Verluste abgezogen, die in den fünf vorangegangenen Besteuerungszeiträumen entstanden sind; dieser Abzug erfolgt nacheinander von den Einkünften eines jeden der folgenden Besteuerungszeiträume, kann jedoch nicht von dem Anteil der Einkünfte des ganzen oder eines Teils des Besteuerungszeitraums vorgenommen werden, der über den Zeitraum von fünf Jahren nach dem Besteuerungszeitraum, in dem der Verlust entstanden ist, hinausgeht;

..."

5 Artikel 13quater des Arrêté royal d'exécution du code des impôts sur les revenus de 1964 vom 4. März 1965 (Moniteur Belge vom 30. April 1965, S. 4722) lautet:

Der im Besteuerungszeitraum erlittene Verlust aus einer bestimmten Erwerbstätigkeit wird anteilig auf Einkünfte aus anderen Erwerbstätigkeiten angerechnet, die pauschal besteuert werden oder die gemäß Artikel 87quater des Einkommensteuergesetzes steuerfrei sind; ein etwaiger Saldo wird anteilig auf Erwerbseinkünfte angerechnet, die gesondert besteuert werden."

6 Artikel 87quater des Einkommensteuergesetzes 1964, der im Steuerrecht den Grundsatz der Steuerfreiheit von Einkünften einführt, die ein belgischer Gebietsansässiger in einem anderen Staat erzielt hat, mit dem das Königreich Belgien ein Doppelbesteuerungsabkommen geschlossen hat, lautet wie folgt:

Aufgrund internationaler Doppelbesteuerungsabkommen steuerfreie Einkünfte werden bei der Steuerfestsetzung berücksichtigt, die Steuer wird jedoch im Verhältnis des Anteils der steuerfreien Einkünfte an den gesamten Einkünften reduziert."

7 Das Königreich Belgien hat mit allen anderen Mitgliedstaaten bilaterale Doppelbesteuerungsabkommen geschlossen. Alle diese Abkommen folgen dem von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) erarbeiteten Musterabkommen. Das Doppelbesteuerungsabkommen zwischen dem Königreich Belgien und der Bundesrepublik Deutschland wurde am 11. April 1967 in Brüssel unterzeichnet und durch Gesetz vom 9. Juli 1969 (Moniteur Belge vom 30. Juli 1969, im Folgenden: Abkommen) ratifiziert.

8 Gemäß Artikel 15 Absatz 1 des Abkommens können Löhne,... die eine in einem Vertragsstaat ansässige Person aus unselbständiger Arbeit bezieht,... nur in diesem Staat besteuert werden, es sei denn, dass die Arbeit in dem anderen Vertragsstaat ausgeübt wird. Wird die Arbeit dort ausgeübt, so können die dafür bezogenen Vergütungen in dem anderen Staat besteuert werden."

9 Nach Artikel 23 Absatz 2 Nummer 1 des Abkommens sind die aus Deutschland stammenden Einkünfte, die nach dem Abkommen in diesem Vertragsstaat besteuert werden können, in Belgien von der Steuer befreit. Dieselbe Bestimmung stellt klar, dass diese Befreiung nicht das Recht des Königreichs Belgien einschränkt, die auf diese Weise befreiten Einkünfte bei der Festsetzung des Steuersatzes zu berücksichtigen.

Der Ausgangsrechtsstreit und die Vorabentscheidungsfrage

10 Der Kläger des Ausgangsverfahrens, Herr Mertens (im Folgenden: Kläger), ist Informatikberater und hat seinen Wohnsitz in Belgien. In den Jahren 1988 und 1989 übte er gleichzeitig eine nichtselbständige Tätigkeit in Deutschland und eine selbständige Tätigkeit in Belgien aus.

11 Im Steuerjahr 1989 schloss seine selbständige Tätigkeit in Belgien mit einem Verlust in Höhe von 297 105 BEF ab, was hauptsächlich auf dem Erwerb von Computerausrüstung beruhte, die unstreitig steuerlich abgeschrieben werden konnte.

12 In seiner Steuererklärung für das folgende Jahr machte der Kläger den Verlust geltend, den er im vorangegangenen Steuerjahr erlitten hatte, und zog ihn von den Gewinnen aus seiner Erwerbstätigkeit in Belgien ab. Als er jedoch den Steuerbescheid über die Besteuerung natürlicher Personen für das Steuerjahr 1990 erhielt, stellte er fest, dass die belgischen Steuerbehörden den vorgetragenen Verlust nicht berücksichtigt hatten.

13 Die Direction régionale des contributions directes de Liège (Regionaldirektion für direkte Steuern in Lüttich, Belgien) wies die gegen den genannten Steuerbescheid erhobene Beschwerde des Klägers zurück. In der dem Kläger am 16. Dezember 1991 bekannt gegebenen Entscheidung stellte sie fest, der fragliche Verlust sei bereits im Steuerjahr 1989 berücksichtigt und gemäß Artikel 43 Absatz 1 Nummer 2 des Einkommensteuergesetzes 1964 in Verbindung mit Artikel 13quater des Arrêté royal vom 4. März 1965 auf die in demselben Besteuerungszeitraum in Deutschland erzielten Einkünfte angerechnet worden. Das Abkommen hindere den belgischen Staat nicht daran, bezüglich der Besteuerungsgrundlage Einkünfte zu berücksichtigen, die in Deutschland steuerpflichtig und in Belgien steuerfrei seien. Folglich sei der Vortrag eines Verlustes aus Tätigkeiten, die in dem zuletzt genannten Vertragsstaat ausgeübt worden seien, nur insoweit möglich, als dieser Verlust nicht durch Einkünfte aus dem Ausland gedeckt gewesen sei.

14 Am 24. Januar 1992 erhob der Kläger gegen diese Entscheidung Klage bei der Cour d'appel Lüttich (Belgien).

15 Mit Zwischenurteil vom 20. April 1994 ordnete dieses Gericht die Wiedereröffnung der Verhandlung an und verlangte eine Klärung der Frage, ob nach deutschem Steuerrecht der in Belgien entstandene Verlust in Deutschland berücksichtigt werden könne.

16 Mit Urteil vom 2. November 1994 gab die Cour d'appel Lüttich der Klage statt und entschied, dass der in Belgien entstandene Verlust nicht auf die nach dem Abkommen steuerfreien Einkünfte angerechnet werden könne. Sie stellte fest, dass Artikel 87quater des Einkommensteuergesetzes 1964 die Berücksichtigung steuerfreier Einkünfte nur bei der Festsetzung des Steuersatzes zulasse und dass die erneute Berücksichtigung solcher Einkünfte bei der Besteuerungsgrundlage zu einer Diskriminierung zwischen Belgiern, die einen Teil ihrer Tätigkeiten in bestimmten anderen Ländern ausüben, und solchen, die dies nicht tun", führen könne.

17 Am 3. Februar 1995 legte der belgische Staat Kassationsbeschwerde gegen dieses Urteil ein. Mit Urteil vom 27. Oktober 1995 bestätigte die Cour de cassation die Auffassung der Steuerverwaltung und hob das Urteil der Cour d'appel Lüttich auf. Die Rechtssache wurde an die Cour d'appel Mons verwiesen.

18 Vor diesem Gericht warf der Kläger die Frage nach der Vereinbarkeit der streitigen Regelung mit den Artikeln 48 und 52 EG-Vertrag auf und berief sich dabei insbesondere auf das Urteil des Gerichtshofes vom 14. Dezember 2000 in der Rechtssache C-141/99 (AMID, Slg. 2000, I-11619). Unter diesen Umständen hat die Cour d'appel Mons das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Stehen die Artikel 39 und/oder 43 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats entgegen, nach denen im Rahmen von Steuerbescheiden über die Besteuerung natürlicher Personen der Verlust aus Erwerbstätigkeit, der einer in diesem Mitgliedstaat wohnhaften natürlichen Person in einem vorangegangenen Besteuerungszeitraum in diesem Mitgliedstaat entstanden ist, von dem dieser natürlichen Person in einem späteren Besteuerungszeitraum entstandenen Gewinn nur insoweit abgezogen werden kann, als dieser Verlust nicht auf die aus diesem früheren Besteuerungsjahr stammenden Einkünfte aus einer von dieser natürlichen Person in einem anderen Mitgliedstaat ausgeübten nichtselbständigen Tätigkeit angerechnet werden kann, wenn dies dazu führt, dass dieser angerechnete Verlust weder in diesem Mitgliedstaat noch in dem anderen Mitgliedstaat von den im Rahmen des Steuerbescheids für die Besteuerung der natürlichen Personen zu versteuernden Einkünften dieser natürlichen Person abgezogen werden kann, während dann, wenn diese ihre nichtselbständige Tätigkeit in demselben Mitgliedstaat ausgeübt hätte, in dem sie ihrer selbständigen Tätigkeit nachgeht, diese Verluste aus selbständiger Tätigkeit durchaus von ihrem steuerpflichtigen Einkommen abgezogen werden könnten?

Zur Vorabentscheidungsfrage

19 Die Frage des vorlegenden Gerichts geht dahin, ob die Artikel 48 und/oder 52 EG-Vertrag einer Regelung eines Mitgliedstaats, nach der eine natürliche Person, die in diesem Mitgliedstaat ihren Wohnsitz hat und dort eine selbständige Erwerbstätigkeit ausübt, bei der Besteuerung natürlicher Personen einen in einem bestimmten Jahr erlittenen Verlust nur dann vom steuerpflichtigen Gewinn des darauf folgenden Jahres abziehen kann, wenn dieser Verlust nicht auf die Einkünfte aus nichtselbständiger Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat in dem ersten der beiden Jahre hat angerechnet werden können, insofern entgegenstehen, als ein so angerechneter Verlust in keinem der betroffenen Mitgliedstaaten von den zu versteuernden Einkünften abgezogen werden kann, während dies sehr wohl möglich wäre, wenn diese natürliche Person ihre selbständige und ihre nichtselbständige Tätigkeit ausschließlich in dem Mitgliedstaat ausgeübt hätte, in dem sie ihren Wohnsitz hat.

20 Da die Antwort auf die Vorabentscheidungsfrage klar aus der Rechtsprechung abgeleitet werden kann, hat der Gerichtshof gemäß Artikel 104 § 3 seiner Verfahrensordnung das vorlegende Gericht davon unterrichtet, dass er beabsichtigt, durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden, und hat den in Artikel 20 der EG-Satzung des Gerichtshofes bezeichneten Beteiligten Gelegenheit zur Äußerung hierzu gegeben.

21 Nur die Kommission hat sich in der gesetzten Frist geäußert. Sie hat sich damit einverstanden erklärt, dass der Gerichtshof durch mit Gründen versehenen Beschluss entscheidet.

22 Im Urteil AMID hatte der Gerichtshof bereits das Gemeinschaftsrecht über die Niederlassungsfreiheit, insbesondere Artikel 52 EG-Vertrag, im Rahmen eines Rechtsstreits auszulegen, der das belgische Steuerrecht in einer ähnlichen Situation wie der des Ausgangsverfahrens betraf. Nach dieser Regelung konnte nämlich eine in Belgien niedergelassene Gesellschaft bei der Veranlagung zur Körperschaftsteuer einen in einem bestimmten Jahr erlittenen Verlust nur dann vom steuerpflichtigen Gewinn des darauf folgenden Jahres abziehen, wenn dieser Verlust nicht auf den Gewinn einer ihrer festen Betriebsstätten in einem anderen Mitgliedstaat in dem ersten der beiden Jahre hatte angerechnet werden können. Der Gerichtshof hat entschieden, dass Artikel 52 EG-Vertrag einer solchen Regelung insofern entgegensteht, als ein so angerechneter Verlust - in diesem Fall ein auf den Gewinn einer festen Betriebsstätte der klagenden Gesellschaft in Luxemburg angerechneter Verlust - in keinem der betroffenen Mitgliedstaaten vom steuerpflichtigen Einkommen abgezogen werden kann, während dies sehr wohl möglich wäre, wenn sich die Betriebsstätten der Gesellschaft ausschließlich in dem Mitgliedstaat befänden, in dem sie ihren Sitz hat.

23 Nach dem Wortlaut der vorgelegten Frage enthält die im Ausgangsverfahren streitige nationale Regelung über den Abzug von Verlusten vom steuerpflichtigen Gewinn bei der Besteuerung natürlicher Personen eine Voraussetzung, die der Voraussetzung ähnlich ist, die der Gerichtshof im Urteil AMID untersucht hat. Aus der Frage ergibt sich ferner, dass die Anrechnung des im Mitgliedstaat des Wohnsitzes erlittenen Verlustes auf Einkünfte, die der Kläger des Ausgangsverfahrens in einem anderen Mitgliedstaat erzielt hat, ebenso die Wirkung hat, dass der so angerechnete Verlust in keinem der betroffenen Mitgliedstaaten von den steuerpflichtigen Einkünften abgezogen werden kann, während dies sehr wohl möglich wäre, wenn diese natürliche Person die nichtselbständige und die selbständige Tätigkeit ausschließlich im Mitgliedstaat ihres Wohnsitzes ausgeübt hätte.

24 Im Ausgangsverfahren wird die Situation des Klägers, der steuerlich benachteiligt wird, weil er in einem anderen Mitgliedstaat als dem seines Wohnsitzes eine nichtselbständige Tätigkeit ausübt, von Artikel 48 EG-Vertrag über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer und nicht von Artikel 52 EG-Vertrag über die Niederlassungsfreiheit erfasst. Auf jeden Fall sind die in der Rechtsprechung des Gerichtshofes entwickelten Grundsätze auf dem Gebiet der Freizügigkeit zu berücksichtigen, weil diese sowohl die Niederlassungsfreiheit als auch die Freizügigkeit der Arbeitnehmer betrifft.

25 Nach ständiger Rechtsprechung fallen die direkten Steuern zwar in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, doch müssen diese ihre Zuständigkeit unter Wahrung des Gemeinschaftsrechts ausüben (Urteile vom 14. Februar 1995 in der Rechtssache C-279/93, Schumacker, Slg. 1995, I-225, Randnr. 21, vom 16. Juli 1998 in der Rechtssache C-264/96, ICI, Slg. 1998, I-4695, Randnr. 19, vom 6. Juni 2000 in der Rechtssache C-35/98, Verkooijen, Slg. 2000, I-4071, Randnr. 32; das zitierte Urteil AMID, Randnr. 19; Urteil vom 15. Januar 2002 in der Rechtssache C-55/00, Gottardo, Slg. 2002, I-413, Randnr. 32).

26 Bei der Wahrnehmung ihrer Zuständigkeit für direkte Steuern dürfen die Mitgliedstaaten also nicht gegen die Artikel 48 und 52 EG-Vertrag über die Freizügigkeit verstoßen. Diese Bestimmungen garantieren den Gemeinschaftsbürgern eine grundlegende Freiheit, die die Ausübung jeder Art von Erwerbstätigkeit im gesamten Gemeinschaftsgebiet umfasst. Die genannten Bestimmungen stehen daher jeder nationalen Regelung entgegen, die die Gemeinschaftsbürger dann benachteiligen könnte, wenn sie ihre nichtselbständige oder selbständige Tätigkeit über das Hoheitsgebiet eines einzigen Mitgliedstaats hinaus ausdehnen wollen (siehe Urteile vom 7. Juli 1988 in der Rechtssache 143/87, Stanton und L'Étoile 1905", Slg. 1988, 3877, Randnr. 13, vom 7. Juli 1992 in der Rechtssache C-370/90, Singh, Slg. 1992, I-4265, Randnr. 16, und vom 19. März 2002 in den Rechtssachen C-393/99 und C-394/99, Hervein u. a., Slg. 2002, I-2829, Randnr. 47).

27 Außerdem ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofes, dass die Vorschriften über die Freizügigkeit zwar nach ihrem Wortlaut insbesondere die Inländerbehandlung im Aufnahmemitgliedstaat sichern sollen, dass sie aber auch das Verbot für den Herkunftsstaat enthalten, die Ausübung dieser Freiheit zu behindern (das zitierte Urteil AMID, Randnr. 21; siehe zur Dienstleistungsfreiheit Urteil vom 10. Mai 1995 in der Rechtssache C-384/93, Alpine Investments, Slg. 1995, I-1141, Randnrn. 29 bis 31).

28 Bei der Berechnung der zu versteuernden Einkünfte einer natürlichen Person beschränkt die Regelung des Königreichs Belgien für natürliche Personen mit Wohnsitz im belgischen Hoheitsgebiet, die zugleich eine selbständige Tätigkeit in diesem Hoheitsgebiet und eine nichtselbständige Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat ausüben, die Möglichkeit, Verluste vorzutragen, die in einem vorangegangenen Besteuerungszeitraum im Mitgliedstaat des Wohnsitzes entstanden sind. Wenn nämlich diese Personen in derselben Situation wie der Kläger sind, d. h., wenn sie in demselben Besteuerungszeitraum in Belgien einen Verlust erlitten und Einkommen aus unselbständiger Tätigkeit in Deutschland bezogen haben, kann dieser Verlust weder von ihren in diesem Jahr in Deutschland zu versteuernden Einkünften noch von ihren in den späteren Jahren in Belgien zu versteuernden Einkünften abgezogen werden. Hätte hingegen die Person, die in Belgien einen Verlust aus selbständiger Tätigkeit erlitten hat, ihre nichtselbständige Tätigkeit in diesem Mitgliedstaat ausgeübt, so hätte der genannte Verlust auf die anderen Einkünfte angerechnet und von ihren zu versteuernden Einkünften abgezogen werden können.

29 Die im Ausgangsverfahren streitige Regelung behandelt somit durch die Anrechnung der in Belgien erlittenen Verluste auf die in anderen Mitgliedstaaten erzielten Einkünfte, die aufgrund der geschlossenen Doppelbesteuerungsabkommen steuerfrei sind, die Steuerpflichtigen, die alle ihre Tätigkeiten ausschließlich im belgischen Hoheitsgebiet ausüben, steuerlich anders als diejenigen, die in Belgien eine selbständige Tätigkeit und zugleich in einem anderen Mitgliedstaat eine nichtselbständige Tätigkeit ausüben (siehe in diesem Sinne Urteil AMID, Randnr. 23).

30 Zwar gilt die genannte Regelung für alle Steuerpflichtigen, die im Rahmen einer selbständigen Tätigkeit Verluste erlitten haben, gleichermaßen, da gemäß Artikel 43 Absatz 1 Nummer 2 des Einkommensteuergesetzes 1964 in einem Besteuerungszeitraum eingetretene Verluste aus irgendeiner Erwerbstätigkeit immer auf die Einkünfte aus anderen Tätigkeiten einschließlich solcher aus nichtselbständiger Arbeit in Belgien angerechnet werden.

31 Steuerpflichtige jedoch, die wie der Kläger von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch machen und zugleich einer selbständigen Tätigkeit in Belgien und einer nichtselbständigen Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat nachgehen, sind nicht in einer Situation, die mit der von Steuerpflichtigen vergleichbar ist, die alle ihre Erwerbstätigkeiten ausschließlich in Belgien ausüben. Aufgrund von Doppelbesteuerungsabkommen wie dem hier in Rede stehenden werden Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit in dem Vertragsstaat besteuert, in dem die Arbeit ausgeübt wird, auch wenn der Arbeitnehmer seinen Wohnsitz in dem anderen Vertragsstaat hat. Außerdem wurde im Ausgangsverfahren festgestellt, dass der in Belgien erlittene Verlust nicht bei der Bestimmung der in Deutschland zu versteuernden Einkünfte berücksichtigt werden konnte, weil in diesem Mitgliedstaat eine nichtselbständige Tätigkeit ausgeübt wurde.

32 Nach ständiger Rechtsprechung liegt eine Ungleichbehandlung vor, wenn zwei Gruppen von Personen, deren rechtliche und tatsächliche Situation keine wesentlichen Unterschiede aufweist, unterschiedlich behandelt oder wenn nicht vergleichbare Sachverhalte gleichbehandelt werden (siehe in diesem Sinne Urteile vom 23. Februar 1983 in der Rechtssache 8/82, Wagner, Slg. 1983, 371, Randnr. 18, vom 13. November 1984 in der Rechtssache 283/83, Racke, Slg. 1984, 3791, Randnr. 7, vom 14. September 1999 in der Rechtssache C-391/97, Gschwind, Slg. 1999, I-5451, Randnr. 21, und vom 31. Mai 2001 in den Rechtssachen C-122/99 P und C-125/99 P, D und Königreich Schweden/Rat, Slg. 2001, I-4319, Randnr. 48).

33 Folglich bringt die im Ausgangsverfahren streitige Regelung ebenso wie die nationale Regelung, die der Gerichtshof im Urteil AMID untersucht hat, eine Ungleichbehandlung mit sich. Sie ist geeignet, einen Steuerpflichtigen in der Situation des Klägers des Ausgangsverfahrens davon abzuhalten, eine nichtselbständige Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat aufzunehmen oder fortzuführen. Diese Regelung bewirkt daher eine Beschränkung der durch Artikel 48 EG-Vertrag gewährleisteten Freizügigkeit der Arbeitnehmer (siehe zur Niederlassungsfreiheit Urteil AMID, Randnr. 27).

34 Das Vorbringen der belgischen Regierung, die beschränkenden Wirkungen der steuerrechtlichen Regelung auf die Freizügigkeit sei zu zufällig und zu mittelbar, als dass diese Maßnahme als Beschränkung angesehen werden könne, ist zurückzuweisen, da eine nichtselbständige Tätigkeit in der Regel zu einem Gewinn und nicht zu einem Verlust führt.

35 Jedenfalls ist die im Ausgangsverfahren streitige Regelung, auch wenn man mit der belgischen Regierung annimmt, dass sie insgesamt für natürliche Personen, die von ihrer gemeinschaftsrechtlichen Niederlassungsfreiheit oder Freizügigkeit Gebrauch machen, günstig oder zumindest neutral ist, für Personen in einer Situation wie der des Klägers nachteilig, nur weil sie eine nichtselbständige Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat ausüben.

36 Zu dem Vorbringen der belgischen Regierung, der Nachteil des Klägers ergebe sich nur aus unvermeidbaren Diskrepanzen zwischen den nationalen Gesetzen und der Ausübung der steuerrechtlichen Zuständigkeiten durch die Behörden der verschiedenen Mitgliedstaaten, ist festzustellen, dass sich die nachteilige steuerliche Behandlung, die der Kläger des Ausgangsverfahrens rügt, unmittelbar aus der Anwendung der belgischen Regelung und nicht aus einer unvermeidbaren Diskrepanz zwischen dem belgischen und dem deutschen Steuerrecht ergibt.

37 Zu dem Einwand, nur offensichtlich und eindeutig diskriminierende Maßnahmen stellten Beschränkungen der durch die Artikel 48 und 52 EG-Vertrag gewährleisteten Freiheiten dar, ist darauf hinzuweisen, dass eine nationale Maßnahme nicht offen diskriminierend sein muss, um als Verstoß gegen die den Gemeinschaftsbürgern gewährleistete Freizügigkeit angesehen werden zu können. Es genügt, dass sie geeignet ist, die Ausübung dieser grundlegenden Freiheit zu behindern oder weniger attraktiv zu machen (siehe in diesem Sinne Urteil vom 31. März 1993 in der Rechtssache C-19/92, Kraus, Slg. 1993, I-1663, Randnr. 32).

38 Zur Rechtfertigung der Beschränkung der durch Artikel 48 EG-Vertrag gewährleisteten Freizügigkeit der Arbeitnehmer beruft sich die belgische Regierung nur auf den Grundsatz der Besteuerung der weltweiten Einkünfte durch den Staat des Wohnsitzes des Steuerpflichtigen, auf den sich Artikel 5 des Einkommensteuergesetzes 1964 bezieht, und darauf, dass das Abkommen es nicht verbiete, in Belgien bei der Bestimmung der Besteuerungsgrundlage Einkünfte zu berücksichtigen, die in Deutschland erzielt worden seien.

39 Diese aus dem nationalen Recht und dem Abkommen abgeleiteten Argumente sind jedoch nicht geeignet, darzutun, dass die im Ausgangsverfahren streitige nationale Regelung einen legitimen Zweck verfolgt, der mit dem EG-Vertrag vereinbar ist, und dass die Anwendung dieser Regelung nicht über das zur Erreichung dieses Zweckes Erforderliche hinausgeht.

40 Aufgrund dieser Erwägungen und ohne dass angesichts des Sachverhalts des Ausgangsrechtsstreits Artikel 52 EG-Vertrag ausgelegt werden muss, ist auf die vorgelegte Frage zu antworten, dass Artikel 48 EG-Vertrag einer Regelung eines Mitgliedstaats, nach der eine natürliche Person, die in diesem Mitgliedstaat ihren Wohnsitz hat und dort eine selbständige Erwerbstätigkeit ausübt, bei der Besteuerung natürlicher Personen einen in einem bestimmten Jahr erlittenen Verlust nur dann vom steuerpflichtigen Gewinn des darauf folgenden Jahres abziehen kann, wenn dieser Verlust nicht auf die Einkünfte aus nichtselbständiger Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat in dem ersten der beiden Jahre hat angerechnet werden können, insofern entgegensteht, als ein so angerechneter Verlust in keinem der betroffenen Mitgliedstaaten von den zu versteuernden Einkünften abgezogen werden kann, während dies sehr wohl möglich wäre, wenn die natürliche Person ihre selbständige Tätigkeit und ihre nichtselbständige Tätigkeit ausschließlich in dem Mitgliedstaat ausgeübt hätte, in dem sie ihren Wohnsitz at._

Kostenentscheidung:

Kosten

41 Die Auslagen der belgischen Regierung und der Kommission, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

auf die ihm von der Cour d'appel Mons mit Urteil vom 2. November 2001 vorgelegte Frage für Recht erkannt:

Artikel 48 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 39 EG) steht einer Regelung eines Mitgliedstaats, nach der eine natürliche Person, die in diesem Mitgliedstaat ihren Wohnsitz hat und dort eine selbständige Erwerbstätigkeit ausübt, bei der Besteuerung natürlicher Personen einen in einem bestimmten Jahr erlittenen Verlust nur dann vom steuerpflichtigen Gewinn des darauf folgenden Jahres abziehen kann, wenn dieser Verlust nicht auf die Einkünfte aus nichtselbständiger Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat in dem ersten der beiden Jahre hat angerechnet werden können, insofern entgegen, als ein so angerechneter Verlust in keinem der betroffenen Mitgliedstaaten von den zu versteuernden Einkünften abgezogen werden kann, während dies sehr wohl möglich wäre, wenn die natürliche Person ihre selbständige und ihre nichtselbständige Tätigkeit ausschließlich in dem Mitgliedstaat ausgeübt hätte, in dem sie ihren Wohnsitz hat.

Ende der Entscheidung

Zurück