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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 14.07.1994
Aktenzeichen: C-438/92
Rechtsgebiete: EWG-Vertrag, UStG


Vorschriften:

EWG-Vertrag Art. 177
UStG § 24 a
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Mit der Sonderbeihilfe, die die Bundesrepublik Deutschland gemäß Artikel 3 der Verordnung Nr. 855/84 den deutschen landwirtschaftlichen Erzeugern mittels einer Mehrwertsteuer-Regelung gewähren darf, soll für diese Erzeuger der Rückgang der Preise und, daraus folgend, der landwirtschaftlichen Einkommen ausgeglichen werden, der sich aus der Anpassung der repräsentativen Kurse ergibt, die für die Umrechnung der durch die landwirtschaftsrechtlichen Vorschriften der Gemeinschaft in Ecu festgesetzten Beträge in DM zugrunde gelegt werden. Da sich der Rückgang der DM-Preise wegen des entsprechenden, gleichzeitigen Abbaus der für die Einfuhren landwirtschaftlicher Erzeugnisse nach Deutschland geltenden positiven Währungsausgleichsbeträge für die Erzeuger anderer Mitgliedstaaten, die ihre Erzeugnisse nach Deutschland ausführen, nicht negativ auswirkt, würde die Gewährung der genannten Beihilfe an die Importeure zu einem ungerechtfertigten Wettbewerbsvorteil führen.

Artikel 3 der Verordnung Nr. 855/84 ist deshalb dahin auszulegen, daß er der Gewährung einer Sonderbeihilfe durch die Bundesrepublik Deutschland an einen in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen landwirtschaftlichen Erzeuger entgegensteht, der seine Erzeugnisse nach Deutschland ausführt, wo sie an deutsche Abnehmer verkauft werden. Gemäß den Grundsätzen der gemeinsamen Agrarpolitik und den sich daraus für die Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten ergebenden Beschränkungen steht die Verordnung Nr. 855/84 ebenfalls der Gewährung einer im Steuerrecht eines Mitgliedstaats mit positiven Währungsausgleichsbeträgen vorgesehenen Sonderbeihilfe an landwirtschaftliche Erzeuger entgegen, die nicht in diesem Mitgliedstaat ansässig sind.


URTEIL DES GERICHTSHOFES (ZWEITE KAMMER) VOM 14. JULI 1994. - RUSTICA SEMENCES SA GEGEN FINANZAMT KEHL. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: FINANZGERICHT BADEN-WUERTTEMBERG - DEUTSCHLAND. - VERORDNUNG (EWG) NR. 855/84 - ABBAU DER WAEHRUNGSAUSGLEICHSBETRAEGE - SONDERBEIHILFE FUER DEUTSCHE ERZEUGER - ERZEUGER, DIE IM STAATSGEBIET EINES ANDEREN MITGLIEDSTAATS ALS DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND ANSAESSIG SIND. - RECHTSSACHE C-438/92.

Entscheidungsgründe:

1 Das Finanzgericht Baden-Württemberg (Deutschland) hat mit Beschluß vom 9. Dezember 1992, beim Gerichtshof eingegangen am 31. Dezember 1992, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag zwei Fragen nach der Auslegung des Artikels 3 der Verordnung (EWG) Nr. 855/84 des Rates vom 31. März 1984 über die Berechnung und den Abbau der Währungsausgleichsbeträge für bestimmte landwirtschaftliche Erzeugnisse (ABl. L 90, S. 1) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen der Rustica Semences SA (im folgenden: Rustica), einer Gesellschaft französischen Rechts mit Sitz in Blagnac (Frankreich), und dem Finanzamt Kehl (Deutschland) wegen einer Steuerkürzung.

3 Rustica betreibt in Frankreich Pflanzenzuechtung und die Produktion von Saatgut. Sie führt ihre Erzeugnisse unter anderem nach Deutschland aus, wo sie mehrwertsteuerpflichtig ist. In ihren Umsatzsteuer-Jahreserklärungen für 1986 und 1987 machte Rustica Kürzungsbeträge gemäß § 24a Umsatzsteuergesetz (UStG) geltend. Mit dieser Bestimmung ist eine Sonderbeihilfe im Sinne von Artikel 3 der Verordnung Nr. 855/84 geschaffen worden.

4 Die erste, die zweite und die dreizehnte Begründungserwägung der Verordnung Nr. 855/84 lauten folgendermassen:

"Die Währungsinstabilität hat in der Landwirtschaft zur Einführung besonderer Umrechnungskurse geführt, mit denen die Stabilität der Preise der landwirtschaftlichen Erzeugnisse sichergestellt werden soll. Die Anwendung dieser repräsentativen Kurse führt zu unterschiedlichen Preisniveaus in den einzelnen Mitgliedstaaten. Im Handelsverkehr müssen diese Preisunterschiede durch die Anwendung von Währungsausgleichsbeträgen ausgeglichen werden. Diese Regelung hat zu Schwierigkeiten geführt.

Die Erfahrung hat gezeigt, daß die Wiedereinbindung der Landwirtschaft in die wirtschaftliche Realität durch Angleichung der repräsentativen Kurse an die Leitkurse vor allem für die Mitgliedstaaten mit positiven WAB, deren Abbau zu einem Preisrückgang in Landeswährung führt, schwierig zu bewerkstelligen ist.

...

Die Anpassung der repräsentativen Kurse in Deutschland und in den Niederlanden führt zu einem Preisrückgang in Landeswährung und folglich zu einem Rückgang des landwirtschaftlichen Einkommens. Zum Ausgleich ist die Möglichkeit der Gewährung einzelstaatlicher Beihilfen vorzusehen, an deren Finanzierung sich die Gemeinschaft im Rahmen einer zeitlich befristeten und degressiven Regelung beteiligt."

5 Artikel 3 der Verordnung Nr. 855/84 lautet:

"(1) Als vereinbar mit dem gemeinsamen Markt gilt eine Sonderbeihilfe, die den deutschen landwirtschaftlichen Erzeugern unter den nachstehend angegebenen Bedingungen gewährt wird.

(2) Die Bundesrepublik Deutschland wird ermächtigt, die Sonderbeihilfe durch Zahlungen zu gewähren, die in der Rechnung und/oder der Mehrwertsteuer-Erklärung aufgeführt werden, und damit die Mehrwertsteuer als Instrument einzusetzen.

Der Betrag dieser Beihilfe darf 3 % des vom Käufer des Agrarerzeugnisses gezahlten Preises vor Mehrwertsteuer nicht übersteigen."

6 Diese Hoechstgrenze von 3 % wurde durch die Entscheidung 84/361/EWG des Rates vom 30. Juni 1984 über eine Beihilfe für die landwirtschaftlichen Erzeuger in der Bundesrepublik Deutschland (ABl. L 185, S. 41) für die Zeit vom 1. Juli 1984 bis 31. Dezember 1988 auf 5 % angehoben.

7 Da die durch Artikel 3 vorgesehene Sonderbeihilfe in Form einer Vergünstigung bei der Mehrwertsteuer gewährt wird, machte sie eine Änderung des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems notwendig. Dementsprechend bestimmt Artikel 2 der Zwanzigsten Richtlinie des Rates vom 16. Juli 1985 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - gemeinsames Mehrwertsteuersystem: Ausnahmeregelung im Zusammenhang mit den Sonderbeihilfen, die bestimmten Landwirten als Ausgleich für den Abbau der Währungsausgleichsbeträge für bestimmte landwirtschaftliche Erzeugnisse gewährt werden (85/361/EWG; ABl. L 192, S. 18), daß die Mehrwertsteuer bis zu der in Artikel 3 der Verordnung Nr. 855/84 genehmigten prozentualen Grenze als Instrument zur Gewährung der Beihilfe eingesetzt werden darf; dies galt bis zum 31. Dezember 1991.

8 Das Finanzamt Kehl vertrat die Auffassung, daß die Steuerkürzung gemäß § 24a UStG deutschen, in Deutschland ansässigen Unternehmen vorbehalten sei, und erkannte daher den von Rustica geltend gemachten Kürzungsanspruch nicht an, da das Unternehmen in Frankreich ansässig sei.

9 Das Finanzgericht Baden-Württemberg, bei dem Rustica gegen diese ablehnende Entscheidung Klage erhob, ist der Auffassung, daß die von ihm zu treffende Entscheidung von der Auslegung des Artikels 3 der Verordnung Nr. 855/84 abhänge. Es hat deshalb das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen vorgelegt:

1) Ist es mit Titel II Artikel 3 Absatz 1 der Verordnung (EWG) Nr. 855/84 des Rates vom 31. März 1984 (ABl. 1984, L 90, S. 1) vereinbar, daß die Bundesrepublik Deutschland eine Sonderbeihilfe gewährt an einen nicht in Deutschland, sondern in einem anderen Land der EG ansässigen landwirtschaftlichen Erzeuger, der seine Erzeugnisse jedoch aus dem Erzeugungsland nach Deutschland einführt und auf dem Markt für landwirtschaftliche Erzeugnisse in Deutschland an deutsche Abnehmer vertreibt?

2) Falls Frage 1 verneint wird: Schließt Titel II Artikel 3 der Verordnung Nr. 855/84 die Gewährung einer etwa unter Verstoß gegen Absatz 1 im deutschen Umsatzsteuerrecht für nicht in Deutschland ansässige landwirtschaftliche Erzeuger vorgesehene Sonderbeihilfe unmittelbar aus?

Zur ersten Frage

10 Angesichts der Fassung dieser Frage ist daran zu erinnern, daß der Gerichtshof nach ständiger Rechtsprechung nicht zur Entscheidung über die Vereinbarkeit einer nationalen Maßnahme mit dem Gemeinschaftsrecht befugt ist (siehe insbesondere Urteil vom 21. Januar 1993 in der Rechtssache C-188/91, Deutsche Shell, Slg. 1993, I-363, Randnr. 27). Er kann jedoch dem vorlegenden Gericht alle Hinweise zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts geben, die es diesem ermöglichen, die Frage der Vereinbarkeit bei der Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits zu beurteilen (Urteil vom 9. Juli 1992 in der Rechtssache C-131/91, "K" Line Air Service Europe, Slg. 1992, I-4513, Randnr. 10).

11 Die vom vorlegenden Gericht gestellte Frage ist deshalb dahin aufzufassen, daß mit ihr geklärt werden soll, ob Artikel 3 der Verordnung Nr. 855/84 der Gewährung einer Sonderbeihilfe durch die Bundesrepublik Deutschland an einen in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen landwirtschaftlichen Erzeuger entgegensteht, der seine Erzeugnisse nach Deutschland ausführt, wo sie an deutsche Abnehmer verkauft werden.

12 Die Änderung der repräsentativen Umrechnungskurse, die nach der zweiten Begründungserwägung der Verordnung Nr. 855/84 zum Zweck der Wiedereinbindung der Landwirtschaft in die wirtschaftliche Realität erfolgte, führte zu einer Senkung der in DM ausgedrückten Interventionspreise und Gemeinschaftsbeihilfen; nach der dreizehnten Begründungserwägung ist es gerade der Zweck der nationalen Sonderbeihilfe, den infolge dieser Senkung eingetretenen Rückgang der landwirtschaftlichen Einkommen auszugleichen.

13 Hingegen wirkt sich der Rückgang der DM-Preise, der mit dem entsprechenden Abbau der positiven Währungsausgleichsbeträge verbunden ist, auf die Preise bei der Einfuhr nach Deutschland nicht aus. Deshalb ist ein zusätzlicher Ausgleich für den Rückgang der in DM ausgedrückten Preise nicht erforderlich, denn ein Ausgleich wird bereits durch die Änderung der positiven Währungsausgleichsbeträge bewirkt, die eine Verringerung der bei der Einfuhr erhobenen Abgabe zur Folge hat. Die Gewährung einer Sonderbeihilfe an die Importeure würde daher eine Überkompensation darstellen und ihnen einen ungerechtfertigten Wettbewerbsvorteil verschaffen.

14 Demnach ist auf die erste Frage zu antworten, daß Artikel 3 der Verordnung Nr. 855/84 dahin auszulegen ist, daß er der Gewährung einer Sonderbeihilfe durch die Bundesrepublik Deutschland an einen in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen landwirtschaftlichen Erzeuger entgegensteht, der seine Erzeugnisse nach Deutschland ausführt, wo sie an deutsche Abnehmer verkauft werden.

Zur zweiten Frage

15 Mit dieser Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die deutschen Behörden unter Berücksichtigung der Antwort auf die erste Frage gleichwohl landwirtschaftlichen Erzeugern, die in einem anderen Mitgliedstaat ansässig sind, unmittelbar eine im deutschen Steuerrecht vorgesehene Sonderbeihilfe gewähren dürfen.

16 Bei der im Ausgangsrechtsstreit in Frage stehenden Sonderbeihilfe handelte es sich um eine Maßnahme der gemeinsamen Agrarpolitik; für diese ist die Gemeinschaft ausschließlich zuständig. Nationale Maßnahmen der Mitgliedstaaten, die der Gemeinschaftsregelung zuwiderlaufen, sind deshalb unzulässig.

17 Wie oben ausgeführt, wurde die Sonderbeihilfe nur zum Ausgleich des Einkommensrückgangs eingeführt, den die Landwirte der Mitgliedstaaten mit positiven Währungsausgleichsbeträgen zu verzeichnen hatten. Daraus folgt, daß die Gewährung einer Sonderbeihilfe in jedem anderen Fall unzulässig ist.

18 Auf die zweite Frage ist deshalb zu antworten, daß die Verordnung Nr. 855/84 der Gewährung einer im Steuerrecht eines Mitgliedstaats mit positiven Währungsausgleichsbeträgen vorgesehenen Sonderbeihilfe an landwirtschaftliche Erzeuger entgegensteht, die nicht in diesem Mitgliedstaat ansässig sind.

Kostenentscheidung:

Kosten

19 Die Auslagen der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben hat, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

auf die ihm vom Finanzgericht Baden-Württemberg mit Beschluß vom 9. Dezember 1992 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

1) Artikel 3 der Verordnung (EWG) Nr. 855/84 des Rates vom 31. März 1984 über die Berechnung und den Abbau der Währungsausgleichsbeträge für bestimmte landwirtschaftliche Erzeugnisse ist dahin auszulegen, daß er der Gewährung einer Sonderbeihilfe durch die Bundesrepublik Deutschland an einen in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen landwirtschaftlichen Erzeuger entgegensteht, der seine Erzeugnisse nach Deutschland ausführt, wo sie an deutsche Abnehmer verkauft werden.

2) Die Verordnung Nr. 855/84 steht der Gewährung einer im Steuerrecht eines Mitgliedstaats mit positiven Währungsausgleichsbeträgen vorgesehenen Sonderbeihilfe an landwirtschaftliche Erzeuger entgegen, die nicht in diesem Mitgliedstaat ansässig sind.

Ende der Entscheidung

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