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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 11.07.1996
Aktenzeichen: C-44/95
Rechtsgebiete: Richtlinie 79/409/EWG vom 2. April 1979, EG-Vertrag, Habitatrichtlinie


Vorschriften:

Richtlinie 79/409/EWG vom 2. April 1979 Artikel 4 Absatz 1
EG-Vertrag Artikel 177
Habitatrichtlinie Artikel 6 Absatz 4
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Artikel 4 Absätze 1 oder 2 der Richtlinie 79/409 über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten, der die Mitgliedstaaten verpflichtet, für bestimmte Arten besondere Schutzmaßnahmen anzuwenden, insbesondere die für ihre Erhaltung geeignetsten Gebiete zu besonderen Schutzgebieten zu erklären, ist dahin auszulegen, daß ein Mitgliedstaat nicht berechtigt ist, die in Artikel 2 dieser Richtlinie genannten wirtschaftlichen Erfordernisse bei der Auswahl und Abgrenzung eines besonderen Schutzgebiets zu berücksichtigen, und sie nicht einmal als Gründe des Gemeinwohls, die Vorrang vor den mit dieser Richtlinie verfolgten Umweltbelangen haben, berücksichtigen darf.

In diesem Zusammenhang darf ein Mitgliedstaat wirtschaftliche Erfordernisse auch dann nicht berücksichtigen, wenn sie zwingende Gründe des überwiegenden öffentlichen Interesses darstellen, wie sie in Artikel 6 Absatz 4 der Richtlinie 92/43 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen genannt sind, der in die Richtlinie 79/409 aufgenommen wurde. Diese Bestimmung hat zwar das Spektrum der Gründe, die eine Beeinträchtigung eines besonderen Schutzgebiets rechtfertigen können, durch ausdrückliche Aufnahme der Gründe sozialer oder wirtschaftlicher Art erweitert, aber für die Anfangsphase der Klassifizierung nach Artikel 4 Absätze 1 und 2 der Richtlinie 79/409 keine Änderung eingeführt, so daß die Klassifizierung als besondere Schutzgebiete in jedem Fall anhand der Kriterien zu erfolgen hat, die nach den letztgenannten Bestimmungen gelten.


Urteil des Gerichtshofes vom 11. Juli 1996. - Regina gegen Secretary of State for the Environment, ex parte: Royal Society for the Protection of Birds. - Ersuchen um Vorabentscheidung: House of Lords - Vereinigtes Königreich. - Richtlinie 79/409/EWG über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten - Richtlinie 92/43/EWG zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen - Abgrenzung besonderer Schutzgebiete - Ermessen der Mitgliedstaaten - Wirtschaftliche und soziale Erwägungen - Lappel Bank. - Rechtssache C-44/95.

Entscheidungsgründe:

1 Das House of Lords hat mit Beschluß vom 9. Februar 1995, beim Gerichtshof eingegangen am 24. Februar 1995, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag zwei Fragen nach der Auslegung der Artikel 2 und 4 der Richtlinie 79/409/EWG des Rates vom 2. April 1979 über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten (ABl. L 103, S. 1; nachstehend: Vogelschutzrichtlinie) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen einer Vereinigung für den Vogelschutz, der Royal Society for the Protection of Birds (nachstehend: RSPB) und dem Secretary of State for the Environment (nachstehend: Umweltminister) über eine Entscheidung, mit der ein besonderes Schutzgebiet für die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten ausgewiesen wurde.

3 Der Geltungsbereich der Vogelschutzrichtlinie umfasst die Erhaltung sämtlicher wildlebenden Vogelarten, die im europäischen Gebiet der Mitgliedstaaten, auf das der Vertrag Anwendung findet, heimisch sind; sie sieht in ihrem Artikel 2 vor, daß die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen treffen, um die Bestände aller dieser Vogelarten auf einem Stand zu halten oder auf einen Stand zu bringen, der insbesondere den ökologischen, wissenschaftlichen und kulturellen Erfordernissen entspricht, wobei den wirtschaftlichen und freizeitbedingten Erfordernissen Rechnung getragen wird.

4 Gemäß Artikel 3 der Vogelschutzrichtlinie treffen die Mitgliedstaaten unter Berücksichtigung der in Artikel 2 genannten Erfordernisse die erforderlichen Maßnahmen, um u. a. durch die Einrichtung von Schutzgebieten für alle geschützten Vogelarten eine ausreichende Vielfalt und eine ausreichende Flächengrösse der Lebensräume zu erhalten oder wiederherzustellen.

5 Gemäß Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie sind auf die in Anhang I aufgeführten Arten besondere Schutzmaßnahmen hinsichtlich ihrer Lebensräume anzuwenden, um ihr Überleben und ihre Vermehrung in ihrem Verbreitungsgebiet sicherzustellen. Die Mitgliedstaaten erklären insbesondere die für die Erhaltung dieser Arten zahlen- und flächenmässig geeignetsten Gebiete zu besonderen Schutzgebieten, wobei die Erfordernisse des Schutzes dieser Arten in dem geographischen Meeres- und Landgebiet, in dem diese Richtlinie Anwendung findet, zu berücksichtigen sind.

6 Artikel 4 Absatz 2 der Richtlinie bestimmt: Die Mitgliedstaaten treffen unter Berücksichtigung der Schutzerfordernisse in dem geographischen Meeres- und Landgebiet, in dem diese Richtlinie Anwendung findet, entsprechende Maßnahmen für die nicht in Anhang I aufgeführten, regelmässig auftretenden Zugvogelarten hinsichtlich ihrer Vermehrungs-, Mauser- und Überwinterungsgebiete sowie der Rastplätze in ihren Wanderungsgebieten. Zu diesem Zweck messen die Mitgliedstaaten dem Schutz der Feuchtgebiete und ganz besonders der international bedeutsamen Feuchtgebiete besondere Bedeutung bei.

7 Schließlich bestimmt Artikel 4 Absatz 4: Die Mitgliedstaaten treffen geeignete Maßnahmen, um die Verschmutzung oder Beeinträchtigung der Lebensräume sowie die Belästigung der Vögel, sofern sich diese auf die Zielsetzungen dieses Artikels erheblich auswirken, in den Absätzen 1 und 2 genannten Schutzgebieten zu vermeiden. Die Mitgliedstaaten bemühen sich ferner, auch ausserhalb dieser Schutzgebiete die Verschmutzung oder Beeinträchtigung der Lebensräume zu vermeiden.

8 Die Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. Mai 1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen (ABl. L 206, S. 7; nachstehend: Habitatrichtlinie), für die die Umsetzungsfrist für das Vereinigte Königreich im Juni 1994 abgelaufen ist, sieht in Artikel 7 vor, daß, was die nach Artikel 4 Absatz 1 der Vogelschutzrichtlinie zu besonderen Schutzgebieten erklärten oder nach deren Artikel 4 Absatz 2 als solche anerkannten Gebiete anbelangt, die Verpflichtungen nach Artikel 6 Absätze 2, 3 und 4 der Habitatrichtlinie an die Stelle der Pflichten treten, die sich aus Artikel 4 Absatz 4 Satz 1 der Vogelschutzrichtlinie ergeben. Artikel 6 Absätze 2, 3 und 4 der Habitatrichtlinie hat folgenden Wortlaut:

(2) Die Mitgliedstaaten treffen die geeigneten Maßnahmen, um in den besonderen Schutzgebieten die Verschlechterung der natürlichen Lebensräume und der Habitate der Arten sowie Störungen von Arten, für die die Gebiete ausgewiesen worden sind, zu vermeiden, sofern solche Störungen sich im Hinblick auf die Ziele dieser Richtlinie erheblich auswirken könnten.

(3) Pläne oder Projekte, die nicht unmittelbar mit der Verwaltung des Gebietes in Verbindung stehen oder hierfür nicht notwendig sind, die ein solches Gebiet jedoch einzeln oder in Zusammenwirkung mit anderen Plänen und Projekten erheblich beeinträchtigen könnten, erfordern eine Prüfung auf Verträglichkeit mit den für dieses Gebiet festgelegten Erhaltungszielen. Unter Berücksichtigung der Ergebnisse der Verträglichkeitsprüfung und vorbehaltlich des Absatzes 4 stimmen die zuständigen einzelstaatlichen Behörden dem Plan bzw. Projekt nur zu, wenn sie festgestellt haben, daß das Gebiet als solches nicht beeinträchtigt wird, und nachdem sie gegebenenfalls die Öffentlichkeit angehört haben.

(4) Ist trotz negativer Ergebnisse der Verträglichkeitsprüfung aus zwingenden Gründen des überwiegenden öffentlichen Interesses einschließlich solcher sozialer oder wirtschaftlicher Art ein Plan oder Projekt durchzuführen und ist eine Alternativlösung nicht vorhanden, so ergreift der Mitgliedstaat alle notwendigen Ausgleichsmaßnahmen, um sicherzustellen, daß die globale Kohärenz von Natura 2000 geschützt ist. Der Mitgliedstaat unterrichtet die Kommission über die von ihm ergriffenen Ausgleichsmaßnahmen.

Ist das betreffende Gebiet ein Gebiet, das einen prioritären natürlichen Lebensraumtyp und/oder eine prioritäre Art einschließt, so können nur Erwägungen im Zusammenhang mit der Gesundheit des Menschen und der öffentlichen Sicherheit oder im Zusammenhang mit maßgeblichen günstigen Auswirkungen für die Umwelt oder, nach Stellungnahme der Kommission, andere zwingende Gründe des überwiegenden öffentlichen Interesses geltend gemacht werden.

9 Das Vereinigte Königreich hat diese Richtlinie erst im Oktober 1994 umgesetzt.

10 Am 15. Dezember 1993 entschied der Umweltminister, die Medway-Mündung und -Sümpfe (Medway Estuary and Marshes) als besonderes Schutzgebiet auszuweisen. Gleichzeitig entschied er, ein Gebiet von etwa 22 ha auf der Lappel Bank nicht in dieses besondere Schutzgebiet aufzunehmen.

11 Aus dem Vorlagebeschluß ergibt sich, daß die Medway Estuary and Marshes ein 4 681 ha grosses, an der Nordküste von Kent gelegenes Feuchtgebiet von internationaler Bedeutung sind, das im Übereinkommen von Ramsar aufgeführt ist. Es wird von vielen Wasser- und Stelzvogelarten als Vermehrungs- und Überwinterungsgebiet sowie als Rastplatz während des Vogelzugs im Frühjahr und Herbst benutzt. Ferner beherbergt das Gebiet während der Fortpflanzungszeit Bestände von Säbelschnäblern und Zwergseeschwalben, die als Arten in Anhang I der Vogelschutzrichtlinie genannt sind.

12 Die Lappel Bank ist ein Gebiet, das aus in der Gezeitenzone liegenden Schlammflächen besteht; es grenzt an seiner Nordseite unmittelbar an den Hafen Sheerneß an und liegt geographisch innerhalb der Grenzen der Medway Estuary and Marshes. Die Lappel Bank weist mehrere der bedeutenden ornithologischen Eigenschaften des gesamten Gebietes auf. Obwohl sie keine der für die Zwecke des Artikels 4 Absatz 1 der Vogelschutzrichtlinie genannten Arten beherbergt, sind einige Arten in bedeutend grösserer Anzahl vertreten als in anderen Teilen des besonderen Schutzgebiets Medway. Die Lappel Bank ist ein bedeutender Bestandteil des gesamten Flußmündungsökosystems, und der Verlust dieses in der Gezeitenzone liegenden Gebietes würde wahrscheinlich zu einem Rückgang der Stelz- und Wildvögelbestände der Medway Estuary and Marshes führen.

13 Der Hafen Sheerneß ist derzeit der fünftgrösste Hafen des Vereinigten Königreichs für den Güter- und Frachtumschlag. Er ist ein gutgehendes Wirtschaftsunternehmen mit einer für den Seehandel und seine wichtigsten Binnenmärkte günstigen Lage. Der Hafen, der im übrigen in der Region, in der es eine hohe Arbeitslosigkeit gibt, ein wichtiger Arbeitgeber ist, plant seine Erweiterung zur Vergrösserung der Anlagen für die Lagerung von Fahrzeugen und für Tätigkeiten mit Wertschöpfung im Fahrzeugbereich sowie auf dem Markt für Obst- und Papiererzeugnisse, um mit den Häfen auf dem Kontinent, die ähnliche Möglichkeiten bieten, besser konkurrieren zu können. Die Lappel Bank ist das einzige Gebiet, das für die Erweiterungsvorhaben des Hafens Sheerneß ernsthaft in Frage kommt.

14 Der Umweltminister entschied schließlich, die Lappel Bank nicht in das besondere Schutzgebiet Medway Estuary and Marshes einzubeziehen, da er die Notwendigkeit, die Existenzfähigkeit des Hafens nicht zu beeinträchtigen, und den erheblichen Beitrag, den dessen Erweiterung in das Gebiet der Lappel Bank zur Wirtschaft der Region und des Landes leisten würde, als vorrangig gegenüber dem Wert dieses Gebietes für den Naturschutz ansah.

15 Die RSPB klagte beim Divisional Court der Queen' s Bench Division auf Nichtigerklärung dieser Entscheidung des Umweltministers mit der Begründung, dieser dürfe nach der Vogelschutzrichtlinie bei der Klassifizierung eines Gebietes als besonderes Schutzgebiet wirtschaftliche Erwägungen nicht berücksichtigen. Der Divisional Court wies die Klage der RSPB ab. Diese Entscheidung wurde im Rechtsmittelverfahren vom Court of Appeal bestätigt. Die RSPB legte weiteres Rechtsmittel zum House of Lords ein.

16 Da das vorlegende Gericht Zweifel hat, wie die Richtlinie auszulegen sei, hat es das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Ist ein Mitgliedstaat berechtigt, die in Artikel 2 der Richtlinie 79/409/EWG des Rates vom 2. April 1979 über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten genannten Erwägungen bei der Klassifizierung eines Gebietes als besonderes Schutzgebiet und/oder der Festlegung der Grenzen eines solchen Gebietes gemäß Artikel 4 Absatz 1 und/oder Artikel 4 Absatz 2 der Richtlinie zu berücksichtigen?

2. Falls die erste Frage verneint wird, kann dann ein Mitgliedstaat dennoch die in Artikel 2 genannten Erwägungen im Klassifizierungsverfahren berücksichtigen, sofern sie

a) Gründe des Gemeinwohls darstellen, die Vorrang vor den mit der Richtlinie verfolgten Umweltbelangen haben (wie es der Europäische Gerichtshof z. B. in der Rechtssache C-57/89, Kommission/Deutschland, "Leybucht-Deiche", für eine Ausnahme von den Anforderungen des Artikels 4 Absatz 4 verlangt hat), oder

b) zwingende Gründe des überwiegenden öffentlichen Interesses darstellen, wie sie gemäß Artikel 6 Absatz 4 der Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. Mai 1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen berücksichtigt werden können?

Zur ersten Frage

17 Mit dieser Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Artikel 4 Absätze 1 oder 2 der Vogelschutzrichtlinie dahin auszulegen ist, daß ein Mitgliedstaat berechtigt ist, die in Artikel 2 dieser Richtlinie genannten wirtschaftlichen Erfordernisse bei der Auswahl und Abgrenzung eines besonderen Schutzgebiets zu berücksichtigen.

18 In der neunten Begründungserwägung der Vogelschutzrichtlinie heisst es: Schutz, Pflege oder Wiederherstellung einer ausreichenden Vielfalt und einer ausreichenden Flächengrösse der Lebensräume ist für die Erhaltung aller [durch die Richtlinie geschützten] Vogelarten unentbehrlich; für einige Vogelarten müssen besondere Maßnahmen zur Erhaltung ihres Lebensraums getroffen werden, um Fortbestand und Fortpflanzung dieser Arten in ihrem Verbreitungsgebiet zu gewährleisten; diese Maßnahmen müssen auch die Zugvogelarten berücksichtigen...

19 Diese Begründungserwägung findet ihren förmlichen Ausdruck in den Artikeln 3 und 4 dieser Richtlinie. Insoweit hat der Gerichtshof im Urteil vom 2. August 1993 in der Rechtssache C-355/90 (Kommission/Spanien, Slg. 1993, I-4221, Randnr. 23, nachstehend: Urteil Santoña-Sümpfe) festgestellt, daß Artikel 3 Verpflichtungen allgemeiner Art begründet, nämlich die Verpflichtung, für alle durch die Richtlinie geschützten Vogelarten eine ausreichende Vielfalt und eine ausreichende Flächengrösse der Lebensräume sicherzustellen, während Artikel 4 besondere Bestimmungen für die in Anhang I aufgezählten Vogelarten und die dort nicht genannten Zugvogelarten enthält.

20 Nach Auffassung der Regierung des Vereinigten Königreichs und der Port of Sheerneß Ltd darf Artikel 4 der Vogelschutzrichtlinie nicht losgelöst von Artikel 3 gesehen werden. Artikel 4 sehe insoweit für bestimmte Arten, die besondere Aufmerksamkeit verdienten, eine spezifische Anwendung der allgemeinen, durch Artikel 3 geschaffenen Verpflichtung vor. Da Artikel 3 die Berücksichtigung wirtschaftlicher Erfordernisse erlaube, müsse für Artikel 4 Absätze 1 und 2 dasselbe gelten.

21 Die französische Regierung kommt zu demselben Ergebnis, wobei sie darauf hinweist, daß die Mitgliedstaaten bei der Einrichtung eines besonderen Schutzgebiets alle in Artikel 2 der Vogelschutzrichtlinie genannten Kriterien ° einschließlich der wirtschaftlichen Erfordernisse, da dieser Artikel allgemeine Bedeutung habe ° berücksichtigten.

22 Diesem Vorbringen ist nicht zu folgen.

23 Artikel 4 der Vogelschutzrichtlinie sieht eine Regelung vor, die gerade die in Anhang I aufgezählten Arten und die Zugvogelarten unter verstärkten Schutz stellt, was durch die Tatsache gerechtfertigt ist, daß es sich um die am meisten bedrohten Arten bzw. um Arten handelt, die ein gemeinsames Erbe der Gemeinschaft darstellen (vgl. Urteil vom 23. Mai 1990 in der Rechtssache C-169/89, Van den Burg, Slg. 1990, I-2143, Randnr. 11).

24 Während jedoch Artikel 3 dieser Richtlinie die Berücksichtigung der in Artikel 2 genannten Erfordernisse vorsieht für die Durchführung der allgemeinen Schutzmaßnahmen, zu denen die Einrichtung von Schutzgebieten gehört, enthält Artikel 4 für die Durchführung der besonderen Schutzmaßnahmen, insbesondere die Einrichtung von besonderen Schutzgebieten, keine solche Verweisung.

25 Wegen des besonderen Schutzzwecks des Artikels 4 und da Artikel 2 nach ständiger Rechtsprechung (vgl. Urteil vom 19. Januar 1994 in der Rechtssache C-435/92, Association pour la protection des animaux sauvages u. a., Slg. 1994, I-67, Randnr. 20) keine eigenständige Abweichung von der durch die Richtlinie aufgestellten allgemeinen Schutzregelung darstellt, dürfen, wie sich aus dem Urteil Santoña-Sümpfe (Randnrn. 17 und 18) ergibt, die in Artikel 4 aufgestellten ökologischen Erfordernisse und die in Artikel 2 aufgezählten Belange, insbesondere die wirtschaftlichen Erfordernisse, nicht gegeneinander abgewogen werden.

26 Die Mitgliedstaaten haben sich bei der Auswahl und Abgrenzung der besonderen Schutzgebiete an den in Artikel 4 Absätze 1 und 2 genannten Kriterien zu orientieren. Aus dem Urteil Santoña-Sümpfe (Randnrn. 26 und 27) ergibt sich, daß es sich dabei um ornithologische Kriterien handelt, auch wenn zwischen den verschiedenen Sprachfassungen des Artikels 4 Absatz 1 Unterabsatz 1 Unterschiede bestehen.

27 Nach alledem ist zu antworten, daß Artikel 4 Absätze 1 oder 2 der Vogelschutzrichtlinie dahin auszulegen ist, daß ein Mitgliedstaat nicht berechtigt ist, die in Artikel 2 dieser Richtlinie genannten wirtschaftlichen Erfordernisse bei der Auswahl und Abgrenzung eines besonderen Schutzgebiets zu berücksichtigen.

Zur zweiten Frage

Zum ersten Teil der zweiten Frage

28 Mit dem ersten Teil der zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Artikel 4 Absätze 1 oder 2 der Vogelschutzrichtlinie dahin auszulegen ist, daß ein Mitgliedstaat bei der Auswahl und Abgrenzung eines besonderen Schutzgebiets wirtschaftliche Erfordernisse als Gründe des Gemeinwohls, die Vorrang vor den mit dieser Richtlinie verfolgten Umweltbelangen haben, berücksichtigen darf.

29 Im Urteil vom 28. Februar 1991 in der Rechtssache C-57/89 (Kommission/Deutschland, Slg. 1991, I-883, Randnrn. 21 f.; nachstehend: Urteil Leybucht-Deiche) hat der Gerichtshof erklärt, daß die Mitgliedstaaten im Rahmen von Artikel 4 Absatz 4 der Vogelschutzrichtlinie die Fläche eines besonderen Schutzgebiets nur dann verkleinern dürfen, wenn dafür ausserordentliche Gründe vorliegen, nämlich Gründe des Gemeinwohls, die Vorrang vor den mit der Richtlinie verfolgten Umweltbelangen haben. In diesem Zusammenhang können diesem Urteil zufolge die wirtschaftlichen Erfordernisse keine Berücksichtigung finden.

30 Ausserdem ergibt sich aus dem Urteil Santoña-Sümpfe (Randnr. 19), daß im Rahmen der mit Artikel 4 dieser Richtlinie getroffenen Gesamtregelung die wirtschaftlichen Erfordernisse jedenfalls keine Gründe des Gemeinwohls, die Vorrang vor den mit ihr verfolgten Umweltbelangen haben, sein können.

31 Somit ist auf den ersten Teil der zweiten Frage zu antworten, daß Artikel 4 Absätze 1 oder 2 der Vogelschutzrichtlinie dahin auszulegen ist, daß ein Mitgliedstaat bei der Auswahl und Abgrenzung eines besonderen Schutzgebiets wirtschaftliche Erfordernisse nicht als Gründe des Gemeinwohls, die Vorrang vor den mit dieser Richtlinie verfolgten Umweltbelangen haben, berücksichtigen darf. Insoweit braucht nicht geprüft zu werden, ob vorrangige Gründe des Gemeinwohls gegebenenfalls bei der Klassifizierung eines Gebietes als besonderes Schutzgebiet erheblich sein können.

Zum zweiten Teil der zweiten Frage

32 Mit dem zweiten Teil der zweiten Frage möchte das House of Lords wissen, ob Artikel 4 Absätze 1 oder 2 der Vogelschutzrichtlinie dahin auszulegen ist, daß ein Mitgliedstaat bei der Auswahl und Abgrenzung eines besonderen Schutzgebiets wirtschaftliche Erfordernisse berücksichtigen darf, die zwingende Gründe des überwiegenden öffentlichen Interesses, wie sie in Artikel 6 Absatz 4 der Habitatrichtlinie genannt sind, darstellen.

33 Nach Auffassung des Vereinigten Königreichs betrifft diese Frage nur den Fall, daß die Entscheidung über die Klassifizierung nach Ablauf der Umsetzungsfrist für die Habitatrichtlinie ergangen ist. Da es sich im Ausgangsverfahren anders verhalte, brauche eine solche Frage nicht beantwortet zu werden.

34 Insoweit genügt der Hinweis, daß es nach ständiger Rechtsprechung allein Sache der nationalen Gerichte ist, bei denen der Rechtsstreit anhängig ist und die die Verantwortung für die zu treffende gerichtliche Entscheidung tragen, unter Berücksichtigung der Besonderheiten der jeweiligen Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlaß ihres Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof von ihnen vorgelegten Fragen zu beurteilen. Das Ersuchen eines nationalen Gerichts kann nur zurückgewiesen werden, wenn offensichtlich kein Zusammenhang zwischen der erbetenen Auslegung des Gemeinschaftsrechts und der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits besteht (vgl. insbesondere Urteil vom 28. März 1996 in der Rechtssache C-129/94, Ruiz Bernáldez, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 7). Das ist im Ausgangsverfahren jedoch nicht der Fall.

35 Daher ist der zweite Teil der zweiten Frage des vorlegenden Gerichts zu prüfen.

36 Artikel 7 der Habitatrichtlinie sieht insbesondere vor, daß für die nach Artikel 4 Absatz 1 der Vogelschutzrichtlinie zu besonderen Schutzgebieten erklärten oder nach deren Artikel 4 Absatz 2 als solche anerkannten Gebiete ab dem Datum für die Anwendung der Habitatrichtlinie bzw. danach ab dem Datum, zu dem das betreffende Gebiet von einem Mitgliedstaat entsprechend der Vogelschutzrichtlinie zum besonderen Schutzgebiet erklärt oder als solches anerkannt wird, anstelle der Verpflichtungen aus Artikel 4 Absatz 4 Satz 1 dieser Richtlinie die Verpflichtungen nach Artikel 6 Absatz 4 der Habitatrichtlinie gelten.

37 Die in die Vogelschutzrichtlinie aufgenommene Regelung des Artikels 6 Absatz 4 der Habitatrichtlinie hat insoweit, wie die Kommission in ihren Erklärungen vorträgt, nach dem Urteil Leybucht-Deiche, in dem es um die Verkleinerung eines bereits klassifizierten Gebietes ging, das Spektrum der Gründe, die eine Beeinträchtigung eines besonderen Schutzgebiets rechtfertigen können, durch ausdrückliche Aufnahme der Gründe sozialer oder wirtschaftlicher Art erweitert.

38 Damit umfassen die zwingenden Gründe des überwiegenden öffentlichen Interesses, die gemäß Artikel 6 Absatz 4 der Richtlinie einen Plan oder ein Projekt rechtfertigen können, die zu einer erheblichen Beeinträchtigung eines besonderen Schutzgebiets führen, jedenfalls die vorrangigen Gründe des Gemeinwohls, wie sie sich aus dem Urteil Leybucht-Deiche ergeben; sie können gegebenenfalls Gründe sozialer oder wirtschaftlicher Art einschließen.

39 Sodann hat zwar Artikel 6 Absätze 3 und 4 der Habitatrichtlinie insofern, als durch ihn Artikel 4 Absatz 4 Satz 1 der Vogelschutzrichtlinie geändert wird, ein Verfahren eingeführt, das es den Mitgliedstaaten erlaubt, aus zwingenden Gründen des überwiegenden öffentlichen Interesses unter bestimmten Voraussetzungen einen Plan oder ein Projekt, die ein besonderes Schutzgebiet beeinträchtigen, zu verabschieden und damit eine Entscheidung über die Klassifizierung eines solchen Gebietes durch Verkleinerung der Fläche wieder rückgängig zu machen. Für die Anfangsphase der Klassifizierung eines Gebietes als besonderes Schutzgebiet nach Artikel 4 Absätze 1 und 2 der Vogelschutzrichtlinie hat er jedoch keine Änderung eingeführt.

40 Folglich hat die Klassifizierung von Gebieten als besondere Schutzgebiete auch im Geltungsbereich der Habitatrichtlinie in jedem Fall anhand der Kriterien zu erfolgen, die nach Artikel 4 Absätze 1 und 2 der Vogelschutzrichtlinie gelten.

41 Die wirtschaftlichen Erfordernisse können in dieser Phase keine Berücksichtigung als zwingende Gründe des überwiegenden öffentlichen Interesses finden, was jedoch, wie die Kommission zu Recht ausgeführt hat, nicht ausschließt, daß sie danach im Rahmen des Verfahrens nach Artikel 6 Absätze 3 und 4 der Habitatrichtlinie berücksichtigt werden können.

42 Daher ist zu antworten, daß Artikel 4 Absätze 1 oder 2 der Vogelschutzrichtlinie dahin auszulegen ist, daß ein Mitgliedstaat bei der Auswahl und Abgrenzung eines besonderen Schutzgebiets wirtschaftliche Erfordernisse nicht berücksichtigen darf, die zwingende Gründe des überwiegenden öffentlichen Interesses, wie sie in Artikel 6 Absatz 4 der Habitatrichtlinie genannt sind, darstellen.

Kostenentscheidung:

Kosten

43 Die Auslagen der französischen Regierung und der Regierung des Vereinigten Königreichs sowie der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

auf die ihm vom House of Lords mit Beschluß vom 9. Februar 1995 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

1. Artikel 4 Absätze 1 oder 2 der Richtlinie 79/409/EWG des Rates vom 2. April 1979 über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten ist dahin auszulegen, daß ein Mitgliedstaat nicht berechtigt ist, die in Artikel 2 dieser Richtlinie genannten wirtschaftlichen Erfordernisse bei der Auswahl und Abgrenzung eines besonderen Schutzgebiets zu berücksichtigen.

2. Artikel 4 Absätze 1 oder 2 der Richtlinie 79/409 ist dahin auszulegen, daß ein Mitgliedstaat bei der Auswahl und Abgrenzung eines besonderen Schutzgebiets wirtschaftliche Erfordernisse nicht als Gründe des Gemeinwohls, die Vorrang vor den mit dieser Richtlinie verfolgten Umweltbelangen haben, berücksichtigen darf.

3. Artikel 4 Absätze 1 oder 2 der Richtlinie 79/409 ist dahin auszulegen, daß ein Mitgliedstaat bei der Auswahl und Abgrenzung eines besonderen Schutzgebiets wirtschaftliche Erfordernisse nicht berücksichtigen darf, die zwingende Gründe des überwiegenden öffentlichen Interesses, wie sie in Artikel 6 Absatz 4 der Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. Mai 1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen genannt sind, darstellen.

Ende der Entscheidung

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