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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 09.11.1995
Aktenzeichen: C-465/93
Rechtsgebiete: EG-Vertrag


Vorschriften:

EG-Vertrag Art. 177
EG-Vertrag Art. 185
EG-Vertrag Art. 186
EG-Vertrag Art. 189 Abs. 1
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Artikel 189 des Vertrages schließt die Befugnis der nationalen Gerichte nicht aus, in bezug auf einen nationalen Verwaltungsakt, der auf einer Gemeinschaftsverordnung beruht, deren Gültigkeit Gegenstand eines Vorabentscheidungsersuchens ist, einstweilige Anordnungen zur vorläufigen Gestaltung oder Regelung der streitigen Rechtspositionen oder -verhältnisse zu treffen.

Denn der Gerichtshof hat aufgrund des Erfordernisses der Kohärenz des Systems des vorläufigen Rechtsschutzes bereits den nationalen Gerichten, die ihn mit derartigen Anträgen befasst hatten, die Möglichkeit eingeräumt, die Vollziehung eines auf der angefochtenen Verordnung beruhenden nationalen Verwaltungsakts auszusetzen, mit der Begründung, daß Artikel 185 des Vertrages dem Kläger im Rahmen einer Nichtigkeitsklage das Recht gibt, die Aussetzung der Durchführung der angefochtenen Handlung zu beantragen, und dem Gerichtshof die Befugnis verleiht, die Aussetzung anzuordnen. Zum einen ermächtigt der Vertrag den Gerichtshof nicht nur in Artikel 185, diese Aussetzung anzuordnen, sondern verleiht ihm in Artikel 186 ausserdem die Befugnis, die erforderlichen einstweiligen Anordnungen zu treffen, und zum andern darf der vorläufige Schutz, den die nationalen Gerichte den Bürgern aufgrund des Gemeinschaftsrechts gewähren müssen, nicht davon abhängen, ob diese die Aussetzung der Vollziehung eines nationalen Verwaltungsakts oder den Erlaß der in Rede stehenden einstweiligen Anordnungen beantragen, denn der Erlaß derartiger Anordnungen hat seiner Natur nach keine grösseren Auswirkungen auf die Gemeinschaftsrechtsordnung als die blosse Aussetzung der Vollziehung eines auf einer Gemeinschaftsverordnung beruhenden nationalen Verwaltungsakts.

Das nationale Gericht darf derartige einstweilige Anordnungen nur erlassen, wenn es erhebliche Zweifel an der Gültigkeit der Handlung der Gemeinschaft hat und diese in seiner Entscheidung darlegt; wenn es, sofern der Gerichtshof mit dieser Gültigkeitsfrage noch nicht befasst ist, sie diesem selbst vorlegt; wenn die Entscheidung dringlich ist in dem Sinne, daß die einstweiligen Anordnungen erforderlich sind, um zu vermeiden, daß die sie beantragende Partei einen schweren und nicht wiedergutzumachenden Schaden erleidet, und wenn das Interesse der Gemeinschaft angemessen berücksichtigt wird. Diese Berücksichtigung verpflichtet das nationale Gericht, zu prüfen, ob der fraglichen Gemeinschaftsverordnung nicht jede praktische Wirksamkeit genommen wird, wenn sie nicht sofort angewandt wird, und insoweit der eventuellen Beeinträchtigung der in der gesamten Gemeinschaft eingeführten rechtlichen Regelung Rechnung zu tragen. Sie setzt im übrigen voraus, daß dieses Gericht die Möglichkeit hat, wenn der Erlaß von Maßnahmen des vorläufigen Rechtsschutzes ein finanzielles Risiko für die Gemeinschaft darstellt, von dem Antragsteller hinreichende Sicherheiten zu verlangen. Schließlich muß das nationale Gericht bei der Prüfung aller dieser Voraussetzungen die Entscheidungen des Gerichtshofes oder des Gerichts erster Instanz über die Rechtmässigkeit der Verordnung oder einen Beschluß im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes betreffend gleichartige einstweilige Anordnungen auf Gemeinschaftsebene beachten.


URTEIL DES GERICHTSHOFES VOM 9. NOVEMBER 1995. - ATLANTA FRUCHTHANDELSGESELLSCHAFT MBH UND ANDERE GEGEN BUNDESAMT FUER ERNAEHRUNG UND FORSTWIRTSCHAFT. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: VERWALTUNGSGERICHT FRANKFURT AM MAIN - DEUTSCHLAND. - VERORDNUNG - VORABENTSCHEIDUNGSERSUCHEN - GUELTIGKEITSPRUEFUNG - VORLEGENDES GERICHT - EINSTWEILIGE ANORDNUNGEN. - RECHTSSACHE C-465/93.

Entscheidungsgründe:

1 Das Verwaltungsgericht Frankfurt am Main hat mit Beschluß vom 1. Dezember 1993, beim Gerichtshof eingegangen am 14. Dezember 1993, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag zwei Fragen nach der Auslegung des Artikels 189 EG-Vertrag, insbesondere nach der Befugnis des nationalen Gerichts, einstweilige Anordnungen zu erlassen, durch die eine Verordnung unanwendbar wird, bis der um Vorabentscheidung ersuchte Gerichtshof über ihre Gültigkeit entschieden hat, zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen der Atlanta Fruchthandelsgesellschaft mbH und 17 anderen Gesellschaften der Atlanta-Gruppe (im folgenden: Antragstellerinnen) und dem Bundesamt für Ernährung und Forstwirtschaft (im folgenden: Antragsgegner) wegen der Zuweisung von Einfuhrkontingenten für Drittlandsbananen.

3 Durch die Verordnung (EWG) Nr. 404/93 des Rates vom 13. Februar 1993 über die gemeinsame Marktorganisation für Bananen (ABl. L 47, S. 1, im folgenden: Verordnung) wurde ab 1. Juli 1993 eine gemeinsame Einfuhrregelung eingeführt, die an die Stelle der verschiedenen nationalen Regelungen trat.

4 In Titel IV dieser Verordnung, der die Regelung für den Handel mit dritten Ländern enthält, bestimmt Artikel 18, daß jährlich ein Zollkontingent in Höhe von 2 Millionen Tonnen Eigengewicht für Einfuhren von Drittlandsbananen und nicht herkömmliche Einfuhren von AKP-Bananen eröffnet wird, daß nicht herkömmliche Einfuhren von AKP-Bananen einem Zollsatz von Null unterliegen und daß auf Einfuhren von Drittlandsbananen eine Abgabe von 100 ECU/Tonne erhoben wird. Ausserhalb dieses Kontingents unterliegen nicht herkömmliche Einfuhren von AKP-Bananen einer Abgabe von 750 ECU/Tonnen und Einfuhren von Drittlandsbananen einer Abgabe von 850 ECU/Tonnen.

5 Artikel 19 Absatz 1 nimmt eine Aufteilung des Zollkontingents vor, das anteilig wie folgt eröffet wird: 66,5 % für die Gruppe der Marktbeteiligten, die Drittlandsbananen und/oder nichttraditionelle AKP-Bananen vermarktet haben, 30 % für die Gruppe der Marktbeteiligten, die Gemeinschaftsbananen und/oder traditionelle AKP-Bananen vermarktet haben, 3,5 % für in der Gemeinschaft niedergelassene Marktbeteiligte, die ab 1992 mit der Vermarktung von anderen als Gemeinschafts- und/oder traditionellen AKP-Bananen begonnen haben.

6 Artikel 21 Absatz 2 der Verordnung hebt das jährliche Kontingent für die zollfreie Einfuhr von Bananen auf, das in dem Protokoll im Anhang des in Artikel 136 des Vertrages vorgesehenen Durchführungsabkommens über die Assoziierung der überseeischen Länder und Hoheitsgebiete mit der Gemeinschaft zugunsten der Bundesrepublik Deutschland vorgesehen war.

7 Entsprechend der Gemeinschaftsregelung erhielten die Antragstellerinnen, die traditionell Bananen aus Drittländern einführen, vom Antragsgegner vorläufige Einfuhrkontingente für Drittlandsbananen für den Zeitraum vom 1. Juli bis 30. September 1993.

8 Da die Antragstellerinnen der Ansicht waren, daß die Verordnung ihre Einfuhrmöglichkeiten für Drittlandsbananen beschränkt habe, legten sie Widerspruch beim Antragsgegner ein.

9 Nach Zurückweisung ihres Widerspruchs erhoben sie Anfechtungsklage beim Verwaltungsgericht Frankfurt am Main.

10 Da das Verwaltungsgericht die Bedenken der Antragstellerinnen gegen die Gültigkeit der Verordnung teilte, hat es mit einem ersten Beschluß vom 1. Dezember 1993 das Verfahren bis zur Vorabentscheidung des Gerichtshofes über die Gültigkeit der Verordnung ausgesetzt (Rechtssache C-466/93).

11 Die Antragstellerinnen haben beantragt, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, bis zum Erlaß des Urteils des Gerichtshofes auf das Ersuchen um Vorabentscheidung über die Gültigkeit zusätzliche Einfuhrlizenzen für Drittlandsbananen für das zweite Halbjahr 1993 über die bereits zugeteilten Mengen hinaus zu erteilen.

12 Mit einem zweiten Beschluß, der ebenfalls am 1. Dezember 1993 erlassen worden ist, ersucht das Verwaltungsgericht den Gerichtshof in der vorliegenden Rechtssache um Vorabentscheidung über folgende Fragen:

1) Darf ein nationales Gericht, das erhebliche Zweifel an der Gültigkeit einer Gemeinschaftsverordnung hat und das deshalb die Frage nach der Gültigkeit der Gemeinschaftsverordnung dem Europäischen Gerichtshof im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens vorgelegt hat, für den Zeitraum bis zur Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes in bezug auf einen Verwaltungsakt einer nationalen Behörde, der auf der vorgelegten Gemeinschaftsverordnung beruht, durch Erlaß einer einstweiligen Anordnung eine vorläufige Gestaltung oder Regelung der streitigen Rechtspositionen oder -verhältnisse treffen?

2) Falls die Frage zu 1 bejaht wird:

Unter welchen Voraussetzungen ist in derartigen Fällen ein nationales Gericht befugt, eine einstweilige Anordnung zu erlassen? Ist im Hinblick auf die Voraussetzungen für den Erlaß einer einstweiligen Anordnung zu unterscheiden zwischen einer einstweiligen Anordnung, die auf die Sicherung einer bereits bestehenden Rechtsposition gerichtet ist, und einer einstweiligen Anordnung, die auf die Begründung einer neuen Rechtsposition gerichtet ist?

13 In demselben Beschluß hat das Verwaltungsgericht dem Antragsgegner aufgegeben, den Antragstellerinnen für die Monate November und Dezember 1993 weitere Einfuhrlizenzen zum Zollsatz von 100 ECU pro Tonne zu erteilen.

14 Die Erteilung der Lizenzen unterlag der Voraussetzung, daß die Antragstellerinnen von den ihnen für das Jahr 1994 zustehenden Einfuhrlizenzen für Drittlandsbananen zu einem Zollsatz von 100 ECU pro Tonne in dem Umfang einstweilen keinen Gebrauch machten, in dem ihnen für das Jahr 1993 ausserhalb der endgültigen Kontingentsmengen gemäß dem Beschluß vorläufig weitere Einfuhrlizenzen erteilt wurden. Durch diese Voraussetzung sollte sichergestellt werden, daß im Falle des Unterliegens der Antragstellerinnen in der Hauptsache die ihnen für 1993 zusätzlich zugewiesenen Kontingente auf die ihnen für 1994 zustehenden Kontingente angerechnet werden konnten.

15 Das Verwaltungsgericht weist im Vorlagebeschluß darauf hin, daß der Gerichtshof im Urteil vom 21. Februar 1991 in den Rechtssachen C-143/88 und C-92/89 (Zuckerfabrik Süderdithmarschen und Zuckerfabrik Söst, Slg. 1991, I-415, im folgenden: Urteil Zuckerfabrik Sü;derdithmarschen u. a.) entschieden habe, daß die Kohärenz des vorläufigen Rechtsschutzes der Bürger verlange, daß das nationale Gericht, das den Gerichtshof um Vorabentscheidung über die Gültigkeit einer Verordnung ersucht habe, die Vollziehung eines auf dieser Verordnung beruhenden nationalen Verwaltungsakts aussetzen könne. Der Gerichtshof habe jedoch noch nicht zu der Befugnis des nationalen Gerichts Stellung genommen, in einem solchen Fall einstweilige Anordnungen zu erlassen, die zugunsten des Bürgers eine neue Rechtslage schaffen. Das vorlegende Gericht gibt zu bedenken, daß die Gewährung eines solchen vorläufigen Schutzes die uneingeschränkte Wirkung dieser Verordnung in allen Mitgliedstaaten beeinträchtigen könne.

16 Der Erlaß der einstweiligen Anordnung wird im vorliegenden Fall mit der Erwägung begründet, daß eine Ablehnung gegen die durch Artikel 19 Absatz 4 GG verbürgte Rechtsschutzgarantie verstossen würde. Wäre das Verwaltungsgericht nicht befugt, gegenüber den auf Gemeinschaftsrecht beruhenden Verwaltungsakten nationaler Behörden Schutz zu gewähren, so müsste es die Frage der Vereinbarkeit des nationalen Zustimmungsgesetzes zum EWG-Vertrag mit Artikel 19 Absatz 4 GG dem Bundesverfassungsgericht vorlegen. Hinsichtlich der Voraussetzungen für den Erlaß einstweiliger Anordnungen verweist das Verwaltungsgericht auf Artikel 186 EG-Vertrag.

17 Der Gerichtshof hat mit Beschluß vom 29. Juni 1993 in der Rechtssache C-280/93 R (Deutschland/Rat, Slg. 1993, I-3667) einen Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung zurückgewiesen, mit der der Bundesrepublik Deutschland gestattet werden sollte, bis zur Entscheidung des Gerichtshofes zur Hauptsache die Einfuhr von Bananen mit Ursprung in Drittländern jährlich in der gleichen Menge wie 1992 zollfrei zuzulassen, da die Voraussetzungen für den Erlaß der beantragten einstweiligen Anordnung seiner Meinung nach nicht erfuellt waren.

18 Mit Urteil vom 5. Oktober 1994 in der Rechtssache C-280/93 (Deutschland/Rat, Slg. 1994, I-4973) hat der Gerichtshof die gegen die Verordnung erhobene Nichtigkeitsklage abgewiesen.

Zur ersten Frage betreffend die grundsätzliche Befugnis zum Erlaß einstweiliger Anordnungen

19 Die erste Frage geht dahin, ob Artikel 189 des Vertrages so auszulegen ist, daß er die Befugnis der nationalen Gerichte ausschließt, in bezug auf einen nationalen Verwaltungsakt, der auf einer Gemeinschaftsverordnung beruht, deren Gültigkeit Gegenstand eines Vorabentscheidungsersuchens ist, einstweilige Anordnungen zur vorläufigen Gestaltung oder Regelung der streitigen Rechtspositionen oder -verhältnisse zu treffen.

20 Der Gerichtshof hat im Urteil Zuckerfabrik Sü;derdithmarschen u. a. entschieden, daß Artikel 189 Absatz 2 des Vertrages den Rechtsschutz nicht verkürzen kann, der den Bürgern nach Gemeinschaftsrecht zusteht. Der gemeinschaftsrechtlich gewährleistete Rechtsschutz umfasst in den Fällen, in denen die verwaltungsmässige Durchführung von Gemeinschaftsverordnungen nationalen Stellen obliegt, das Recht der Bürger, die Rechtmässigkeit dieser Verordnungen vor dem nationalen Gericht inzident zu bestreiten und dieses zur Befassung des Gerichtshofes mit Vorlagefragen zu veranlassen (Randnr. 16).

21 Dieses Recht wäre gefährdet, wenn der Bürger solange, als es an einem Urteil des Gerichtshofes fehlt, der allein befugt ist, die Ungültigkeit einer Gemeinschaftsverordnung festzustellen (vgl. Urteil vom 22. Oktober 1987 in der Rechtssache 314/85, Foto-Frost, Slg. 1987, 4199, Randnr. 20), trotz des Vorliegens bestimmter Voraussetzungen nicht in der Lage wäre, eine Aussetzung der Vollziehung zu erreichen und damit für sich der Verordnung einstweilen die Wirksamkeit zu nehmen (Urteil Zuckerfabrik Sü;derdithmarschen u. a., Randnr. 17).

22 Wie der Gerichtshof im Urteil Foto-Frost (Randnr. 16) ausgeführt hat, stellt das Vorabentscheidungsersuchen zur Beurteilung der Gültigkeit, ebenso wie die Nichtigkeitsklage, eine Form der Kontrolle der Rechtmässigkeit der Handlungen der Gemeinschaftsorgane dar. Im Rahmen einer Nichtigkeitsklage gibt Artikel 185 EG-Vertrag aber dem Kläger das Recht, eine Aussetzung der Durchführung der angefochtenen Handlung zu beantragen, und dem Gerichtshof die Befugnis, sie zu gewähren. Die Kohärenz des Systems des vorläufigen Rechtsschutzes verlangt somit, daß das nationale Gericht die Vollziehung eines auf einer Gemeinschaftsverordnung beruhenden nationalen Verwaltungsakts aussetzen kann, wenn dessen Rechtmässigkeit bestritten wird (Urteil Zuckerfabrik Sü;derdithmarschen u. a., Randnr. 18).

23 Im übrigen hat der Gerichtshof im Urteil vom 19. Juni 1990 in der Rechtssache C-213/89 (Factortame, Slg. 1990, I-2433), das im Rahmen eines Verfahrens über die Vereinbarkeit eines nationalen Gesetzes mit dem Gemeinschaftsrecht erging, unter Berufung auf die praktische Wirksamkeit des Artikels 177 ausgeführt, daß das nationale Gericht, das ihm Auslegungsfragen zur Vorabentscheidung vorgelegt hatte, um über die Frage der Vereinbarkeit entscheiden zu können, die Möglichkeit haben muß, vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren und die Anwendung des beanstandeten nationalen Gesetzes auszusetzen, bis der Gerichtshof sein Auslegungsurteil gemäß Artikel 177 erlässt (Urteil Zuckerfabrik Sü;derdithmarschen u. a., Randnr. 19).

24 Der vorläufige Rechtsschutz, den das Gemeinschaftsrecht den Bürgern vor den nationalen Gerichten sichert, muß unabhängig davon derselbe sein, ob sie die Unvereinbarkeit nationalen Rechts mit dem Gemeinschaftsrecht oder die Ungültigkeit abgeleiteten Gemeinschaftsrechts geltend machen, da diese Rüge in beiden Fällen auf das Gemeinschaftsrecht selbst gestützt ist (Urteil Zuckerfabrik Sü;derdithmarschen u. a., Randnr. 20).

25 Deshalb hat der Gerichtshof im Urteil Zuckerfabrik Sü;derdithmarschen u. a. entschieden, daß Artikel 189 die Befugnis der nationalen Gerichte nicht ausschließt, die Vollziehung eines auf einer Gemeinschaftsverordnung beruhenden nationalen Verwaltungsakts auszusetzen.

26 Mit dem vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen befragt das nationale Gericht den Gerichtshof nicht über die Aussetzung der Vollziehung eines auf einer Gemeinschaftsverordnung beruhenden nationalen Verwaltungsakts, sondern über den Erlaß einer positiven Anordnung, durch die diese Verordnung vorläufig unanwendbar wird.

27 Der Vertrag ermächtigt den Gerichtshof im Rahmen der Nichtigkeitsklage nicht nur in Artikel 185, die Durchführung der angefochtenen Handlung auszusetzen, sondern verleiht ihm in Artikel 186 ausserdem die Befugnis, die erforderlichen einstweiligen Anordnungen zu treffen.

28 Welchen vorläufigen Schutz die nationalen Gerichte den Bürgern aufgrund des Gemeinschaftsrechts gewähren müssen, darf nicht davon abhängen, ob diese die Aussetzung der Vollziehung eines auf einer Gemeinschaftsverordnung beruhenden nationalen Verwaltungsakts oder den Erlaß einstweiliger Anordnungen zur vorläufigen Gestaltung oder Regelung der streitigen Rechtspositionen oder -verhältnisse zu ihren Gunsten beantragen.

29 Entgegen der Auffassung der spanischen und der italienischen Regierung hat der Erlaß derartiger einstweiliger Anordnungen seiner Natur nach keine grösseren Auswirkungen auf die Gemeinschaftsrechtsordnung als die blosse Aussetzung der Vollziehung eines auf einer Gemeinschaftsverordnung beruhenden nationalen Verwaltungsakts. Die Auswirkungen von Maßnahmen des vorläufigen Rechtsschutzes - in welcher Form dieser auch gewährt wird - auf die Gemeinschaftsordnung sind unter Abwägung des Interesses der Gemeinschaft und des Interesses des Bürgers zu beurteilen; dies ist Gegenstand der zweiten Vorabentscheidungsfrage.

30 Aufgrund dieser Erwägungen ist auf die erste Frage zu antworten, daß Artikel 189 des Vertrages dahin auszulegen ist, daß er die Befugnis der nationalen Gerichte nicht ausschließt, in bezug auf einen nationalen Verwaltungsakt, der auf einer Gemeinschaftsverordnung beruht, deren Gültigkeit Gegenstand eines Vorabentscheidungsersuchens ist, einstweilige Anordnungen zur vorläufigen Gestaltung oder Regelung der streitigen Rechtspositionen oder -verhältnisse zu treffen.

Zur zweiten Frage betreffend die Voraussetzungen für den Erlaß einstweiliger Anordnungen

31 Das Verwaltungsgericht fragt weiter, unter welchen Voraussetzungen die innerstaatlichen Gerichte derartige einstweilige Anordnungen treffen können.

32 Der Gerichtshof hat im Urteil Zuckerfabrik Sü;derdithmarschen u. a. entschieden, daß ein nationales Gericht die Vollziehung eines auf einer Gemeinschaftsverordnung beruhenden nationalen Verwaltungsakts nur aussetzen darf, wenn es erhebliche Zweifel an der Gültigkeit der Gemeinschaftsverordnung hat und diese Gültigkeitsfrage, sofern der Gerichtshof mit ihr noch nicht befasst ist, diesem selbst vorlegt, wenn die Entscheidung dringlich ist und dem Antragsteller ein schwerer und nicht wiedergutzumachender Schaden droht und wenn das Gericht das Interesse der Gemeinschaft angemessen berücksichtigt.

33 Diese Voraussetzungen muß das nationale Gericht beim Erlaß jeder Maßnahme des vorläufigen Rechtsschutzes beachten, einschließlich einer positiven Anordnung, durch die die Verordnung, deren Gültigkeit bestritten wird, zugunsten des Bürgers vorläufig unanwendbar wird.

34 Aufgrund des Kontexts der vorliegenden Rechtssache besteht jedoch Anlaß, diese Voraussetzungen zu verdeutlichen.

35 Im Urteil Zuckerfabrik Sü;derdithmarschen u. a. hat der Gerichtshof entschieden, daß die Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsakts nur ausgesetzt werden kann, wenn die vom Antragsteller angeführten sachlichen und rechtlichen Gegebenheiten das nationale Gericht davon überzeugen, daß an der Gültigkeit der Gemeinschaftsverordnung, auf der der angefochtene Verwaltungsakt beruht, erhebliche Zweifel bestehen. Die Aussetzung rechtfertigt sich nämlich allein aus der Möglichkeit einer Feststellung der Ungültigkeit, die dem Gerichtshof vorbehalten ist (Randnr. 23).

36 Dieses Erfordernis bedeutet, daß das nationale Gericht sich nicht darauf beschränken kann, an den Gerichtshof ein Vorabentscheidungsersuchen zur Prüfung der Gültigkeit der Verordnung zu richten, sondern daß es zum Zeitpunkt des Erlasses der Maßnahme des vorläufigen Rechtsschutzes angeben muß, weshalb es meint, daß der Gerichtshof die Ungültigkeit dieser Verordnung feststellen muß.

37 Insoweit muß das nationale Gericht den Umfang des Ermessensspielraums berücksichtigen, der den Gemeinschaftsorganen nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes in den betroffenen Sektoren zuerkannt werden muß.

38 Der Gerichtshof hat im Urteil Zuckerfabrik Sü;derdithmarschen u. a. weiter entschieden, daß die erlassenen Anordnungen vorläufigen Charakter haben müssen (Randnr. 24). Deshalb kann das nationale Gericht im Rahmen der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes einstweilige Anordnungen nur solange treffen und aufrechterhalten, als der Gerichtshof nicht festgestellt hat, daß die Prüfung der Vorabentscheidungsfragen nichts ergeben hat, was die Gültigkeit der fraglichen Verordnung beeinträchtigen könnte.

39 Da die Befugnis der nationalen Gerichte, einstweilige Anordnungen zu treffen, der Befugnis des Gerichtshofes nach Artikel 186 im Rahmen der Klagen nach Artikel 173 des Vertrages entspricht, können die nationalen Gerichte diese Anordnungen nur unter den Voraussetzungen treffen, die für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes durch den Gerichtshof gelten (Urteil Zuckerfabrik Sü;derdithmarschen u. a., Randnr. 27).

40 Dazu hat der Gerichtshof im Urteil Zuckerfabrik Sü;derdithmarschen u. a. ausgeführt, daß nach seiner ständigen Rechtsprechung Maßnahmen des vorläufigen Rechtsschutzes nur erlassen werden können, wenn sie dringlich sind, wenn sie also vor der Entscheidung zur Hauptsache erlassen und wirksam werden müssen, damit der Antragsteller keinen schweren und nicht wiedergutzumachenden Schaden erleidet (Randnr. 28).

41 Dringlichkeit ist dabei nur anzunehmen, wenn der vom Antragsteller geltend gemachte Schaden eintreten kann, bevor der Gerichtshof über die Gültigkeit der gerügten Gemeinschaftshandlung entscheiden kann. Zur Art des Schadens hat der Gerichtshof wiederholt entschieden, daß ein reiner Geldschaden grundsätzlich nicht als nicht wiedergutzumachen anzusehen ist. Jedoch ist es Sache des jeweiligen Gerichts, im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzes die Umstände des Falles zu untersuchen, mit dem es befasst ist. Dabei hat es zu prüfen, ob die sofortige Vollziehung des Verwaltungsakts, hinsichtlich dessen der Erlaß einstweiliger Anordnungen beantragt wird, dem Antragsteller irreversible Schäden zufügen könnte, die nicht mehr wiedergutzumachen wären, wenn die Gemeinschaftshandlung für ungültig erklärt werden müsste (Urteil Zuckerfabrik Sü;derdithmarschen u. a., Randnr. 29).

42 Im übrigen hat das nationale Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit Gemeinschaftsrecht anzuwenden hat, dessen volle Wirkung sicherzustellen; damit ist es bei Zweifeln an der Gültigkeit von Gemeinschaftsverordnungen verpflichtet, das Interesse der Gemeinschaft daran in Rechnung zu stellen, daß diese Verordnungen nicht vorschnell ausser Anwendung gelassen werden (Urteil Zuckerfabrik Sü;derdithmarschen u. a., Randnr. 30).

43 Dieser Verpflichtung wird das nationale Gericht, bei dem ein Antrag auf Erlaß einstweiliger Anordnungen gestellt wird, nur gerecht, wenn es zunächst prüft, ob der fraglichen Gemeinschaftsverordnung nicht jede praktische Wirksamkeit genommen wird, wenn sie nicht sofort angewandt wird (Urteil Zuckerfabrik Sü;derdithmarschen u. a., Randnr. 31).

44 Das nationale Gericht muß dabei die Beeinträchtigung berücksichtigen, die von der Maßnahme des vorläufigen Rechtsschutzes für die durch diese Verordnung in der gesamten Gemeinschaft eingeführte rechtliche Regelung ausgehen kann. Zu berücksichtigen sind sowohl die kumulative Wirkung, die eintreten würde, wenn zahlreiche Gerichte aus ähnlichen Gründen ebenfalls Maßnahmen des vorläufigen Rechtsschutzes erlassen würden, als auch die Besonderheit der Situation des Antragstellers, die diesen von den übrigen betroffenen Wirtschaftsteilnehmern unterscheidet.

45 Wenn der Erlaß von Maßnahmen des vorläufigen Rechtsschutzes ein finanzielles Risiko für die Gemeinschaft darstellt, muß das nationale Gericht im übrigen die Möglichkeit haben, von dem Antragsteller hinreichende Sicherheiten, etwa eine Kaution oder eine Hinterlegung, zu verlangen (Urteil Zuckerfabrik Sü;derdithmarschen u. a., Randnr. 32).

46 Bei der Prüfung der Voraussetzungen für den Erlaß der Maßnahme des vorläufigen Rechtsschutzes ist das nationale Gericht nach Artikel 5 des Vertrages verpflichtet, Entscheidungen des Gemeinschaftsrichters über die vor ihm aufgeworfenen Streitfragen zu beachten. So darf das nationale Gericht, wenn der Gerichtshof eine Nichtigkeitsklage gegen die fragliche Verordnung als unbegründet abgewiesen oder im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens zur Prüfung der Gültigkeit festgestellt hat, daß die Prüfung der Vorabentscheidungsfragen nichts ergeben hat, was die Gültigkeit dieser Verordnung beeinträchtigen könnte, keine Maßnahmen des vorläufigen Rechtsschutzes mehr erlassen oder muß diese aufheben, sofern nicht vor ihm andere Rechtswidrigkeitsgründe geltend gemacht worden sind als die Nichtigkeits- oder Rechtswidrigkeitsgründe, die der Gerichtshof in seinem Urteil zurückgewiesen hat. Dasselbe gilt, wenn das Gericht erster Instanz in einem rechtskräftig gewordenen Urteil eine Nichtigkeitsklage gegen die Verordnung als unbegründet abgewiesen oder eine gegen ihre Gültigkeit erhobene Einrede als unbegründet zurückgewiesen hat.

47 Im vorliegenden Fall war der Gerichtshof im Rahmen einer Nichtigkeitsklage eines Mitgliedstaats gegen die Verordnung mit der gleichen Sachlage befasst, wie sie dem Rechtsstreit vor dem nationalen Gericht zugrunde liegt, und hat entschieden, daß die Mitgliedstaaten die - namentlich wirtschaftlichen und sozialen - Interessen zu vertreten haben, die auf nationaler Ebene als allgemeine Interessen gelten, und daß sie daher zur Verteidigung dieser Interessen klagebefugt sind. Folglich können sie Schäden geltend machen, die einen ganzen Sektor ihrer Volkswirtschaft betreffen, zumal wenn die beanstandete Gemeinschaftsmaßnahme nachteilige Auswirkungen auf das Beschäftigungsniveau und die Lebenshaltungskosten haben kann (Beschluß Deutschland/Rat, a. a. O., Randnr. 27).

48 Zwar ist es Sache des nationalen Gerichts, das die Rechte des einzelnen zu wahren hat, zu beurteilen, inwieweit die Ablehnung einer Maßnahme des vorläufigen Rechtsschutzes geeignet ist, wesentliche individuelle Interessen des einzelnen in schwerer und nicht wiedergutzumachender Weise zu beeinträchtigen.

49 Kann der Antragsteller jedoch nicht dartun, daß er sich in einer besonderen Situation befindet, die ihn von den übrigen Wirtschaftsteilnehmern des betreffenden Sektors unterscheidet, so muß das nationale Gericht eine bereits vom Gerichtshof vorgenommene Beurteilung der Frage beachten, ob es sich um einen schweren und nicht wiedergutzumachenden Schaden handelt.

50 Die Verpflichtung des nationalen Gerichts, eine eventuelle Entscheidung des Gerichtshofes zu beachten, gilt ganz besonders für die vom Gerichtshof vorgenommene Beurteilung des Interesses der Gemeinschaft und der Abwägung zwischen diesem Interesse und dem Interesse des betreffenden Wirtschaftssektors.

51 Aufgrund dieser Erwägungen ist die zweite Frage des Verwaltungsgerichts Frankfurt am Main dahin zu beantworten, daß ein nationales Gericht einstweilige Anordnungen in bezug auf einen zur Durchführung einer Gemeinschaftsverordnung erlassenen nationalen Verwaltungsakt nur erlassen darf,

- wenn es erhebliche Zweifel an der Gültigkeit der Handlung der Gemeinschaft hat und diese Gültigkeitsfrage, sofern der Gerichtshof mit ihr noch nicht befasst ist, diesem selbst vorlegt,

- wenn die Entscheidung dringlich in dem Sinne ist, daß die einstweiligen Anordnungen erforderlich sind, um zu vermeiden, daß die sie beantragende Partei einen schweren und nicht wiedergutzumachenden Schaden erleidet,

- wenn es das Interesse der Gemeinschaft angemessen berücksichtigt und

- wenn es bei der Prüfung aller dieser Voraussetzungen die Entscheidungen des Gerichtshofes oder des Gerichts erster Instanz über die Rechtmässigkeit der Verordnung oder einen Beschluß im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes betreffend gleichartige einstweilige Anordnungen auf Gemeinschaftsebene beachtet.

Kostenentscheidung:

Kosten

52 Die Auslagen der deutschen, der spanischen, der französischen und der italienischen Regierung sowie der Regierung des Vereinigten Königreichs und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

auf die ihm vom Verwaltungsgericht Frankfurt am Main mit Beschluß vom 1. Dezember 1993 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

1) Artikel 189 EG-Vertrag ist dahin auszulegen, daß er die Befugnis der nationalen Gerichte nicht ausschließt, in bezug auf einen nationalen Verwaltungsakt, der auf einer Gemeinschaftsverordnung beruht, deren Gültigkeit Gegenstand eines Vorabentscheidungsersuchens ist, einstweilige Anordnungen zur vorläufigen Gestaltung oder Regelung der streitigen Rechtspositionen oder -verhältnisse zu treffen.

2) Das nationale Gericht darf derartige einstweiligen Anordnungen nur erlassen,

- wenn es erhebliche Zweifel an der Gültigkeit der Handlung der Gemeinschaft hat und diese Gültigkeitsfrage, sofern der Gerichtshof mit ihr noch nicht befasst ist, diesem selbst vorlegt,

- wenn die Entscheidung dringlich in dem Sinne ist, daß die einstweiligen Anordnungen erforderlich sind, um zu vermeiden, daß die sie beantragende Partei einen schweren und nicht wiedergutzumachenden Schaden erleidet,

- wenn es das Interesse der Gemeinschaft angemessen berücksichtigt und

- wenn es bei der Prüfung aller dieser Voraussetzungen die Entscheidungen des Gerichtshofes oder des Gerichts erster Instanz über die Rechtmässigkeit der Verordnung oder einen Beschluß im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes betreffend gleichartige einstweilige Anordnungen auf Gemeinschaftsebene beachtet.

Ende der Entscheidung

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