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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 29.04.2004
Aktenzeichen: C-482/01
Rechtsgebiete: Richtlinie 64/221/EWG, EG


Vorschriften:

Richtlinie 64/221/EWG Art. 9 Abs. 1
EG Art. 39 Abs. 3
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Urteil des Gerichtshofes (Fünfte Kammer) vom 29. April 2004. - Georgios Orfanopoulos und andere gegen Land Baden-Württemberg. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Verwaltungsgericht Stuttgart - Deutschland. - Freizügigkeit - Öffentliche Ordnung - Richtlinie 64/221/EWG - Ausweisung wegen Verstößen gegen das Strafgesetz - Berücksichtigung der Aufenthaltsdauer und der persönlichen Verhältnisse - Grundrechte - Schutz des Familienlebens - Berücksichtigung von Umständen, die nach der letzten verwaltungsbehördlichen Entscheidung und der Prüfung der Rechtmäßigkeit dieser Entscheidung durch ein Verwaltungsgericht eingetreten sind - Recht des Betroffenen, bei einer zur Stellungnahme berufenen Stelle Zweckmäßigkeitserwägungen geltend zu machen. - Verbundene Rechtssachen C-482/01 und C-493/01.

Parteien:

In den verbundenen Rechtssachen C-482/01 und C-493/01

betreffend dem Gerichtshof nach Artikel 234 EG vom Verwaltungsgericht Stuttgart (Deutschland) in den bei diesem anhängigen Rechtsstreitigkeiten

Georgios Orfanopoulos ,

Natascha Orfanopoulos ,

Melina Orfanopoulos ,

Sofia Orfanopoulos

gegen

Land Baden-Württemberg (C-482/01)

und

Raffaele Oliveri

gegen

Land Baden-Württemberg (C-493/01)

vorgelegte Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung der Artikel 39 Absatz 3 EG und 9 Absatz 1 der Richtlinie 64/221/EWG des Rates vom 25. Februar 1964 zur Koordinierung der Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind (ABl. 1964, Nr. 56, S. 850) (C-482/01), sowie der Artikel 39 EG und 3 dieser Richtlinie (C-493/01)

erlässt

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

unter Mitwirkung des Richters A. Rosas (Berichterstatter) in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Fünften Kammer sowie der Richter A. La Pergola und S. von Bahr,

Generalanwältin: C. Stix-Hackl,

Kanzler: M.-F. Contet, Hauptverwaltungsrätin,

unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen

- von Herrn Orfanopoulos u. a., vertreten durch Rechtsanwalt R. Gutmann,

- des Landes Baden-Württemberg, vertreten durch K.-H. Neher, Leitender Regierungsdirektor,

- der deutschen Regierung, vertreten durch W.-D. Plessing und B. Muttelsee-Schön als Bevollmächtigte,

- der italienischen Regierung, vertreten durch I. M. Braguglia als Bevollmächtigten im Beistand von M. Fiorilli, avvocato dello Stato,

- der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch C. O'Reilly, D. Martin und W. Bogensberger als Bevollmächtigte,

aufgrund des Sitzungsberichts,

nach Anhörung der mündlichen Ausführungen von Herrn Orfanopoulos u. a. sowie von Herrn Oliveri, vertreten durch Rechtsanwalt R. Gutmann, und der Kommission, vertreten durch W. Bogensberger, in der Sitzung vom 12. Juni 2003,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom

11. September 2003,

folgendes

Urteil

Entscheidungsgründe:

1. Mit Beschlüssen vom 20. November und 4. Dezember 2001, beim Gerichtshof eingegangen am 13. Dezember 2001 (Rechtssache C482/01) und am 19. Dezember 2001 (Rechtssache C493/01), hat das Verwaltungsgericht Stuttgart nach Artikel 234 EG in beiden Rechtssachen je zwei Fragen nach der Auslegung der Artikel 39 Absatz 3 EG und 9 Absatz 1 der Richtlinie 64/221/EWG des Rates vom 25. Februar 1964 zur Koordinierung der Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind (ABl. 1964, Nr. 56, S. 850) (Rechtssache C482/01), sowie der Artikel 39 EG und 3 dieser Richtlinie (Rechtssache C493/01) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2. Diese Fragen stellen sich in zwei Rechtsstreitigkeiten zwischen Herrn Orfanopoulos, einem griechischen Staatsangehörigen, sowie seinen Kindern und dem Land Baden-Württemberg (Rechtssache C482/01) sowie zwischen Herrn Oliveri, einem italienischen Staatsangehörigen, und dem Land Baden-Württemberg (Rechtssache C493/01) über vom Regierungspräsidium Stuttgart (im Folgenden: Regierungspräsidium) erlassene Verfügungen über die Ausweisung aus Deutschland.

3. Der Präsident der Fünften Kammer des Gerichtshofes hat mit Beschluss vom 30. April 2003 gemäß Artikel 43 der Verfahrensordnung die Verbindung der beiden Rechtssachen zu gemeinsamer mündlicher Verhandlung und gemeinsamer Entscheidung angeordnet.

Rechtlicher Rahmen

Gemeinschaftsrecht

4. Artikel 18 Absatz 1 EG sieht vor, dass jeder Unionsbürger das Recht hat, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der im EG-Vertrag und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten.

5. Artikel 39 EG bestimmt:

(1) Innerhalb der Gemeinschaft ist die Freizügigkeit der Arbeitnehmer gewährleistet.

...

(3) Sie gibt - vorbehaltlich der aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigten Beschränkungen - den Arbeitnehmern das Recht,

...

b) sich zu diesem Zweck im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen;

c) sich in einem Mitgliedstaat aufzuhalten, um dort nach den für die Arbeitnehmer dieses Staates geltenden Rechts- und Verwaltungsvorschriften eine Beschäftigung auszuüben;

d) nach Beendigung einer Beschäftigung im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats unter Bedingungen zu verbleiben, welche die Kommission in Durchführungsverordnungen festlegt.

...

6. Artikel 46 Absatz 1 EG, der gemäß Artikel 55 EG auf dem Gebiet des freien Dienstleistungsverkehrs Anwendung findet, betrifft die Niederlassungsfreiheit und bestimmt: Dieses Kapitel und die aufgrund desselben getroffenen Maßnahmen beeinträchtigen nicht die Anwendbarkeit der Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die eine Sonderregelung für Ausländer vorsehen und aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind.

7. Die Richtlinie 64/221 gilt gemäß Artikel 1 für Staatsangehörige eines Mitgliedstaats, die sich in einem anderen Mitgliedstaat der Gemeinschaft aufhalten oder sich dorthin begeben, um eine selbständige oder unselbständige Erwerbstätigkeit auszuüben oder um Dienstleistungen entgegenzunehmen. Die Bestimmungen dieser Richtlinie gelten auch für den Ehegatten und die Familienmitglieder, die die Bedingungen der aufgrund des Vertrages auf diesem Gebiet erlassenen Verordnungen und Richtlinien erfuellen.

8. Die Richtlinie 64/221 betrifft nach ihrem Artikel 2 die Vorschriften für u. a. die Erteilung oder Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis oder die Entfernung aus dem Hoheitsgebiet, die die Mitgliedstaaten aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit erlassen.

9. Artikel 3 der Richtlinie 64/221 bestimmt:

(1) Bei Maßnahmen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit darf ausschließlich das persönliche Verhalten der in Betracht kommenden Einzelpersonen ausschlaggebend sein.

(2) Strafrechtliche Verurteilungen allein können ohne weiteres diese Maßnahmen nicht begründen.

...

10. Artikel 8 der Richtlinie sieht vor:

Der Betroffene muss gegen die Entscheidung, durch welche die Einreise, die Erteilung oder Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis verweigert wird, oder gegen die Entscheidung über die Entfernung aus dem Hoheitsgebiet die Rechtsbehelfe einlegen können, die Inländern gegenüber Verwaltungsakten zustehen.

11. Artikel 9 der Richtlinie 64/221 hat folgenden Wortlaut:

(1) Sofern keine Rechtsmittel gegeben sind oder die Rechtsmittel nur die Gesetzmäßigkeit der Entscheidung betreffen oder keine aufschiebende Wirkung haben, trifft die Verwaltungsbehörde die Entscheidung über die Verweigerung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis oder über die Entfernung eines Inhabers einer Aufenthaltserlaubnis aus dem Hoheitsgebiet außer in dringenden Fällen erst nach Erhalt der Stellungnahme einer zuständigen Stelle des Aufnahmelandes, vor der sich der Betroffene entsprechend den innerstaatlichen Rechtsvorschriften verteidigen, unterstützen oder vertreten lassen kann.

Diese Stelle muss eine andere sein als diejenige, welche für die Entscheidung über die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis oder über die Entfernung aus dem Hoheitsgebiet zuständig ist.

(2) Die Entscheidungen über die Verweigerung der ersten Aufenthaltserlaubnis sowie die Entscheidungen über die Entfernung aus dem Hoheitsgebiet vor Erteilung einer solchen Erlaubnis werden der Stelle, deren vorherige Stellungnahme in Absatz (1) vorgesehen ist, auf Antrag des Betroffenen zur Prüfung vorgelegt. Dieser ist dann berechtigt, persönlich seine Verteidigung wahrzunehmen, außer wenn Gründe der Sicherheit des Staates dem entgegenstehen.

12. Nach Artikel 1 Absatz 1 Unterabsatz 1 der Richtlinie 90/364/EWG des Rates vom 28. Juni 1990 über das Aufenthaltsrecht (ABl. L 180, S. 26) gewähren die Mitgliedstaaten den Angehörigen der Mitgliedstaaten, denen das Aufenthaltsrecht nicht aufgrund anderer Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts zuerkannt ist, sowie deren Familienangehörigen nach der Definition von Absatz 2 dieses Artikels unter der Bedingung das Aufenthaltsrecht, dass sie für sich und ihre Familienangehörigen über eine Krankenversicherung, die im Aufnahmemitgliedstaat alle Risiken abdeckt, sowie über ausreichende Existenzmittel verfügen, durch die sichergestellt ist, dass sie während ihres Aufenthalts nicht die Sozialhilfe des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen.

13. Nach Artikel 2 Absatz 2 Unterabsatz 3 dieser Richtlinie dürfen die Mitgliedstaaten nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, der öffentlichen Sicherheit oder der Volksgesundheit von den Bestimmungen dieser Richtlinie abweichen. In diesem Fall findet die Richtlinie 64/221 Anwendung.

Völkerrecht

14. Die am 4. November 1950 in Rom unterzeichnete Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) sieht in Artikel 8 das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens vor.

Innerstaatliches Recht

15. § 47 Absatz 1 Nummer 2 Ausländergesetz (AuslG) (BGBl. I 1990, S. 1354) in der Fassung vom 16. Februar 2001 (BGBl. I, S. 266) sieht vor, dass ein Ausländer ausgewiesen wird, wenn er nach dem Betäubungsmittelgesetz oder wegen Landfriedensbruchs rechtskräftig zu einer Jugendstrafe von mindestens zwei Jahren oder zu einer Freiheitsstrafe verurteilt und die Vollstreckung der Strafe nicht zur Bewährung ausgesetzt worden ist.

16. In § 47 Absatz 2 Nummer 1 AuslG sind die Fälle aufgeführt, in denen ein Ausländer in der Regel ausgewiesen wird.

17. Nach § 47 Absatz 3 AuslG wird ein Ausländer, der nach § 48 Absatz 1 AuslG erhöhten Ausweisungsschutz genießt, in den Fällen des § 47 Absatz 1 AuslG in der Regel ausgewiesen.

18. § 48 Absatz 1 Nummer 4 AuslG sieht einen besonderen Ausweisungsschutz für Ausländer vor, die mit einem deutschen Familienangehörigen in familiärer Lebensgemeinschaft leben. Nach § 48 Absatz 1 Satz 1 AuslG können sie nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen werden. Nach § 48 Absatz 1 Satz 2 AuslG liegen solche Gründe in den Fällen des § 47 Absatz 1 AuslG vor.

19. Nach den Erklärungen der deutschen Regierung ist das Gesetz über Einreise und Aufenthalt von Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (AufenthG/EWG) (BGBl. 1980 I, S. 116) in der Fassung vom 27. Dezember 2000 (BGBl. I, S. 2042) als lex specialis auf Gemeinschaftsangehörige sowie deren Familienmitglieder anwendbar. Infolgedessen finde das Ausländergesetz auf Ausländer, die nach dem Gemeinschaftsrecht Freizügigkeit genössen, nur Anwendung, soweit das Gemeinschaftsrecht und das AufenthG/EWG keine abweichenden Bestimmungen enthielten.

20. § 12 Absätze 1 und 3 AufenthG/EWG bestimmt:

(1) Soweit dieses Gesetz Freizügigkeit gewährt und beschränkende Maßnahmen nicht schon in den vorstehenden Bestimmungen vorsieht, sind die Versagung der Einreise, der Aufenthaltserlaubnis-EG oder ihrer Verlängerung, beschränkende Maßnahmen nach § 3 Abs. 5, § 12 Abs. 1 Satz 2 und § 14 des Ausländergesetzes sowie die Ausweisung oder Abschiebung gegenüber den in § 1 genannten Personen nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit (Artikel 48 Abs. 3, Artikel 56 Abs. 1 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft) zulässig. Ausländer, die eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis-EG besitzen, dürfen nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung ausgewiesen werden.

...

(3) Die in Absatz 1 genannten Entscheidungen oder Maßnahmen dürfen nur getroffen werden, wenn ein Ausländer durch sein persönliches Verhalten dazu Anlass gibt. Dies gilt nicht für Entscheidungen oder Maßnahmen, die zum Schutz der öffentlichen Gesundheit getroffen werden.

21. Gemäß § 7 Absatz 1 Satz 1 der Ausländer- und Asylverfahrenszuständigkeitsverordnung sind die Regierungspräsidien zuständig für die Ausweisung straffälliger Ausländer, wenn sich diese auf richterliche Anordnung in Strafhaft oder länger als eine Woche in Untersuchungshaft befinden.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

Rechtssache C482/01

22. Herr Orfanopoulos, ein 1959 geborener griechischer Staatsangehöriger, lebte bis zu seinem dreizehnten Lebensjahr in Griechenland. 1972 reiste er im Rahmen des Kindernachzugs nach Deutschland ein. Seither hielt er sich dort auf, mit Ausnahme eines Zeitraums von zwei Jahren, in dem er seinen Wehrdienst in Griechenland ableistete. Im August 1981 heiratete er eine deutsche Staatsangehörige. Aus dieser Ehe gingen drei Kinder hervor, die übrigen Klägerinnen des Ausgangsverfahrens.

23. Während seiner Aufenthalte in Deutschland war Herr Orfanopoulos im Besitz von befristeten Aufenthaltserlaubnissen; die letzte galt bis zum 12. Oktober 1999. Im November 1999 beantragte er die Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis.

24. Herr Orfanopoulos verfügt nicht über eine abgeschlossene Berufsausbildung. Er übte seit 1981 verschiedene unselbständige Erwerbstätigkeiten aus. Die Zeiten der Berufstätigkeit waren von langer Arbeitslosigkeit unterbrochen.

25. Aus dem Vorlagebeschluss geht hervor, dass Herr Orfanopoulos drogenabhängig ist. Er wurde neunmal wegen Drogen- und Gewaltdelikten verurteilt. 1999 befand er sich für sechs Monate in Haft. Im Januar 2000 befand er sich zwecks Entgiftung im Krankenhaus und unternahm anschließend zwei Versuche einer Therapie in einer spezialisierten Einrichtung. In beiden Fällen wurde er aus der fraglichen Einrichtung aus disziplinarischen Gründen entlassen. Seit September 2000 verbüßt er eine Freiheitsstrafe aus den gegen ihn verhängten Urteilen.

26. Zwischen 1992 und 1998 wurde Herr Orfanopoulos mehrfach ausländerrechtlich verwarnt. Im Februar 2001 wies das Regierungspräsidium Stuttgart ihn aus und lehnte seinen Antrag auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis ab. Ihm wurde angekündigt, dass er im Zeitpunkt der Haftentlassung abgeschoben würde.

27. Der Ausweisungsbescheid wurde mit der Häufigkeit und der Schwere der von Herrn Orfanopoulos begangenen Straftaten sowie mit der aufgrund seiner Drogen- und Alkoholabhängigkeit bestehenden konkreten Gefahr der Begehung weiterer Straftaten begründet. Nach Ansicht des Regierungspräsidiums waren die gesetzlichen Voraussetzungen einer zwingenden Ausweisung nach § 47 Absatz 1 Nummer 2 AuslG erfuellt. Zwar genieße Herr Orfanopoulos einen besonderen Ausweisungsschutz nach § 48 Absatz 1 Nummer 4 AuslG, doch seien nach § 48 Absatz 1 Satz 2 AuslG schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in der Regel in den Fällen des § 47 Absatz 1 Nummer 2 AuslG gegeben. § 47 Absatz 3 AuslG stufe die zwingende Ausweisung allerdings zu einer Regelausweisung herab.

28. Das Regierungspräsidium war der Auffassung, dass im Hinblick auf die persönliche Lebenssituation von Herrn Orfanopoulos nicht von einem Ausnahmefall ausgegangen werden könne und dass selbst bei Annahme eines Ausnahmefalls eine Ausweisung gegen Herrn Orfanopoulos auszusprechen wäre. Er verfüge über Kenntnisse der griechischen Sprache. Das öffentliche Interesse der öffentlichen Sicherheit und Ordnung überwiege sein privates Interesse an einem weiteren Verbleiben in Deutschland. Seine Ausweisung sei auch geeignet, den beabsichtigten Erfolg herbeizuführen.

29. Da Herr Orfanopoulos und seine drei Kinder die Bestimmungen, auf die die vom Regierungspräsidium erlassene Ausweisungsverfügung gestützt sei, nicht für mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar halten, haben sie am 21. März 2001 beim vorlegenden Gericht Klage gegen diese Entscheidung erhoben.

30. Das Verwaltungsgericht Stuttgart hat das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Ist die wegen einer Straftat gegen das Betäubungsmittelgesetz verfügte Beschränkung der Freizügigkeit eines ausländischen Unionsbürgers mit langjährigem Aufenthalt im Aufnahmestaat im Sinne von Artikel 39 Absatz 3 EG aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit europarechtskonform, wenn aufgrund seines persönlichen Verhaltens die Erwartung gerechtfertigt ist, dass er auch künftig Straftaten begehen wird, und wenn dem Ehegatten dieses Unionsbürgers und dessen Kindern ein Leben in dem Herkunftsstaat des Unionsbürgers nicht zugemutet werden kann?

2. Steht Artikel 9 Absatz 1 der Richtlinie 64/221 einer nationalen Regelung entgegen, die ein Widerspruchsverfahren, in dem auch eine Zweckmäßigkeitsprüfung stattfindet, gegenüber einer Entscheidung einer Verwaltungsbehörde über die Entfernung eines Inhabers einer Aufenthaltserlaubnis aus dem Hoheitsgebiet nicht mehr vorsieht, wenn eine bestimmte von der die Entscheidung treffenden Verwaltungsbehörde unabhängige Stelle nicht eingerichtet wird?

31. Mit Schreiben vom 10. April 2002 teilte der Vertreter der Kläger Orfanopoulos der Kanzlei des Gerichtshofes mit, dass das Landgericht Heilbronn (Deutschland) Herrn Orfanopoulos mit Beschluss vom 28. März 2002 auf Bewährung aus der Haft entlassen habe.

Rechtssache C493/01

32. Herr Oliveri, ein italienischer Staatsangehöriger, ist 1977 in Deutschland geboren. Er hält sich seit seiner Geburt ununterbrochen in Deutschland auf. Einen Ausbildungsabschluss hat er nicht erlangt.

33. Aus dem Vorlagebeschluss geht hervor, dass Herr Oliveri seit mehreren Jahren drogenabhängig ist. Aufgrund dieser Drogenabhängigkeit infizierte er sich mit HIV und chronischer Hepatitis C. Eine Entgiftungskur, die im Mai 1999 hätte beginnen sollen, trat er nicht an.

34. Herr Oliveri ist wegen zahlreicher Straftaten, darunter wegen Diebstahls und unerlaubten Handels mit Betäubungsmitteln, vorbestraft. Im November 1999 wurde er inhaftiert. Die Strafvollstreckung wurde dann für die Dauer einer Heilbehandlung in einer Therapieeinrichtung zurückgestellt. Da Herr Oliveri diese Behandlung allerdings abbrach, wurde die Zurückstellung der Strafvollstreckung widerrufen. Im April 2000 wurde er erneut festgenommen und befindet sich seitdem in Strafhaft.

35. Im Mai 1999 wurde Herr Oliveri ausländerrechtlich verwarnt. Im August 2000 wies das Regierungspräsidium Stuttgart ihn aus und drohte ihm, ohne ihm eine Frist zur freiwilligen Ausreise zu setzen, die Abschiebung nach Italien an. Die Ausweisungsverfügung wurde mit der Häufigkeit und der Schwere der begangenen Straftaten sowie mit der aufgrund seiner Drogenabhängigkeit bestehenden konkreten Gefahr der Begehung weiterer Straftaten begründet. Der Umstand, dass Herr Oliveri zwei Gelegenheiten zur Therapiebehandlung ungenutzt gelassen habe, zeige, dass er nicht willens oder nicht in der Lage sei, eine solche Therapie abzuschließen. Herr Oliveri erfuelle den Tatbestand der zwingenden Ausweisung nach § 47 Absatz 1 Nummer 2 AuslG. Hingegen erfuelle er nicht die Voraussetzungen des besonderen Ausweisungsschutzes nach Artikel 48 Absatz 1 AuslG.

36. Nach Angaben des Regierungspräsidiums hat Herr Oliveri bis zu seiner Inhaftierung mit seinen Eltern zusammengelebt; sein strafrechtliches Verhalten zeige jedoch, dass eine Loslösung von diesen bereits stattgefunden habe. Die Tatsache, dass er sich mit HIV infiziert habe, bedeute nicht, dass er auf die Lebenshilfe durch seine Eltern angewiesen sei. Es sei davon auszugehen, dass er Grundkenntnisse der italienischen Sprache besitze. Die Ausweisung stehe in keinem unangemessenen Verhältnis zu dem verfolgten Zweck.

37. Am 25. September 2000 erhob Herr Oliveri beim Verwaltungsgericht Stuttgart Klage gegen die Entscheidung des Regierungspräsidiums. Die Wiederholungsgefahr bestehe nicht mehr, weil er in der Zwischenzeit durch die harte Erziehung in der Haft gereift sei. Er wolle sich einer Entziehungskur unterziehen.

38. Aus den Akten geht hervor, dass der Ärztliche Dienst des Justizvollzugskrankenhauses Hohenasperg (Deutschland) mit Schreiben vom 20. Juni 2001 mitteilte, Herr Oliveri sei schwerstkrank und werde seiner Krankheit bald erliegen. Es sei zu befürchten, dass er in Italien nicht die angemessene und erforderliche medizinische Versorgung erhalten würde.

39. Unter diesen Umständen hat das Verwaltungsgericht Stuttgart das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Stehen Artikel 39 EG und Artikel 3 der Richtlinie 64/221 einer nationalen Regelung entgegen, die den Behörden zwingend vorschreibt, Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten, die wegen einer vorsätzlichen Straftat nach dem Betäubungsmittelgesetz rechtskräftig zu einer Jugendstrafe von mindestens zwei Jahren oder zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurden und sofern die Vollstreckung der Strafe nicht zur Bewährung ausgesetzt worden ist, auszuweisen?

2. Ist Artikel 3 der Richtlinie 64/221 dahin auszulegen, dass auch ein Sachvortrag sowie eine positive Entwicklung des Betroffenen, die nach der letzten Behördenentscheidung erfolgt sind, von den nationalen Gerichten bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit der Ausweisung des Unionsbürgers zu berücksichtigen sind?

Vorbemerkungen

40. Für beide Rechtssachen sind drei gemeinsame Vorbemerkungen zur Darstellung des innerstaatlichen Rechts, in das sich die Vorabentscheidungsfragen einfügen, zum anwendbaren Gemeinschaftsrecht und zur Reihenfolge, in der diese beiden Rechtssachen zu prüfen sind, zu machen.

41. Zunächst ist festzustellen, dass die deutsche Regierung die Darstellung des innerstaatlichen Rechts in den beiden Vorlagebeschlüssen durch das Verwaltungsgericht Stuttgart beanstandet hat.

42. Hierzu genügt der Hinweis, dass es nicht Sache des Gerichtshofes ist, im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens über die Auslegung nationaler Vorschriften zu befinden und zu entscheiden, ob deren Auslegung durch das vorlegende Gericht richtig ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. Oktober 2000 in der Rechtssache C58/98, Corsten, Slg. 2000, I7919, Randnr. 24). Der Gerichtshof hat nämlich im Rahmen der Verteilung der Zuständigkeiten zwischen den Gemeinschaftsgerichten und denen der Mitgliedstaaten in Bezug auf den tatsächlichen und rechtlichen Rahmen, in den sich die Vorabentscheidungsfragen einfügen, von den Feststellungen des vorlegenden Gerichts auszugehen (vgl. Urteile vom 25. Oktober 2001 in der Rechtssache C-475/99, Ambulanz Glöckner, Slg. 2001, I-8089, Randnr. 10, und vom 13. November 2003 in der Rechtssache C-153/02, Neri, Slg. 2003, I-0000, Randnrn. 34 und 35).

43. Daher sind die Vorabentscheidungsfragen in dem vom Verwaltungsgericht Stuttgart vorgegebenen Regelungsrahmen zu prüfen.

44. Selbst wenn man im Übrigen davon ausgeht, dass die Darstellung des innerstaatlichen rechtlichen Rahmens durch die deutsche Regierung zutreffend ist, bleiben die vom Verwaltungsgericht Stuttgart vorgelegten Fragen angesichts der von diesem in den Vorlagebeschlüssen beschriebenen Verwaltungspraxis der zuständigen Behörden entscheidungserheblich.

45. Auf jeden Fall ist es Sache des mit dem Rechtsstreit befassten vorlegenden Gerichts, in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende gerichtliche Entscheidung fällt, zu prüfen, ob die von ihm vorgenommene Auslegung des innerstaatlichen rechtlichen Rahmens zutreffend und die Angaben zu dieser Verwaltungspraxis richtig sind.

46. Was sodann das Gemeinschaftsrecht betrifft, so geht das vorlegende Gericht von der Prämisse aus, dass Artikel 18 EG über die Unionsbürgerschaft, Artikel 39 EG, der den Grundsatz der Freizügigkeit der Arbeitnehmer aufstellt, und die Richtlinie 64/221 unter den in den beiden Ausgangsverfahren gegebenen Umständen Anwendung finden. Das Recht auf Freizügigkeit von Herrn Orfanopoulos und Herrn Oliveri ergebe sich unmittelbar aus Artikel 18 EG. Beide würden auch vom Geltungsbereich der Richtlinie 64/221 erfasst, da sie sich in der Absicht in Deutschland aufhielten, dort eine unselbständige Erwerbstätigkeit auszuüben.

47. Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts das Recht der Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats frei zu bewegen und aufzuhalten, nicht uneingeschränkt gewährt wird. Dies folgt zum einen aus den Bestimmungen zur Freizügigkeit und zum freien Dienstleistungsverkehr in Titel III des Dritten Teils des Vertrages, d. h. aus den Artikeln 39 EG, 43 EG, 46 EG, 49 EG und 55 EG, sowie aus den zu ihrer Durchführung erlassenen Vorschriften des abgeleiteten Rechts und zum anderen aus den Bestimmungen des Zweiten Teils des Vertrages und insbesondere aus Artikel 18 EG, der zwar den Unionsbürgern das Recht verleiht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, dabei aber ausdrücklich auf die im Vertrag und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen verweist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 11. April 2000 in der Rechtssache C356/98, Kaba I, Slg. 2000, I2623, Randnr. 30, und vom 6. März 2003 in der Rechtssache C466/00, Kaba II, Slg. 2003, I2219, Randnr. 46).

48. In Bezug auf die im Vertrag und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen ist insbesondere auf die Bestimmungen der Richtlinie 90/364 und die Vorschriften des abgeleiteten Rechts über die Wanderarbeitnehmer hinzuweisen.

49. Zur Situation von Wanderarbeitnehmern, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, ist darauf hinzuweisen, dass ihr Aufenthaltsrecht davon abhängt, dass sie weiter die Eigenschaft von Arbeitnehmern oder gegebenenfalls von Arbeitssuchenden haben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Februar 1991 in der Rechtssache C292/89, Antonissen, Slg. 1991, I745, Randnr. 22), sofern sie dieses Recht nicht aus anderen Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts ableiten (vgl. Urteil Kaba II, Randnr. 47).

50. In Bezug auf Inhaftierte, die vor der Haft eine Beschäftigung ausgeübt haben, ist hinzuzufügen, dass der Umstand, dass der Betroffene während seiner Haft dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung gestanden hat, nicht grundsätzlich bedeutet, dass er während dieser Zeit nicht weiterhin in den Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats eingegliedert ist, sofern er innerhalb eines angemessenen Zeitraums nach seiner Haftentlassung wieder eine Beschäftigung findet (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Februar 2000 in der Rechtssache C340/97, Nazli, Slg. 2000, I957, Randnr. 40).

51. Herr Orfanopoulos hat offensichtlich von seinem Recht auf Freizügigkeit der Arbeitnehmer Gebrauch gemacht und in Deutschland mehrere unselbständige Erwerbstätigkeiten ausgeübt. Somit finden Artikel 39 EG und die Richtlinie 64/221 unter Umständen wie denen des Ausgangsrechtsstreits in der Rechtssache C482/01 Anwendung.

52. In der Rechtssache C493/01 kann der Gerichtshof aufgrund der ihm vorliegenden Angaben nicht mit Gewissheit feststellen, ob Herr Oliveri sich auf die Bestimmungen des Artikels 39 EG oder auf andere Bestimmungen des Vertrages oder des abgeleiteten Rechts über die Freizügigkeit oder den freien Dienstleistungsverkehr stützen kann.

53. Hingegen steht fest, dass Herr Oliveri in seiner Eigenschaft als Unionsbürger nach Artikel 18 EG über das Recht verfügt, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der im EGVertrag und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten.

54. Somit hat das vorlegende Gericht festzustellen, auf welche gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen sich ein Angehöriger eines Mitgliedstaats wie Herr Oliveri neben Artikel 18 Absatz 1 EG unter den in der Rechtssache C-493/01gegebenen Umständen gegebenenfalls stützen kann. Dieses Gericht hat insoweit insbesondere zu prüfen, ob der Betroffene - als Arbeitnehmer oder als jemand, der aufgrund der zur Durchführung des Artikels 39 EG erlassenen Vorschriften des abgeleiteten Rechts die Freizügigkeit in Anspruch nehmen kann - vom Anwendungsbereich des Artikels 39 EG erfasst wird oder ob er sich auf andere gemeinschaftsrechtliche Bestimmungen stützen kann, wie die Richtlinie 90/364 oder Artikel 49 EG, der u. a. für Dienstleistungsempfänger gilt.

55. Die Richtlinie 64/221 findet in allen in der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Urteils genannten Fällen Anwendung. Was die Richtlinie 90/364 anbelangt, so ist auf deren Artikel 2 Absatz 2 hinzuweisen.

56. Schließlich ist zur Reihenfolge der Prüfung der beiden Rechtssachen festzustellen, dass das vorlegende Gericht den Gerichtshof im Rahmen der Rechtssache C493/01 danach fragt, ob eine nationale Bestimmung, die den zuständigen Behörden vorschreibt, wegen bestimmter Delikte zu bestimmten Strafen verurteilte Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten auszuweisen, mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar ist. Mehrere Beteiligte, die in der Rechtssache C482/01 schriftliche Erklärungen abgegeben haben, sind aber der Ansicht, dass sich auch im Rahmen dieser Rechtssache diese oder jedenfalls eine ähnliche Frage stelle.

57. Somit ist zuerst die Rechtssache C493/01 und dann die Rechtssache C482/01 zu prüfen.

Zu den Vorabentscheidungsfragen

Rechtssache C493/01

Zur ersten Frage

- Bedeutung der Frage

58. Mit der ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Artikel 39 Absatz 3 EG und Artikel 3 der Richtlinie 64/221 einer nationalen Regelung entgegenstehen, die den Behörden vorschreibt, Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten auszuweisen, die wegen einer vorsätzlichen Straftat nach dem Betäubungsmittelgesetz rechtskräftig zu einer Jugendstrafe von mindestens zwei Jahren oder zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurden, sofern die Vollstreckung der Strafe nicht zur Bewährung ausgesetzt worden ist.

59. Den Akten ist zu entnehmen, dass das vorlegende Gericht mit seiner Frage auf § 47 Absatz 1 AuslG abzielt (Ausweisungspflicht), der die Rechtsgrundlage für die gegenüber Herrn Oliveri erlassene Ausweisungsverfügung bildet.

- Vor dem Gerichtshof abgegebene Erklärungen

60. Die italienische Regierung und die Kommission sind der Ansicht, dass Artikel 39 Absatz 3 EG und die Richtlinie 64/221 einer zwingenden Ausweisung entgegenstuenden, weil es für eine solche Ausweisung keinen Ermessensspielraum gebe.

61. Nach Ansicht der deutschen Regierung besteht nach geltendem nationalen Recht kein automatisches oder schematisches Ausweisungsverfahren. Die Prüfung der Verhältnismäßigkeit einer Ausweisungsverfügung sei durch die kombinierte Anwendung von § 47 Absatz 1 Nummer 2 AuslG in Verbindung mit § 48 Absatz 1 Nummer 4 AuslG und § 12 AufenthG/EWG gewährleistet.

- Antwort des Gerichtshofes

62. Der in Artikel 39 EG verankerte Grundsatz der Freizügigkeit der Arbeitnehmer gehört zu den Grundlagen der Gemeinschaft (vgl. u. a. Urteil vom 3. Juni 1986 in der Rechtssache 139/85, Kempf, Slg. 1986, 1741, Randnr. 13). Eine auf die Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten anwendbare Ausweisungsmaßnahme stellt zweifellos ein Hindernis für die Ausübung dieser Freiheit dar. Gleichwohl kann ein solches Hindernis nach Artikel 39 Absatz 3 EG und der Richtlinie 64/221 aus Gründen der öffentlichen Ordnung gerechtfertigt sein (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Juni 1997 in den Rechtssachen C65/95 und C111/95, Shingara und Radiom, Slg. 1997, I3343, Randnr. 28).

63. Im vorliegenden Fall ist zu prüfen, ob die Pflicht zur Ausweisung von Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten, die wegen bestimmter Delikte zu bestimmten Strafen verurteilt worden sind, aus Gründen der öffentlichen Ordnung gerechtfertigt werden kann.

64. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes ist der Grundsatz der Freizügigkeit der Arbeitnehmer weit auszulegen (vgl. in diesem Sinne Urteile Antonissen, Randnr. 11, und vom 20. Februar 1997 in der Rechtssache C344/95, Kommission/Belgien, Slg. 1997, I1035, Randnr. 14), während die Ausnahmen von diesem Grundsatz eng auszulegen sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 4. Dezember 1974 in der Rechtssache 41/74, Van Duyn, Slg. 1974, 1337, Randnr. 18, vom 26. Februar 1975 in der Rechtssache 67/74, Bonsignore, Slg. 1975, 297, Randnr. 6, Kempf, Randnr. 13, und vom 9. November 2000 in der Rechtssache C357/98, Yiadom, Slg. 2000, I9265, Randnr. 24).

65. Ferner erfordert der Unionsbürgerstatus eine besonders enge Auslegung der Ausnahmen von dieser Freiheit. Wie der Gerichtshof festgestellt hat, soll dieser Status der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten sein (vgl. u. a. Urteile vom 20. September 2001 in der Rechtssache C184/99, Grzelczyk, Slg. 2001, I6193, Randnr. 31, und vom 23. März 2004 in der Rechtssache C138/02, Collins, Slg. 2004, I-0000, Randnr. 61).

66. Maßnahmen der öffentlichen Ordnung sind nach Artikel 3 der Richtlinie 64/221 nur dann gerechtfertigt, wenn sie ausschließlich auf das persönliche Verhalten der in Betracht kommenden Einzelpersonen gestützt sind. In dieser Bestimmung heißt es, dass strafrechtliche Verurteilungen allein ohne weiteres diese Maßnahmen nicht rechtfertigen können. Wie der Gerichtshof u. a. im Urteil vom 27. Oktober 1977 in der Rechtssache 30/77 (Bouchereau, Slg. 1977, 1999, Randnr. 35) festgestellt hat, setzt die Berufung auf den Begriff der öffentlichen Ordnung voraus, dass außer der Störung der öffentlichen Ordnung, die jede Gesetzesverletzung darstellt, eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt.

67. Zwar kann ein Mitgliedstaat die Verwendung von Betäubungsmitteln als eine Gefahr für die Gesellschaft ansehen, die besondere Maßnahmen zum Schutz der öffentlichen Ordnung gegen Ausländer rechtfertigt, die gegen Vorschriften über Betäubungsmittel verstoßen, doch ist die Ausnahme der öffentlichen Ordnung eng auszulegen, so dass eine strafrechtliche Verurteilung eine Ausweisung nur insoweit rechtfertigen kann, als die ihr zugrunde liegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt (vgl. u. a. Urteil vom 19. Januar 1999 in der Rechtssache C348/96, Calfa, Slg. 1999, I11, Randnrn. 22 bis 24).

68. Der Gerichtshof hat daraus gefolgert, dass das Gemeinschaftsrecht der Ausweisung eines Angehörigen eines Mitgliedstaats entgegensteht, die auf generalpräventive Gesichtspunkte gestützt, d. h. zum Zweck der Abschreckung anderer Ausländer verfügt wird (vgl. u. a. Urteil Bonsignore, Randnr. 7), insbesondere, wenn die Ausweisung aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung automatisch verfügt wird, ohne dass das persönliche Verhalten des Täters oder die von ihm ausgehende Gefährdung der öffentlichen Ordnung berücksichtigt wird (vgl. Urteile Calfa, Randnr. 27, und Nazli, Randnr. 59).

69. Die vom vorlegenden Gericht gestellte Frage bezieht sich auf eine nationale Bestimmung, die die Ausweisung von Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten vorschreibt, die wegen bestimmter Delikte zu bestimmten Strafen verurteilt wurden.

70. Es ist festzustellen, dass unter solchen Umständen die Ausweisung automatisch aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung verfügt wird, ohne dass das persönliche Verhalten des Täters oder die von ihm ausgehende Gefährdung der öffentlichen Ordnung berücksichtigt wird.

71. Demnach ist auf die erste Frage zu antworten, dass, sofern die vom vorlegenden Gericht vorzunehmende Prüfung ergibt, dass der Kläger des Ausgangsverfahrens vom Anwendungsbereich einer der in Randnummer 54 des vorliegenden Urteils genannten gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen, die zur Anwendung der Richtlinie 64/221 führen, erfasst wird, diese Bestimmungen und insbesondere Artikel 3 dieser Richtlinie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die den innerstaatlichen Behörden vorschreibt, Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten auszuweisen, die wegen einer vorsätzlichen Straftat nach dem Betäubungsmittelgesetz rechtskräftig zu einer Jugendstrafe von mindestens zwei Jahren oder zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurden, sofern die Vollstreckung der Strafe nicht zur Bewährung ausgesetzt worden ist.

Zur zweiten Frage

- Bedeutung der Frage

72. Mit der zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Artikel 3 der Richtlinie 64/221 einer innerstaatlichen Praxis entgegensteht, wonach die Gerichte eines Mitgliedstaats nicht verpflichtet sind, bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit der gegen einen Angehörigen eines anderen Mitgliedstaats verfügten Ausweisung einen Sachvortrag sowie eine positive Entwicklung dieses Staatsangehörigen, die nach der letzten Behördenentscheidung erfolgt sind, zu berücksichtigen.

73. Das vorlegende Gericht führt aus, dass nach der ständigen Rechtsprechung des deutschen Bundesverwaltungsgerichts die Gerichte Erkenntnismittel, die nach Erlass der letzten Behördenentscheidung entstanden oder zugänglich geworden seien, nur dann heranziehen dürften und müssten, wenn diesen Erkenntnismitteln Anhaltspunkte für die Richtigkeit der im Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung getroffenen Einschätzung entnommen werden könnten. Dieser Grundsatz bedeute unter den Umständen des Ausgangsverfahrens, dass das Vorbringen von Herrn Oliveri während des Gerichtsverfahrens, er befinde sich nunmehr im Stadium Aids und müsse mit seinem baldigen Tod rechnen, nicht mehr berücksichtigt werden könnte.

74. Herr Oliveri hat gegenüber den deutschen Stellen auch vorgetragen, dass keine Wiederholungsgefahr mehr bestehe, weil er durch die harte Erziehung in der Haft gereift sei.

- Vor dem Gerichtshof abgegebene Erklärungen

75. Die italienische Regierung und die Kommission schlagen vor, die Frage zu bejahen. Die Kommission zieht u. a. das Urteil vom 22. Mai 1980 in der Rechtssache 131/79 (Santillo, Slg. 1980, 1585) heran, nach dem zumindest dann, wenn ein längerer Zeitraum zwischen dem Erlass der Ausweisungsverfügung und der Beurteilung dieser Verfügung durch das zuständige Gericht liege, das Gericht bzw. die Behörde eine positive Entwicklung und damit den zwischenzeitlichen Wegfall der gegenwärtigen Gefährdung berücksichtigen müsse.

76. Die deutsche Regierung vertritt die gegenteilige Auffassung. Sie ist der Auffassung, dass die Rechtmäßigkeit einer Ausweisungsverfügung nur nach der Sach- und Rechtslage beurteilt werden könne, die im Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung bestanden habe, da die Behörde tatsächliche zukünftige Entwicklungen nicht in ihre Entscheidung mit einbeziehen könne. Es gebe jedoch Möglichkeiten, neue Tatsachen oder eine positive Entwicklung des Betroffenen seit Erlass der letzten Behördenentscheidung zu berücksichtigen; z. B. seien bei der Vollstreckung der Ausweisungsentscheidung Tatsachen zu berücksichtigen, die ein Abschiebungshindernis darstellen könnten.

- Antwort des Gerichtshofes

77. Für die Entscheidung, ob ein Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats im Rahmen der auf Gründe der öffentlichen Ordnung gestützten Ausnahme ausgewiesen werden kann, müssen die zuständigen innerstaatlichen Behörden im Einzelfall feststellen, ob die Maßnahme oder die Umstände, die dieser Verurteilung zugrunde liegen, ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt (vgl. u. a. Urteil Calfa, Randnr. 24). Wie die Generalanwältin in Randnummer 126 ihrer Schlussanträge ausführt, lässt sich weder dem Wortlaut des Artikels 3 der Richtlinie 64/221 noch der Rechtsprechung des Gerichtshofes Genaueres in Bezug auf den Zeitpunkt entnehmen, der der Feststellung der Gegenwärtigkeit der Gefährdung zugrunde zu legen ist.

78. Unstreitig kann in der Praxis die Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden, dass zwischen dem Zeitpunkt der Entscheidung über die Ausweisung und dem ihrer Beurteilung durch das zuständige Gericht Umstände eintreten, die einen Wegfall oder eine nicht unerhebliche Verminderung der Gefährdung der öffentlichen Ordnung mit sich bringen, die das Verhalten der von der Ausweisung betroffenen Person darstellen würde.

79. Wie aus den Randnummern 64 und 65 des vorliegenden Urteils hervorgeht, sind die Ausnahmen vom Grundsatz der Freizügigkeit der Arbeitnehmer aber eng auszulegen, so dass die Voraussetzung des Vorliegens einer gegenwärtigen Gefährdung grundsätzlich zu dem Zeitpunkt erfuellt sein muss, zu dem die Ausweisung erfolgt.

80. Es trifft zwar zu, dass die Ausgestaltung von Gerichtsverfahren, die den Schutz der dem Bürger aus dem Gemeinschaftsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung der einzelnen Mitgliedstaaten ist; gleichwohl dürfen diese Verfahren die Ausübung der durch die Gemeinschaftsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (vgl. in diesem Sinne insbesondere Urteile vom 16. Dezember 1976 in der Rechtssache 33/76, Rewe, Slg. 1976, 1989, Randnr. 5, und vom 9. Dezember 2003 in der Rechtssache C129/00, Kommission/Italien, Slg. 2003, I-0000, Randnr. 25).

81. Eine innerstaatliche Praxis wie die im Vorlagebeschluss dargestellte kann das den Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten zustehende Recht auf Freizügigkeit und insbesondere deren Recht beeinträchtigen, nur in den in der Richtlinie 64/221 vorgesehenen Extremfällen ausgewiesen zu werden. Diese Feststellung gilt vor allem dann, wenn ein längerer Zeitraum zwischen dem Erlass der Entscheidung über die Ausweisung des Betroffenen und der Beurteilung dieser Entscheidung durch das zuständige Gericht liegt.

82. Demnach ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Artikel 3 der Richtlinie 64/221 einer innerstaatlichen Praxis entgegensteht, wonach die innerstaatlichen Gerichte nicht verpflichtet sind, bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit der gegen einen Angehörigen eines anderen Mitgliedstaats verfügten Ausweisung einen Sachvortrag zu berücksichtigen, der nach der letzten Behördenentscheidung erfolgt ist und der den Wegfall oder eine nicht unerhebliche Verminderung der gegenwärtigen Gefährdung mit sich bringen kann, die das Verhalten des Betroffenen für die öffentliche Ordnung darstellen würde. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn ein längerer Zeitraum zwischen dem Erlass der Entscheidung über die Ausweisung und der Beurteilung dieser Entscheidung durch das zuständige Gericht liegt.

Rechtssache C-482/01

Zur ersten Frage

- Bedeutung der Frage

83. Mit der ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die unter Berufung auf die Ausnahme der öffentlichen Ordnung nach Artikel 39 Absatz 3 EG verfügte Beschränkung der Freizügigkeit eines Gemeinschaftsangehörigen mit langjährigem Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar ist, wenn aufgrund seines persönlichen Verhaltens die Erwartung gerechtfertigt ist, dass er wieder Straftaten begehen wird, und wenn dem Ehegatten dieses Gemeinschaftsangehörigen und dessen Kindern ein Leben im Herkunftsstaat dieses Gemeinschaftsangehörigen nicht zugemutet werden kann.

84. Dem Vorlagebeschluss zufolge erfuellt Herr Orfanopoulos die Voraussetzungen einer zwingenden Ausweisung nach § 47 Absatz 1 AuslG. Da er mit einer deutschen Familienangehörigen in familiärer Lebensgemeinschaft lebe, genieße er jedoch den besonderen Schutz nach § 48 Absatz 1 AuslG. Unter solchen Umständen stufe § 47 Absatz 3 AuslG die zwingende Ausweisung zu einer Regelausweisung herab.

85. Das vorlegende Gericht stellt die Vereinbarkeit der Rechtsgrundlage der gegenüber Herrn Orfanopoulos getroffenen Ausweisungsentscheidung mit dem Gemeinschaftsrecht nicht in Frage. Es weist nämlich darauf hin, dass die zuständige Verwaltungsbehörde nach einer Prüfung der Umstände des Einzelfalls und insbesondere der Gefährlichkeit des Betroffenen für die Gesellschaft zu dem Ergebnis gelangt sei, dass kein Anlass für ein Abweichen von der Regelvermutung des § 47 Absatz 1 Nummer 2 AuslG gegeben sei. Fraglich sei vielmehr, ob die Ausweisung von Herrn Orfanopoulos angesichts seines langen Aufenthalts in Deutschland, der besonderen Bedeutung des Grundsatzes der Freizügigkeit im Gemeinschaftsrecht und des Schutzes des Familienlebens mit den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts, insbesondere mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, vereinbar sei. Mehrere Beteiligte, die schriftliche Stellungnahmen abgegeben haben, ziehen gleichwohl die Vereinbarkeit dieser Rechtsgrundlage mit dem Gemeinschaftsrecht in Zweifel.

- Vor dem Gerichtshof abgegebene Erklärungen

86. Die Kläger Orfanopoulos, die italienische Regierung und die Kommission sind der Ansicht, dass zunächst zu prüfen sei, ob eine nationale Bestimmung, die eine Regelausweisung von Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten vorschreibe, die wegen bestimmter Delikte zu bestimmten Strafen verurteilt worden seien, mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar sei. Ihrer Meinung nach ist dies nicht der Fall.

87. Die deutsche Regierung weist auf Lücken in der Darstellung der nationalen Regelung in dem Vorlagebeschluss hin und macht geltend, dass die Vorlagefrage nicht erheblich sein könne, weil nach geltendem nationalen Recht eine automatische oder schematische Ausweisung nicht erfolge. Außerdem sei es nicht Aufgabe des Gerichtshofes, im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens die Rechtmäßigkeit und Verhältnismäßigkeit einer nationalen Maßnahme zu überprüfen. Das Land Baden-Württemberg schließt sich dieser Auffassung an.

88. Zu der vom vorlegenden Gericht gestellten Frage vertreten die Kläger Orfanopoulos, die italienische Regierung und die Kommission die Meinung, dass die im Gemeinschaftsrecht vorgesehenen Ausnahmen vom Grundsatz der Freizügigkeit unter Beachtung des Rechts auf Schutz des Familienlebens gewürdigt werden müssten. Die fragliche nationale Regelung könne sich nur dann auf die in Artikel 39 Absatz 3 EG vorgesehene und durch die Richtlinie 64/221 spezifisch geregelte Ausnahme aus Gründen der öffentlichen Ordnung stützen, wenn sie mit den Grundrechten vereinbar sei, deren Beachtung der Gerichtshof sichere.

89. Diese Grundsätze werden von der deutschen Regierung nicht bestritten. Sie trägt jedoch vor, dass das geltende nationale Recht die sich aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ergebenden Vorgaben in angemessener Weise berücksichtige und die besondere gemeinschaftsrechtliche Bedeutung der Freizügigkeit und anderer hiermit verbundener Grundrechte wie das auf Achtung des Familienlebens wahre.

- Antwort des Gerichtshofes

90. Auch wenn die Vorlagefrage von der Prämisse ausgeht, dass im Ausgangsverfahren das persönliche Verhalten der Person, gegenüber der eine Ausweisungsentscheidung getroffen wurde, berücksichtigt worden sei, ist entsprechend der Anregung mehrerer Beteiligter, die schriftliche Stellungnahmen abgegeben haben, zunächst zu prüfen, ob Artikel 39 EG und die Richtlinie 64/221 nationalen Rechtsvorschriften entgegenstehen, die eine Regelausweisung von Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten vorsehen, die wegen bestimmter Delikte zu bestimmten Strafen verurteilt worden sind und einen besonderen Schutz genießen, weil sie mit einem deutschen Familienangehörigen in familiärer Lebensgemeinschaft leben.

91. Wie aus Randnummer 71 des vorliegenden Urteils hervorgeht, stehen die Artikel 39 EG und 3 der Richtlinie 64/221 einer nationalen Regelung entgegen, die den innerstaatlichen Behörden vorschreibt, Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten auszuweisen, die wegen einer vorsätzlichen Straftat nach dem Betäubungsmittelgesetz rechtskräftig zu einer Jugendstrafe von mindestens zwei Jahren oder zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurden, sofern die Vollstreckung der Strafe nicht zur Bewährung ausgesetzt worden ist.

92. Im vorliegenden Fall hat es den Anschein, dass in dem im Vorlagebeschluss beschriebenen System der Ausweisungen trotz der Berücksichtigung familiärer Umstände ein gewisser Automatismus oder jedenfalls eine Vermutung besteht, dass der betreffende Staatsangehörige auszuweisen ist. Wie sich aus § 48 Absatz 1 Satz 1 AuslG ergibt, kann, wer besonderen Schutz genießt, nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen werden. Nach § 48 Absatz 1 Satz 2 AuslG sollen solche Gründe jedoch in den Fällen des § 47 Absatz 1 AuslG vorliegen.

93. Sollte sich bestätigen, dass das in Rede stehende System diese Tragweite hat, ist festzustellen, dass es dazu führt, dass die Ausweisung eines Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats, der wegen bestimmter Delikte zu einer bestimmten Strafe verurteilt worden ist, trotz der Berücksichtigung familiärer Umstände auf der Grundlage der Vermutung verfügt wird, dass dieser auszuweisen ist, ohne dass sein persönliches Verhalten oder die Gefahr, die er für die öffentliche Ordnung darstellt, gebührend berücksichtigt werden.

94. Folglich verstößt ein solches System gegen die Artikel 39 EG und 3 der Richtlinie 64/221.

95. Was die vom vorlegenden Gericht gestellte Frage anbelangt, so hat die von den innerstaatlichen Behörden im Einzelfall vorgenommene Prüfung, ob ein persönliches Verhalten vorliegt, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt, und wo gegebenenfalls der angemessene Ausgleich zwischen den betroffenen berechtigten Interessen liegt, unter Beachtung der allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts zu erfolgen.

96. Die nationale Behörde hat bei der Prüfung, wo der angemessene Ausgleich zwischen den betroffenen berechtigten Interessen liegt, die besondere Rechtsstellung der dem Gemeinschaftsrecht unterliegenden Personen und die entscheidende Bedeutung des Grundsatzes der Freizügigkeit zu berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil Bouchereau, Randnr. 30).

97. Außerdem ist den Grundrechten Rechnung zu tragen, deren Beachtung der Gerichtshof sichert. Um eine innerstaatliche Regelung zu rechtfertigen, die geeignet ist, die Ausübung der Freizügigkeit zu behindern, können Gründe des Allgemeininteresses nämlich nur dann herangezogen werden, wenn die fragliche Regelung diesen Rechten Rechnung trägt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 18. Juni 1991 in der Rechtssache C260/89, ERT, Slg. 1991, I2925, Randnr. 43, vom 26. Juni 1997 in der Rechtssache C368/95, Familiapress, Slg. 1997, I3689, Randnr. 24, und vom 11. Juli 2002 in der Rechtssache C60/00, Carpenter, Slg. 2002, I6279, Randnr. 40).

98. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, welche Bedeutung dem Schutz des Familienlebens der Gemeinschaftsangehörigen im Gemeinschaftsrecht zugeschrieben wird, um die Hindernisse für die Ausübung der durch den Vertrag garantierten Grundfreiheiten auszuräumen. Es steht fest, dass die Entfernung einer Person aus dem Land, in dem ihre nahen Verwandten leben, einen Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens darstellt, wie es durch Artikel 8 EMRK geschützt wird und das zu den Grundrechten gehört, die nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofes in der Gemeinschaftsrechtsordnung geschützt werden (vgl. Urteil Carpenter, Randnr. 41).

99. Schließlich ist die Notwendigkeit zu betonen, den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu wahren. Bei der Beurteilung, ob der beabsichtigte Eingriff in einem angemessenen Verhältnis zu dem angestrebten Ziel, hier dem Schutz der öffentlichen Ordnung, steht, sind insbesondere Art und Schwere der vom Betroffenen begangenen Straftat, die Dauer seines Aufenthalts im Aufnahmemitgliedstaat, die Zeit, die seit der Begehung der Straftat verstrichen ist, die familiäre Situation des Betroffenen und das Ausmaß der Schwierigkeiten zu berücksichtigen, denen sein Ehegatte und ihre möglicherweise vorhandenen Kinder im Herkunftsland des Betroffenen begegnen können (vgl. zu Artikel 8 EMRK, Urteil des EGMR vom 2. August 2001 in der Rechtssache Boultif/Schweiz, Recueil des arrêts et décisions 2001 , § 48).

100. Nach alledem sind die erste Frage und die in diesem Zusammenhang gestellte Zusatzfrage wie folgt zu beantworten:

- Die Artikel 39 EG und 3 der Richtlinie 64/221 stehen innerstaatlichen Rechtsvorschriften oder einer innerstaatlichen Praxis entgegen, wonach die Ausweisung eines Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats, der wegen bestimmter Delikte zu einer bestimmten Strafe verurteilt worden ist, trotz der Berücksichtigung familiärer Umstände auf der Grundlage der Vermutung verfügt wird, dass dieser auszuweisen ist, ohne dass sein persönliches Verhalten oder die Gefahr, die er für die öffentliche Ordnung darstellt, gebührend berücksichtigt werden.

- Dagegen stehen Artikel 39 EG und die Richtlinie 64/221 der Ausweisung eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der wegen bestimmter Delikte zu einer bestimmten Strafe verurteilt worden ist und der einerseits eine gegenwärtige Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt und sich andererseits seit vielen Jahren im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat und sich gegenüber dieser Ausweisung auf Umstände familiärer Art berufen kann, nicht entgegen, sofern die von den innerstaatlichen Behörden im Einzelfall vorgenommene Beurteilung der Frage, wo der angemessene Ausgleich zwischen den betroffenen berechtigten Interessen liegt, unter Beachtung der allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts und insbesondere unter Wahrung der Grundrechte wie desjenigen auf Schutz des Familienlebens erfolgt.

Zur zweiten Frage

- Bedeutung der Frage

101. Mit der zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Artikel 9 Absatz 1 der Richtlinie 64/221 einer Regelung wie der in Baden-Württemberg geltenden entgegensteht, die bei einer von einem Regierungspräsidium getroffenen Entscheidung über die Entfernung aus dem Hoheitsgebiet ein Widerspruchsverfahren, in dem auch eine Prüfung der Zweckmäßigkeit dieser Entscheidung stattfindet, nicht mehr vorsieht, wenn eine von dieser Verwaltungsbehörde unabhängige Stelle nicht besteht.

102. Im Vorlagebeschluss und in den Erklärungen der deutschen Regierung wird dargelegt, dass in Deutschland vor Erhebung der Anfechtungsklage Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit eines belastenden Verwaltungsakts von der Verwaltung grundsätzlich im Rahmen eines Vorverfahrens nachgeprüft würden. Nach § 68 Absatz 1 Satz 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) könne durch Gesetz, auch durch Landesgesetz, von diesem Grundsatz abgewichen werden. Das Land Baden-Württemberg habe durch den Erlass von Artikel 6a Ausführungsgesetz zur Verwaltungsgerichtsordnung von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht. Nach dieser am 1. Juli 1999 in Kraft getretenen Bestimmung sei ein Vorverfahren ausgeschlossen, wenn ein Verwaltungsakt von einem Regierungspräsidium erlassen worden sei.

- Vor dem Gerichtshof abgegebene Erklärungen

103. Die Kläger Orfanopoulos, die italienische Regierung und die Kommission schlagen vor, diese Frage zu bejahen. Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofes gehe hervor, dass es den Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten aufgrund der Bestimmungen der Richtlinie 64/221 möglich sein müsse, eine erschöpfende Prüfung aller Tatsachen und Umstände einschließlich der Zweckmäßigkeit der beabsichtigten Maßnahme zu erlangen, ehe die Ausweisungsentscheidung endgültig erlassen werde.

104. Die deutsche Regierung trägt vor, dass Artikel 9 Absatz 1 der Richtlinie 64/221 einer nationalen Regelung wie der in Baden-Württemberg geltenden nicht entgegenstehe, wenn eine rechtzeitige und umfassende materiell-rechtliche Überprüfung der Verwaltungsentscheidung sichergestellt sei. Sie beruft sich hierzu auf das Urteil Shingara und Radiom. Der Schutz gegen Ausweisungen sei in diesem Bundesland im Rahmen des Verwaltungsverfahrens sichergestellt, und dessen Überprüfung sei im Rahmen des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens gewährleistet. Die verwaltungsgerichtliche Überprüfung erstrecke sich zum einen auf die Frage, ob die materiell-rechtlichen Voraussetzungen einer Entscheidung über die Entfernung aus dem Hoheitsgebiet in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht vorlägen, einschließlich der Frage, ob die zuständige Behörde die Grenzen ihres Ermessens überschritten habe, und zum anderen auf die inhaltlichen Voraussetzungen.

- Antwort des Gerichtshofes

105. Artikel 9 Absatz 1 der Richtlinie 64/221 soll eine verfahrensrechtliche Mindestgarantie für die Personen sicherstellen, denen gegenüber eine Entscheidung über die Entfernung aus dem Hoheitsgebiet getroffen wird. Dieser Artikel, der in drei Fällen anwendbar ist, nämlich dann, wenn keine Rechtsmittel gegeben sind, wenn die Rechtsmittel nur die Gesetzmäßigkeit der Entscheidung betreffen oder wenn sie keine aufschiebende Wirkung haben, sieht das Tätigwerden einer zuständigen Stelle vor, die eine andere sein muss als diejenige, die für die Entscheidung zuständig ist. Außer in dringenden Fällen darf die Verwaltungsbehörde ihre Entscheidung erst nach Erhalt der Stellungnahme dieser anderen zuständigen Stelle treffen. Der Betroffene muss sich vor der letztgenannten Stelle entsprechend den innerstaatlichen Rechtsvorschriften verteidigen, unterstützen oder vertreten lassen können (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 18. Oktober 1990 in den Rechtssachen C297/88 und C197/89, Dzodzi, Slg. 1990, I3763, Randnr. 62, und Yiadom, Randnrn. 29 bis 31).

106. Der Rechtsprechung des Gerichtshofes ist zu entnehmen, dass das Eingreifen der in Artikel 9 Absatz 1 genannten zuständigen Stelle ermöglichen soll, eine erschöpfende Prüfung aller Tatsachen und Umstände einschließlich der Zweckmäßigkeit der beabsichtigten Maßnahme zu erwirken, ehe die Entscheidung endgültig getroffen wird (Urteile Santillo, Randnr. 12, und vom 18. Mai 1982 in den Rechtssachen 115/81 und 116/81, Adoui und Cornuaille, Slg. 1982, 1665, Randnr. 15). Der Gerichtshof hat ferner klargestellt, dass die Verwaltungsbehörde ihre Entscheidung außer in dringenden Fällen erst nach Erhalt der Stellungnahme der zuständigen Stelle treffen darf (Urteile vom 5. März 1980 in der Rechtssache 98/79, Pecastaing, Slg. 1980, 691, Randnr. 17, und Dzodzi, Randnr. 62).

107. Im vorliegenden Fall ist unstreitig, dass die Nachprüfung der von den Regierungspräsidien erlassenen Ausweisungsverfügungen in Baden-Württemberg durch die Verwaltungsgerichte im Rahmen gerichtlicher Verfahren erfolgt.

108. Das vorlegende Gericht geht von der Prämisse aus, dass es in diesem Land gegen diese Ausweisungsverfügungen weder ein Widerspruchs- noch ein Klageverfahren gibt, das die Prüfung der Zweckmäßigkeit der beabsichtigten Ausweisungsmaßnahme umfasst. Hinsichtlich dieser Klagen lässt es jedoch insoweit einen gewissen Zweifel fortbestehen.

109. Zunächst ist das Vorbringen der deutschen Regierung zurückzuweisen, wonach es zur Beachtung des Artikels 9 Absatz 1 der Richtlinie 64/221 ausreiche, dass die Entscheidung der Verwaltungsbehörde rechtzeitig und umfassend materiell-rechtlich überprüft werde.

110. Mit einer solchen Auslegung wird Personen, denen gegenüber eine Entscheidung über die Entfernung aus dem Hoheitsgebiet getroffen wird, keine sichere Garantie einer erschöpfenden Prüfung der Zweckmäßigkeit der beabsichtigten Maßnahme gegeben. Sie genügt nicht den Erfordernissen eines hinreichend effektiven Schutzes (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. Mai 1986 in der Rechtssache 222/84, Johnston, Slg. 1986, 1651, Randnr. 17, und vom 15. Oktober 1987 in der Rechtssache 222/86, Heylens u. a., Slg. 1987, 4097, Randnrn. 14 und 15). Diese Auslegung würde Artikel 9 Absatz 1 der Richtlinie 64/221 nämlich die praktische Wirksamkeit nehmen.

111. Anders wäre es hingegen in dem Fall, dass die Entscheidung der Verwaltungsbehörde einer umfassenden materiell-rechtlichen Prüfung unterzogen und die Zweckmäßigkeit der beabsichtigten Maßnahme erschöpfend geprüft wird.

112. Angesichts des Zweifels, den das vorlegende Gericht in Bezug auf den Umfang der von den zuständigen Gerichten, d. h. den Verwaltungsgerichten, ausgeübten Kontrolle fortbestehen lässt, hat es zu prüfen, ob diese Gerichte auch die Zweckmäßigkeit der Ausweisungsmaßnahmen nachprüfen können.

113. Sollte sich herausstellen, dass sich die Klagen gegen die Ausweisungsverfügung unter den Umständen im Ausgangsverfahren nur auf deren Rechtmäßigkeit erstrecken, wäre zu prüfen, ob die Bedingung des Tätigwerdens einer anderen zuständigen Behörde als derjenigen, die für die Entscheidung zuständig ist, erfuellt ist, und gegebenenfalls, ob dieses Tätigwerden den in Randnummer 106 des vorliegenden Urteils aufgezählten Anforderungen genügt.

114. In der Richtlinie 64/221 wird der Begriff unabhängige Stelle nicht näher erläutert. Wie aus Randnummer 19 des Urteils Santillo hervorgeht, belässt die Richtlinie den Mitgliedstaaten einen Beurteilungsspielraum für die Bestimmung der zuständigen Stelle. Eine solche Stelle kann jede Behörde sein, die von der Verwaltungsbehörde unabhängig ist, die für den Erlass einer der in dieser Richtlinie vorgesehenen Maßnahmen zuständig ist; diese Stelle muss so beschaffen sein, dass der Betroffene das Recht hat, sich vor ihr vertreten zu lassen und zu verteidigen.

115. Im vorliegenden Fall hat die Prüfung der Akten nicht ergeben, dass zwischen dem Erlass der in Rede stehenden Entscheidung durch das Regierungspräsidium und ihrer späteren gerichtlichen Nachprüfung durch die Verwaltungsgerichte eine unabhängige Stelle im Sinne des Artikels 9 Absatz 1 der Richtlinie 64/221 tätig wird. Diese Prüfung hat auch nicht ergeben, dass unter Umständen wie denen, die zum Ausgangsverfahren geführt haben, ein dringender Fall vorlag.

116. Angesichts der vorstehenden Erwägungen ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Artikel 9 Absatz 1 der Richtlinie 64/221 einer Bestimmung eines Mitgliedstaats entgegensteht, die gegen eine von einer Verwaltungsbehörde getroffene Entscheidung über die Ausweisung eines Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats ein Widerspruchsverfahren und eine Klage, in denen auch eine Prüfung der Zweckmäßigkeit stattfindet, nicht mehr vorsieht, wenn eine von dieser Verwaltungsbehörde unabhängige Stelle nicht besteht. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob Gerichte wie die Verwaltungsgerichte die Zweckmäßigkeit von Ausweisungsmaßnahmen überprüfen können.

Kostenentscheidung:

Kosten

117. Die Auslagen der deutschen und der italienischen Regierung sowie der Kommission, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien der Ausgangsverfahren ist das Verfahren ein Zwischenstreit in den bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreitigkeiten; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

hat

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

auf die ihm vom Verwaltungsgericht Stuttgart mit Beschlüssen vom 20. November und 4. Dezember 2001 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

1. Das vorlegende Gericht hat festzustellen, auf welche gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen sich ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats wie Herr Oliveri neben Artikel 18 Absatz 1 EG unter den im Rechtsstreit in der Rechtssache C493/01 gegebenen Umständen gegebenenfalls stützen kann. Dieses Gericht hat insoweit insbesondere zu prüfen, ob der Betroffene - als Arbeitnehmer oder als andere Person, die aufgrund der zur Durchführung des Artikels 39 EG erlassenen Vorschriften des abgeleiteten Rechts die Freizügigkeit in Anspruch nehmen kann - vom Anwendungsbereich des Artikels 39 EG erfasst wird oder ob er sich auf andere gemeinschaftsrechtliche Bestimmungen stützen kann wie die Richtlinie 90/364/EWG des Rates vom 28. Juni 1990 über das Aufenthaltsrecht oder Artikel 49 EG, der u. a. für Dienstleistungsempfänger gilt.

2. Artikel 3 der Richtlinie 64/221/EWG des Rates vom 25. Februar 1964 zur Koordinierung der Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind, steht einer nationalen Regelung entgegen, die den innerstaatlichen Behörden vorschreibt, Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten auszuweisen, die wegen einer vorsätzlichen Straftat nach dem Betäubungsmittelgesetz rechtskräftig zu einer Jugendstrafe von mindestens zwei Jahren oder zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurden, sofern die Vollstreckung der Strafe nicht zur Bewährung ausgesetzt worden ist.

3. Artikel 3 der Richtlinie 64/221 steht einer innerstaatlichen Praxis entgegen, wonach die innerstaatlichen Gerichte nicht verpflichtet sind, bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit der gegen einen Angehörigen eines anderen Mitgliedstaats verfügten Ausweisung einen Sachvortrag zu berücksichtigen, der nach der letzten Behördenentscheidung erfolgt ist und der den Wegfall oder eine nicht unerhebliche Verminderung der gegewärtigen Gefährdung mit sich bringen kann, die das Verhalten des Betroffenen für die öffentliche Ordnung darstellen würde. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn ein längerer Zeitraum zwischen dem Erlass der Entscheidung über die Ausweisung und der Beurteilung dieser Entscheidung durch das zuständige Gericht liegt.

4. Die Artikel 39 EG und 3 der Richtlinie 64/221 stehen innerstaatlichen Rechtsvorschriften oder einer innerstaatlichen Praxis entgegen, wonach die Ausweisung eines Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats, der wegen bestimmter Delikte zu einer bestimmten Strafe verurteilt worden ist, trotz der Berücksichtigung familiärer Umstände auf der Grundlage der Vermutung verfügt wird, dass dieser auszuweisen ist, ohne dass sein persönliches Verhalten oder die Gefahr, die er für die öffentliche Ordnung darstellt, gebührend berücksichtigt würden.

5. Artikel 39 EG und die Richtlinie 64/221 stehen der Ausweisung eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der wegen bestimmter Delikte zu einer bestimmten Strafe verurteilt worden ist und der einerseits eine gegenwärtige Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt und sich andererseits seit vielen Jahren im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat und sich gegenüber dieser Ausweisung auf Umstände familiärer Art berufen kann, nicht entgegen, sofern die von den innerstaatlichen Behörden im Einzelfall vorgenommene Beurteilung der Frage, wo der angemessene Ausgleich zwischen den betroffenen berechtigten Interessen liegt, unter Beachtung der allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts und insbesondere unter Wahrung der Grundrechte wie desjenigen auf Schutz des Familienlebens erfolgt.

6. Artikel 9 Absatz 1 der Richtlinie 64/221 steht einer Bestimmung eines Mitgliedstaats entgegen, die gegen eine von einer Verwaltungsbehörde getroffene Entscheidung über die Ausweisung eines Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats ein Widerspruchsverfahren und eine Klage, in denen auch eine Prüfung der Zweckmäßigkeit stattfindet, nicht mehr vorsieht, wenn eine von dieser Verwaltungsbehörde unabhängige Stelle nicht besteht. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob Gerichte wie die Verwaltungsgerichte die Zweckmäßigkeit von Ausweisungsmaßnahmen überprüfen können.

Ende der Entscheidung

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