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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 22.05.2008
Aktenzeichen: C-499/06
Rechtsgebiete: EG


Vorschriften:

EG Art. 18 Abs. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)

22. Mai 2008

"Invaliditätsrente für zivile Kriegs- oder Repressionsopfer - Voraussetzung des Wohnsitzes im Inland - Art. 18 Abs. 1 EG"

Parteien:

In der Rechtssache C-499/06

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht vom Sad Okregowy w Koszalinie (Polen) mit Entscheidung vom 13. November 2006, beim Gerichtshof eingegangen am 8. Dezember 2006, in dem Verfahren

Halina Nerkowska

gegen

Zaklad Ubezpieczen Spolecznych Oddzial w Koszalinie

erlässt

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten K. Lenaerts, des Richters G. Arestis, der Richterin R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin) sowie der Richter E. Juhász und J. Malenovský,

Generalanwalt: M. Poiares Maduro,

Kanzler: R. Grass,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

- von H. Nerkowska,

- des Zaklad Ubezpieczen Spolecznych Oddzial w Koszalinie, vertreten durch W. Witkowicz, adwokat,

- der polnischen Regierung, vertreten durch E. Osniecka-Tamecka als Bevollmächtigte,

- der italienischen Regierung, vertreten durch I. M. Braguglia als Bevollmächtigten im Beistand von W. Ferrante, avvocato dello Stato,

- der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch D. Maidani und A. Stobiecka-Kuik als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 28. Februar 2008

folgendes

Urteil

Entscheidungsgründe:

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 18 Abs. 1 EG.

2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau Nerkowska und dem Zaklad Ubezpieczen Spolecznych Oddzial w Koszalinie (Sozialversicherungsanstalt, Dienststelle Koszalin) über dessen Weigerung, Frau Nerkowska eine Invaliditätsrente für Gesundheitsschäden zu zahlen, die sie infolge ihrer sechsjährigen Deportation in die ehemalige Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) erlitten hat.

Nationales Recht

3 Die nationale Regelung besteht aus dem Gesetz über die Versorgung von Kriegs- und Militärinvaliden und ihren Familien (Ustawa o zaopatrzeniu inwalidów wojennych i wojskowych oraz ich rodzin) vom 29. Mai 1974 mit späteren Änderungen (Dz. U. 2002, Nr. 9, Position 87, im Folgenden: Gesetz von 1974) und dem Gesetz über Kombattanten und bestimmte Personen, die Opfer von Kriegs- und Nachkriegsrepressionen sind (Ustawa o kombatantach oraz niektórych osobach bedacych ofiarami represji wojennych i okresu powojennego), vom 24. Januar 1991 (Dz. U. Nr. 17, Position 75).

4 Art. 5 des Gesetzes von 1974 bestimmt, dass die nach diesem Gesetz vorgesehenen Leistungen dem Anspruchsberechtigten während seines Aufenthalts im Hoheitsgebiet der Republik Polen gewährt werden, sofern das Gesetz oder ein völkerrechtlicher Vertrag nichts anderes bestimmt.

5 Nach Art. 3 des Gesetzes von 1974 wird diese Versorgung vom polnischen Staat finanziert.

6 Nach Art. 12 Abs. 2 des Gesetzes vom 24. Januar 1991 über Kombattanten und bestimmte Personen, die Opfer von Kriegs- und Nachkriegsrepressionen sind, stehen die Geldleistungen und sonstigen Ansprüche nach dem Gesetz von 1974 u. a. auch Personen zu, die zu einer der Invalidengruppen gerechnet wurden, weil sie im Zusammenhang mit einem Aufenthalt u. a. in Gefangenschaft oder in Internierungslagern oder Lagern, die der Hauptverwaltung für Angelegenheiten der Kriegsgefangenen und Internierten (GUPWI) des Volkskommissariats für Innere Angelegenheiten (NKWD) und - ab März 1946 - dem Ministerium für Innere Angelegenheiten (MWD) der ehemaligen UdSSR unterstellt waren, oder Lagern, die der Abteilung für Kontroll- und Filtrationslager des NKWD und - ab März 1946 - dem genannten Ministerium für Innere Angelegenheiten unterstellt waren, arbeitsunfähig sind. Diese Leistungen stehen auch Personen zu, die Kriegs- und Nachkriegsrepressionen unterlagen, d. h. Personen, die aus politischen, religiösen und nationalen Gründen zwangsweise verbannt und in die ehemalige UdSSR deportiert wurden. Als Arbeitsunfähigkeit im Zusammenhang mit einem Aufenthalt in der Deportation wird die Arbeitsunfähigkeit aufgrund von Verwundungen, Verletzungen und anderen Versehrungen oder Krankheiten, die auf diesen Aufenthalt zurückzuführen sind, angesehen.

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

7 Frau Nerkowska, die zurzeit die polnische Staatsangehörigkeit besitzt, wurde am 2. Februar 1946 im Gebiet des heutigen Weißrussland geboren.

8 Im Alter von drei Jahren verlor sie ihre Eltern, die kraft eines Gerichtsurteils nach Sibirien deportiert wurden.

9 Im April 1951 wurde Frau Nerkowska zusammen mit ihrem Bruder und ihrer Tante selbst in die ehemalige UdSSR deportiert. Dort lebte sie unter schwierigen Bedingungen bis Januar 1957.

10 Nach fast sechs Jahren kehrte sie nach Polen zurück. Dort absolvierte sie eine Ausbildung und arbeitete nach deren Beendigung auf einer Verwaltungsstelle.

11 1985 verließ sie Polen und ließ sich dauerhaft in Deutschland nieder.

12 Im Oktober 2000 wurde der Zaklad Ubezpieczen Spolecznych Oddzial w Koszalinie mit einem Antrag von Frau Nerkowska auf eine Invaliditätsrente wegen der während ihrer Deportation erlittenen Gesundheitsschäden befasst.

13 Mit Bescheid vom 4. Oktober 2002 erkannte der Zaklad Ubezpieczen Spolecznych Oddzial w Koszalinie die Rentenberechtigung von Frau Nerkowska wegen ihrer teilweisen Arbeitsunfähigkeit im Zusammenhang mit ihrem Aufenthalt an Orten zur Isolierung an, doch wurde die Zahlung der entsprechenden Leistung mit der Begründung ausgesetzt, dass die Berechtigte nicht in Polen wohne.

14 Gegen diesen Bescheid erhob Frau Nerkowska Klage beim Sad Okregowy w Koszalinie (Bezirksgericht Koszalin) mit dem Antrag, ihren Anspruch auf Auszahlung der beantragten Invaliditätsrente festzustellen. Dieses Gericht folgte ihrer Argumentation nicht und wies die Klage nach Durchführung der Beweisaufnahme mit Urteil vom 22. Mai 2003 ab.

15 Im September 2006 stellte Frau Nerkowska einen neuen Antrag auf Zahlung der genannten Leistung. Sie stützte ihren Antrag auf das Vorbringen, dass die Republik Polen am 1. Mai 2004 der Europäischen Union beigetreten sei und demnach das Gemeinschaftsrecht in das innerstaatliche polnische Recht übernommen habe.

16 Am Ende des Verwaltungsverfahrens erließ der Zaklad Ubezpieczen Spolecznych Oddzial w Koszalinie am 14. September 2006 den Bescheid, der Gegenstand der Ausgangsrechtssache ist, und verweigerte Frau Nerkowska die Zahlung der Invaliditätsrente, die der ihr zuvor zuerkannten Berechtigung entsprach, da sie nicht im Gebiet der Republik Polen wohne.

17 Frau Nerkowska hat gegen diesen Bescheid bei dem vorlegenden Gericht Klage mit dem Antrag erhoben, ihn dahin gehend abzuändern, dass ihr die Invaliditätsrente gezahlt wird. Sie macht geltend, dass ihr gegenwärtiger Wohnsitz angesichts des Beitritts der Republik Polen zur Union kein Hinderungsgrund für die Zahlung dieser Leistung sein dürfe.

18 Unter diesen Umständen hat das Sad Okregowy w Koszalinie beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Steht Art. 18 EG, der den Bürgern der Europäischen Union das Recht gewährleistet, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, der Geltung der in Art. 5 des Gesetzes von 1974 niedergelegten nationalen rechtlichen Regelung insoweit entgegen, als darin die Auszahlung der Rentenleistung wegen Arbeitsunfähigkeit im Zusammenhang mit einem Aufenthalt an Orten zur Isolierung von der Erfüllung der Voraussetzung abhängig gemacht wird, dass sich die berechtigte Person im Hoheitsgebiet des polnischen Staates aufhält?

Zur Vorlagefrage

19 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 18 Abs. 1 EG dahin auszulegen ist, dass er der Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, nach der dieser Staat einem seiner Staatsangehörigen, dem durch eine Entscheidung der zuständigen Behörde ein Anspruch auf eine Leistung für zivile Kriegs- oder Repressionsopfer zuerkannt wurde, die Zahlung dieser Leistung dennoch allein deshalb verweigert, weil der Betroffene nicht im Gebiet dieses Staates, sondern im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnt.

20 Zunächst ist zu klären, ob eine Situation wie die im Ausgangsverfahren in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts und insbesondere des Art. 18 Abs. 1 EG fällt.

Zur Anwendbarkeit des Art. 18 Abs. 1 EG

21 Was zum einen den persönlichen Anwendungsbereich dieser Bestimmung anbelangt, genügt die Feststellung, dass gemäß Art. 17 Abs. 1 EG den Status eines Unionsbürgers hat, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt. Außerdem knüpft Art. 17 Abs. 2 EG an diesen Status die im EG-Vertrag vorgesehenen Rechte und Pflichten, zu denen die in Art. 18 Abs. 1 EG genannten gehören (Urteil vom 26. Oktober 2006, Tas-Hagen und Tas, C-192/05, Slg. 2006, I-10451, Randnr. 18).

22 Als polnische Staatsangehörige hat Frau Nerkowska den mit Art. 17 Abs. 1 EG eingeführten Status eines Unionsbürgers und kann sich daher gegebenenfalls auf die mit diesem Status verbundenen Rechte berufen, insbesondere auf das in Art. 18 Abs. 1 EG verliehene Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten.

23 Was zum anderen den sachlichen Anwendungsbereich von Art. 18 Abs. 1 EG betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass eine Leistung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, deren Zweck in der Entschädigung ziviler Kriegs- oder Repressionsopfer für eine von ihnen erlittene psychische oder körperliche Beschädigung besteht, beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt (Urteil Tas-Hagen und Tas, Randnr. 21).

24 Diese müssen von dieser Zuständigkeit jedoch unter Beachtung des Gemeinschaftsrechts, insbesondere der Vertragsbestimmungen über die jedem Unionsbürger zuerkannte Freiheit, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, Gebrauch machen (Urteil Tas-Hagen und Tas, Randnr. 22).

25 Außerdem steht fest, dass die in Art. 17 EG vorgesehene Unionsbürgerschaft nicht bezweckt, den sachlichen Anwendungsbereich des Vertrags auf interne Sachverhalte zu erstrecken, die keinerlei Bezug zum Gemeinschaftsrecht aufweisen (Urteile vom 5. Juni 1997, Uecker und Jacquet, C-64/96 und C-65/96, Slg. 1997, I-3171, Randnr. 23, vom 2. Oktober 2003, Garcia Avello, C-148/02, Slg. 2003, I-11613, Randnr. 26, und Tas-Hagen und Tas, Randnr. 23).

26 Wie der Gerichtshof allerdings bereits entschieden hat, gehören zu den Situationen, die in den sachlichen Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts fallen, insbesondere auch diejenigen, die die Ausübung der durch den Vertrag garantierten Grundfreiheiten betreffen, und diejenigen, die die Ausübung der durch Art. 18 EG verliehenen Freiheit, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zu bewegen und aufzuhalten, betreffen (Urteile vom 15. März 2005, Bidar, C-209/03, Slg. 2005, I-2119, Randnr. 33, und vom 12. Juli 2005, Schempp, C-403/03, Slg. 2005, I-6421, Randnrn. 17 und 18).

27 Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass eine Situation wie die von Frau Nerkowska das Recht der Unionsbürger betrifft, sich in den Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten. Die Klägerin des Ausgangsverfahrens hat mit ihrer Wohnsitznahme in Deutschland von dem in Art. 18 Abs. 1 EG jedem Unionsbürger zuerkannten Recht Gebrauch gemacht, sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats als des Staates, dessen Staatsangehöriger er ist, frei zu bewegen und aufzuhalten.

28 Außerdem ergibt sich aus den dem Gerichtshof vom vorlegenden Gericht übermittelten Akten klar, dass die Auszahlung der Frau Nerkowska gewährten Invaliditätsrente nur deshalb verweigert wurde, weil sie ihren Wohnsitz in Deutschland genommen hatte.

29 Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass eine Situation, in der sich die Inanspruchnahme einer von der Gemeinschaftsrechtsordnung verliehenen Freiheit durch Frau Nerkowska auf ihren Anspruch auf Zahlung einer im nationalen Recht vorgesehenen Leistung auswirkt, nicht als rein interner Sachverhalt ohne irgendeinen Bezug zum Gemeinschaftsrecht angesehen werden kann.

30 Es ist daher zu prüfen, ob der auf eine Situation wie die im Ausgangsverfahren anwendbare Art. 18 Abs. 1 EG dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die für die Zahlung einer zivilen Kriegs- oder Repressionsopfern gewährten Invaliditätsrente zur Voraussetzung macht, dass der Begünstigte seinen Wohnsitz in dem Mitgliedstaat hat, der diese Leistung gewährt.

Zum Wohnsitzerfordernis

31 Zur Reichweite des Art. 18 Abs. 1 EG hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass die vom Vertrag eröffneten Erleichterungen der Freizügigkeit ihre volle Wirkung nicht entfalten könnten, wenn ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats von ihrer Wahrnehmung durch Hindernisse abgehalten werden könnte, die seinem Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat infolge einer Regelung seines Herkunftsstaats entgegenstehen, die Nachteile daran knüpft, dass er von diesen Erleichterungen Gebrauch gemacht hat (Urteile vom 29. April 2004, Pusa, C-224/02, Slg. 2004, I-5763, Randnr. 19, und Tas-Hagen und Tas, Randnr. 30).

32 Eine nationale Regelung, die bestimmte eigene Staatsangehörige allein deswegen benachteiligt, weil sie von ihrer Freiheit, sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben und sich dort aufzuhalten, Gebrauch gemacht haben, stellt eine Beschränkung der Freiheiten dar, die Art. 18 Abs. 1 EG jedem Unionsbürger verleiht (Urteile vom 18. Juli 2006, De Cuyper, C-406/04, Slg. 2006, I-6947, Randnr. 39, und Tas-Hagen und Tas, Randnr. 31).

33 Das Gesetz von 1974 stellt eine solche Beschränkung dar. Da es die Zahlung der zugunsten ziviler Kriegs- oder Repressionsopfer eingeführten Invaliditätsrente davon abhängig macht, dass die Begünstigten ihren Wohnsitz im Inland haben, kann dieses Gesetz polnische Staatsangehörige, die sich in einer Situation wie der der Klägerin des Ausgangsverfahrens befinden, davon abhalten, von ihrer Freiheit, sich in einen anderen Mitgliedstaat als Polen zu begeben und sich dort aufzuhalten, Gebrauch zu machen.

34 Eine nationale Regelung, die die Ausübung der Freiheiten durch die eigenen Staatsangehörigen derart beschränkt, lässt sich nach Gemeinschaftsrecht nur rechtfertigen, wenn sie auf objektiven, von der Staatsangehörigkeit der Betroffenen unabhängigen Erwägungen des Allgemeininteresses beruht und in einem angemessenen Verhältnis zu dem mit dem nationalen Recht legitimerweise verfolgten Zweck steht (Urteile De Cuyper, Randnr. 40, und Tas-Hagen und Tas, Randnr. 33).

35 Hinsichtlich der ersten Voraussetzung ergibt sich aus den Erklärungen, die der Beklagte des Ausgangsverfahrens und die polnische Regierung beim Gerichtshof eingereicht haben, dass die in dem Gesetz von 1974 niedergelegte Beschränkung im Wesentlichen auf den Willen des polnischen Gesetzgebers zurückgeht, die Solidaritätsverpflichtung gegenüber zivilen Kriegs- oder Repressionsopfern auf die Personen zu beschränken, die eine Verbindung zum polnischen Volk aufweisen. Das Wohnsitzerfordernis wäre somit Ausdruck des Maßes ihrer Integration in die polnische Gesellschaft.

36 Außerdem machen der Beklagte des Ausgangsverfahrens und die polnische Regierung geltend, nur ein Wohnsitzerfordernis wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende gewährleiste, dass überprüft werden könne, dass hinsichtlich der Situation des Empfängers der fraglichen Leistung keine Änderungen eingetreten seien, die sich auf seinen Anspruch auf diese Leistung auswirken könnten. Sie betonen insoweit, dass den von den zuständigen polnischen Stellen vorgenommenen Kontrollen dadurch die Wirksamkeit und die Effektivität genommen werde, dass es nicht möglich sei, auf den administrativen und medizinischen Beistand der anderen Mitgliedstaaten zurückzugreifen, der für Leistungen der sozialen Sicherheit in der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 (ABl. 1997, L 28, S. 1) geänderten und aktualisierten Fassung vorgesehen sei. Ferner seien andere, weniger restriktive Maßnahmen nicht in gleichem Maße wirksam wie die genannte Voraussetzung.

37 Sowohl der Wille, die Existenz einer Verbindung zwischen der Gesellschaft des betroffenen Mitgliedstaats und dem Empfänger einer Leistung sicherzustellen, als auch die Notwendigkeit einer Überprüfung, dass er weiterhin die Voraussetzungen für den Bezug der Leistung erfüllt, sind objektive Erwägungen des Allgemeininteresses, die es rechtfertigen können, dass die Freizügigkeit der Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats durch die Voraussetzungen für die Gewährung oder die Auszahlung der Leistung berührt werden kann.

38 Zum Erfordernis einer Verbindung mit der Gesellschaft des betroffenen Mitgliedstaats hat der Gerichtshof in Bezug auf eine Leistung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, die nicht gemeinschaftsrechtlich geregelt ist, ausgeführt, dass die Mitgliedstaaten ein weites Ermessen in Bezug auf die Festlegung der Kriterien zur Beurteilung einer solchen Verbundenheit haben, wobei sie freilich die vom Gemeinschaftsrecht gezogenen Grenzen zu beachten haben (Urteil Tas-Hagen und Tas, Randnr. 36).

39 Es ist demnach legitim, dass ein Mitgliedstaat mittels Voraussetzungen hinsichtlich der Staatsangehörigkeit oder des Wohnsitzes der betroffenen Person die Entschädigung, die zivilen Kriegs- oder Repressionsopfern gewährt wird, Personen vorbehält, bei denen ein gewisses Maß an Verbundenheit mit der Gesellschaft dieses Mitgliedstaats bejaht wird.

40 Allerdings darf die in Randnr. 33 dieses Urteils festgestellte Beschränkung, auch wenn sie mit objektiven Erwägungen des Allgemeininteresses wie den in der vorstehenden Randnummer genannten gerechtfertigt werden kann, nicht außer Verhältnis zu dem verfolgten Zweck stehen.

41 Was erstens die Voraussetzung des ständigen Wohnsitzes im Inland während der gesamten Dauer des Leistungsbezugs als Element der Verbindung von zivilen Kriegs- oder Repressionsopfern mit der polnischen Gesellschaft anbelangt, ist festzustellen, dass der Wohnsitz zwar ein geeignetes Kriterium ist, um die Existenz einer solchen Verbindung zu belegen, dass eine solche Voraussetzung unter den Umständen der Ausgangsrechtssache aber nichtsdestoweniger über das hinausgeht, was zur Erreichung des verfolgten Zwecks erforderlich ist.

42 Es steht nämlich fest, dass Frau Nerkowska die polnische Staatsangehörigkeit besitzt und mehr als 20 Jahre lang in Polen gelebt hat, wobei sie in dieser Zeit dort ihre Ausbildung absolviert und gearbeitet hat.

43 Der Besitz der Staatsangehörigkeit des Mitgliedstaats, der die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Leistung gewährt, sowie der Umstand, dass die betroffene Person in diesem Staat mehr als 20 Jahre lang gelebt, dort ihre Ausbildung absolviert und gearbeitet hat, können ausreichen, um Verbindungen zwischen diesem Staat und dem Empfänger der genannten Leistung zu belegen. Unter diesen Umständen ist das Erfordernis eines Wohnsitzes während der gesamten Dauer des Leistungsbezugs als unverhältnismäßig anzusehen, da es über das hinausgeht, was erforderlich ist, um eine solche Verbindung zu gewährleisten.

44 Was zweitens das Argument betrifft, das Wohnsitzerfordernis sei das einzige Mittel, um zu überprüfen, dass der Empfänger einer Invaliditätsrente weiterhin die Voraussetzungen für ihren Bezug erfülle, so genügt die Antwort, dass keine Rede davon sein kann, dass sich das verfolgte Ziel nicht durch andere Mittel erreichen lässt, die weniger restriktiv, aber genauso wirksam sind.

45 Wenn nämlich eine medizinische oder administrative Kontrolle die Anwesenheit des Empfängers einer Leistung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden im Gebiet des betroffenen Mitgliedstaats erforderlich machen sollte, hindert nichts diesen Staat daran, den Empfänger aufzufordern, sich zur Durchführung einer solchen Kontrolle in diesen Mitgliedstaat zu begeben, wobei er auch vorsehen kann, dass die Zahlung der Leistung bei ungerechtfertigter Weigerung des Empfängers ausgesetzt wird.

46 Folglich geht ein Wohnsitzerfordernis wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende über das hinaus, was erforderlich ist, um das Ziel zu erreichen, zu überprüfen, dass der Empfänger einer Leistung weiterhin die Voraussetzungen für ihre Gewährung erfüllt, und beachtet damit nicht den in den Randnrn. 34 und 40 des vorliegenden Urteils dargelegten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.

47 Angesichts der vorstehenden Erwägungen ist auf die vorgelegte Frage zu antworten, dass Art. 18 Abs. 1 EG dahin auszulegen ist, dass er der Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, wonach dieser seinen Staatsangehörigen allgemein und unter allen Umständen die Zahlung einer Leistung für zivile Kriegs- oder Repressionsopfer allein aufgrund des Umstands verweigert, dass sie nicht während der gesamten Zeit des Leistungsbezugs im Gebiet dieses Staates, sondern im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnen.

Kostenentscheidung:

Kosten

48 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Tenor:

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 18 Abs. 1 EG ist dahin auszulegen, dass er der Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, wonach dieser seinen Staatsangehörigen allgemein und unter allen Umständen die Zahlung einer Leistung für zivile Kriegs- oder Repressionsopfer allein aufgrund des Umstands verweigert, dass sie nicht während der gesamten Zeit des Leistungsbezugs im Gebiet dieses Staates, sondern im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnen.



Ende der Entscheidung

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