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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 18.02.1992
Aktenzeichen: C-54/90
Rechtsgebiete: EWGV, VerfOEuGH


Vorschriften:

EWGV Art. 173 Abs. 2
EWGV Art. 214
VerfOEuGH Art. 38
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Aus Artikel 19 des Beamtenstatuts ergibt sich, daß ein Beamter, der wegen Auskünften, die er in offizieller Eigenschaft Dritten erteilt haben soll, als Zeuge vor ein nationales Gericht geladen wird, hierfür die vorherige Zustimmung seines Organs einholen muß, ohne daß es darauf ankäme, ob die Auskünfte unter die Geheimhaltungspflicht fallen.

2. Wenn die von einem nationalen Gericht begehrte Zeugenaussage eines Beamten, die die Frage betrifft, ob dieser den mit der Durchführung der gemeinsamen Agrarpolitik betrauten nationalen Behörden eine bestimmte Auslegung einer Verordnung gegeben hat, nicht geeignet ist, die nötigen Beziehungen zwischen den Dienststellen der Kommission und den nationalen Verwaltungen zu beeinträchtigen, darf die Kommission die in Artikel 19 des Beamtenstatuts genannte Zustimmung nicht versagen.


URTEIL DES GERICHTSHOFES VOM 18. FEBRUAR 1992. - WEDDEL & CO BV GEGEN KOMMISSION DER EUROPAEISCHEN GEMEINSCHAFTEN. - VERSAGUNG DER ZUSTIMMUNG AN EINEN BEAMTEN, IN EINEM NATIONALEN GERICHTSVERFAHREN ALS ZEUGE AUSZUSAGEN, DURCH EIN GEMEINSCHAFTSORGAN. - RECHTSSACHE C-54/90.

Entscheidungsgründe:

1 Die Weddel & Co. BV hat mit Klageschrift, die am 7. März 1990 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 173 Absatz 2 EWG-Vertrag die Aufhebung der Entscheidung der Kommission beantragt, einem ihrer Beamten die Zustimmung zur Aussage als Zeuge in einem nationalen Gerichtsverfahren zu versagen, die der Klägerin mit Schreiben vom 12. Januar 1990 mitgeteilt wurde.

Vorgeschichte des Rechtsstreits

2 Durch die Verordnung (EWG) Nr. 2539/87 der Kommission vom 24. August 1987 über die Menge hochwertigen Rindfleischs aus den Vereinigten Staaten von Amerika und Kanada, die im Rahmen der durch die Verordnung (EWG) Nr. 3928/86 des Rates vorgesehenen Regelung eingeführt werden darf (ABl. L 241, S. 6), wurde ein Ausschreibungsverfahren eröffnet. Artikel 1 dieser Verordnung sah vor, daß Einfuhrlizenzen für eine Gesamtmenge von 4 617 Tonnen beantragt werden konnten.

3 Am 9. und 10. September 1987 reichte die Klägerin bei der "Produktschap voor Vee en Vlees" (nachstehend: Produktschap), der für die Erteilung von Einfuhrlizenzen verantwortlichen niederländischen Stelle, Anträge für insgesamt 320 000 Tonnen Rindfleisch ein.

4 Nachdem die Produktschap der Kommission den Gesamtbetrag der in den Niederlanden eingereichten Anträge mitgeteilt hatte, informierte die Kommission sie am 15. September 1987 darüber, daß sich jeder Lizenzantrag aufgrund der Umstände und des Wortlauts der Verordnung Nr. 2539/87 auf eine Gesamtmenge beziehen müsse, die die im Zeitpunkt seiner Einreichung verfügbare Gesamtmenge nicht überschreite.

5 Tatsächlich legte die Kommission in der Verordnung (EWG) Nr. 2806/87 vom 18. September 1987 betreffend die Erteilung von Einfuhrlizenzen für frisches, gekühltes oder gefrorenes hochwertiges Rindfleisch (ABl. L 268, S. 59) fest, daß jedem Lizenzantrag nur bis zu 0,2425 % der beantragten Menge stattgegeben werden könne und daß Anträgen, die die zur Verfügung stehende Menge von 4 617 Tonnen überschritten, nur bis zu dieser Menge Rechnung getragen werde.

6 Infolge dieser Hoechstgrenze für Anträge erhielt die Klägerin nur eine Einfuhrlizenz für 0,2425 % von 4 617 Tonnen, so daß sie nur 11,196 Tonnen einführen durfte.

7 Die Klägerin erhob gegen die Verordnung Nr. 2806/87 Nichtigkeitsklage, die vom Gerichtshof als unbegründet abgewiesen wurde (vgl. Urteil vom 6. November 1990 in der Rechtssache C-354/87, Weddel/Kommission, Slg. 1990, I-3847).

8 Am 2. November 1989 beantragte die Klägerin ausserdem bei der Arrondissementsrechtbank Den Haag eine vorläufige Zeugenvernehmung im Sinne von Artikel 214 des Nederlandse Wetbök van Burgerlijke rechtsvordering (Niederländisches Zivilprozeßgesetzbuch), um die Aussichten prüfen zu können, vor Gericht von der Produktschap Ersatz des Schadens zu erlangen, den sie durch die Ablehnung ihrer Lizenzanträge, die die verfügbare Menge überschritten, erlitten zu haben glaubt. Die Klägerin macht nämlich geltend, die Produktschap habe ihr versichert, daß es keine Hoechstgrenze für die Anträge gebe, und habe sie dadurch veranlasst, Anträge einzureichen, die das verfügbare Kontingent überschritten hätten. Die Produktschap erklärt ihrerseits, ein Kommissionsbeamter habe ihr inoffiziell versichert, daß es keine Hoechstgrenze gebe.

9 Mit Schreiben vom 29. November 1989 ersuchte die Klägerin die Kommission, dem betreffenden Beamten gemäß Artikel 19 des Statuts der Beamten der Europäischen Gemeinschaften (nachstehend: Beamtenstatut) die Zustimmung zu erteilen, im Rahmen der vorläufigen Vernehmung als Zeuge zu den Auskünften auszusagen, die er der Produktschap gegeben habe.

10 Die Klägerin teilte der Kommission mit Schreiben vom 14. Dezember 1989 mit, daß der nationale Richter die vorläufige Vernehmung von Zeugen angeordnet habe, zu denen der fragliche Beamte gehöre, und daß sie die Absicht habe, diesen Beamten durch den Gerichtsvollzieher als Zeugen vorladen zu lassen.

11 Durch einen internen Bescheid vom 11. Januar 1990, der dem Beamten mitgeteilt wurde, versagte die Kommission ihm die Zustimmung zur Zeugenaussage mit folgender Begründung:

"... da beim Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften eine Rechtssache anhängig ist, die den gleichen Sachverhalt betrifft (Weddel/Kommission), werden die Fragen, über die Sie aussagen sollen, dort von der zuständigen Stelle der Kommission (Juristischer Dienst, Bevollmächtigter der Kommission) offiziell beantwortet."

12 Die Kommission teilte der Klägerin diese Versagung mit Schreiben vom 12. Januar 1990 mit, dem eine Kopie des genannten internen Bescheids beigefügt war.

13 Am 16. Januar 1990 vernahm der zuständige kommissarische Richter vier andere geladene Zeugen, die erklärten, der Kommissionsbeamte habe vor dem Ablauf der Frist zur Einreichung der Lizenzanträge auf eine Reihe von Fragen der Produktschap ausdrücklich, mehrfach und vorbehaltlos geantwortet, daß die beantragten Mengen die verfügbaren Mengen überschreiten könnten.

14 Wegen weiterer Einzelheiten des rechtlichen Rahmens und des Sachverhalts, des Verfahrens sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt ist im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

Zulässigkeit der Klage

15 Die Kommission hält die Klage für unzulässig, da sie das Erfordernis der Angabe des Streitgegenstands gemäß Artikel 38 § 1 Buchstabe c der Verfahrensordnung des Gerichtshofes nicht erfuelle. In der Klageschrift werde nämlich nicht genau angegeben, ob die Klage gegen die dem Beamten mitgeteilte Versagung der Zustimmung zur Zeugenaussage gerichtet sei oder gegen das Schreiben an die Klägerin.

16 Diese Einrede ist zurückzuweisen. Nach dem Wortlaut der Klageschrift richtet sich die Klage gegen die Entscheidung vom 12. Januar 1990. Die Kommission konnte daher ohne Schwierigkeiten erkennen, daß die Handlung Streitgegenstand ist, mit der die Kommission den Antrag der Klägerin auf Erteilung der Zustimmung zur Zeugenaussage ihres Beamten ablehnte.

17 Zu den Anforderungen von Artikel 173 Absatz 2 EWG-Vertrag ist zum einen festzustellen, daß die Versagungsentscheidung vom 12. Januar 1990 an die Klägerin ergangen ist und ihr mit Schreiben vom gleichen Tag in Beantwortung ihres Antrags vom 29. November mitgeteilt wurde, und zum anderen, daß die streitige Handlung die Rechtsstellung der Klägerin insoweit beeinträchtigt, als dadurch im Rahmen der vorläufigen Zeugenvernehmung die Prüfung von Tatsachen behindert wurde, die für die Klägerin im Hinblick auf die eventuelle Erhebung einer Schadensersatzklage gegen die Produktschap von Bedeutung sein könnten.

18 Die Klage ist somit zulässig.

Begründetheit

Zum Hauptklagegrund

19 Mit ihrem Hauptklagegrund macht die Klägerin geltend, daß die Kommission sich im vorliegenden Fall zu Unrecht auf die Anwendbarkeit von Artikel 19 des Beamtenstatuts berufe. Diese Bestimmung müsse nämlich unter Berücksichtigung der Geheimhaltungspflicht der Beamten gemäß Artikel 214 EWG-Vertrag und Artikel 17 des Beamtenstatuts ausgelegt werden. Diese Pflicht verbiete es den Beamten, von Dritten erhaltene vertrauliche Auskünfte weiterzugeben oder unveröffentlichte Dokumente und Informationen Personen zur Kenntnis zu bringen, die hierzu nicht berechtigt seien. Artikel 19 des Beamtenstatuts gelte nur für die von der Geheimhaltungspflicht umfassten Informationen. Im Rahmen der gemeinsamen Agrarpolitik könnten den Kommissionsbeamten von den Interventionsstellen zahlreiche Fragen gestellt werden, und diese Beamten könnten sie beantworten, ohne gegen ihre Geheimhaltungspflicht zu verstossen. Die auf diese Weise gegebenen Antworten oder Auskünfte unterlägen folglich nicht dem in Artikel 19 des Statuts geregelten Zustimmungserfordernis.

20 Diese enge Auslegung ist dem Wortlaut von Artikel 19 des Beamtenstatuts nicht zu entnehmen. Aus dem Wortlaut dieser Bestimmung in ihren verschiedenen sprachlichen Fassungen ergibt sich im Gegenteil, daß ein Beamter, der - wie im vorliegenden Fall - wegen Auskünften, die er in offizieller Eigenschaft Dritten erteilt haben soll, als Zeuge vor ein nationales Gericht geladen wird, hierfür die vorherige Zustimmung seines Organs einholen muß, ohne daß es darauf ankäme, ob die Auskünfte unter die Geheimhaltungspflicht fallen.

Zum hilfsweisen Klagegrund

21 Für den Fall, daß Artikel 19 des Statuts anwendbar ist, macht die Klägerin hilfsweise geltend, die Kommission habe nicht nachgewiesen, daß die Interessen der Gemeinschaft im Sinne dieser Bestimmung die Versagung der Zustimmung zur Zeugenaussage des Beamten erforderten. Ausserdem könne die Zustimmung nicht versagt werden, weil dies zu strafrechtlichen oder vergleichbaren Folgen für den betreffenden Beamten führen könne.

22 Zum ersten Gesichtspunkt ist festzustellen, daß das einzige Argument der Kommission, das die Interessen der Gemeinschaft betrifft, sich auf die ordnungsgemässe Verwaltung der gemeinsamen Marktorganisationen bezieht.

23 Hierzu ist darauf hinzuweisen, daß durch die beantragte Zeugenvernehmung allein in Erfahrung gebracht werden soll, ob der Beamte der Produktschap eine bestimmte Auslegung einer gemeinschaftlichen Agrarverordnung gegeben hat.

24 Unter den Umständen des vorliegenden Falls ist eine solche Aussage nicht geeignet, die nötigen Beziehungen zwischen den Dienststellen der Kommission und den nationalen Verwaltungen zu beeinträchtigen; sie kann folglich die ordnungsgemässe Verwaltung der gemeinsamen Marktorganisationen nicht gefährden.

25 Die Kommission ist daher zu Unrecht davon ausgegangen, daß die Interessen der Gemeinschaft der von der Klägerin begehrten Erteilung der Zustimmung zur Zeugenaussage ihres Beamten entgegenstanden.

26 Die angefochtene Entscheidung über die Versagung der Zustimmung ist somit aufzuheben, ohne daß als weitere Voraussetzung von Artikel 19 des Beamtenstatuts festgestellt werden müsste, daß die Versagung für den Beamten keine strafrechtlichen Folgen haben kann.

Kostenentscheidung:

Kosten

27 Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kommission mit ihrem Vorbringen im wesentlichen unterlegen ist, sind ihr die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

für Recht erkannt und entschieden:

1) Die Entscheidung vom 12. Januar 1990, mit der die Kommission einem ihrer Beamten die Zustimmung zur Zeugenaussage vor der Arrondissementsrechtbank Den Haag versagt hat, wird aufgehoben.

2) Die Kommission trägt die Kosten des Verfahrens.

Ende der Entscheidung

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