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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 08.09.2005
Aktenzeichen: C-544/03
Rechtsgebiete: EG-Vertrag, Richtlinie 90/388/EWG


Vorschriften:

EG-Vertrag Art. 59
Richtlinie 90/388/EWG Art. 3c
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Urteil des Gerichtshofes (Erste Kammer) vom 8. September 2005. - Mobistar SA gegen Commune de Fléron (C-544/03) und Belgacom Mobile SA gegen Commune de Schaerbeek (C-545/03). - Ersuchen um Vorabentscheidung: Conseil d'État - Belgien. - Artikel 59 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 49 EG) - Telekommunikationsdienste - Richtlinie 90/388/EWG - Artikel 3c - Aufhebung aller Beschränkungen - Kommunale Abgaben auf Sendetürme, Sendemasten und Antennen für den Mobilfunk. - Verbundene Rechtssachen C-544/03 und C-545/03.

Parteien:

In den verbundenen Rechtssachen C-544/03 und C-545/03

betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Artikel 234 EG, eingereicht vom Conseil d'État (Belgien) mit Beschluss vom 8. Dezember 2003, beim Gerichtshof eingegangen am 23. Dezember 2003, in den Verfahren

Mobistar SA (C544/03)

gegen

Commune de Fléron

und

Belgacom Mobile SA (C545/03)

gegen

Commune de Schaerbeek

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten P. Jann, des Richters K. Lenaerts, der Richterin N. Colneric (Berichterstatterin) sowie der Richter E. Juhász und M. Ilei,

Generalanwalt: P. Léger,

Kanzler: M.-F. Contet, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 20. Januar 2005,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

- der Mobistar SA, vertreten durch Y. van Gerven, A. Vallery und A. Desmedt, avocats,

- der Belgacom Mobile SA, vertreten durch H. De Bauw, advocaat, und P. Carreau, avocat,

- der Commune de Fléron, vertreten durch M. Vankan, avocat,

- der Commune de Schaerbeeck, vertreten durch J. Bourtembourg, avocat,

- der belgischen Regierung, vertreten durch A. Goldman und E. Dominkovits als Bevollmächtigte,

- der niederländischen Regierung, vertreten durch H. G. Sevenster als Bevollmächtigte,

- der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch J.P. Keppenne, M. Shotter und L. Ström van Lier als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 7. April 2005

folgendes

Urteil

Entscheidungsgründe:

1. Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung der Artikel 59 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 49 EG) und 3c der Richtlinie 90/388/EWG der Kommission vom 28. Juni 1990 über den Wettbewerb auf dem Markt für Telekommunikationsdienste (ABl. L 192, S. 10), die hinsichtlich der Einführung des vollständigen Wettbewerbs auf den Telekommunikationsmärkten durch die Richtlinie 96/19/EG der Kommission vom 13. März 1996 (ABl. L 74, S. 13) geändert wurde (im Folgenden: Richtlinie 90/388).

2. Diese Ersuchen ergehen im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten, die von in Belgien ansässigen Mobilfunkbetreibern, den klägerischen Firmen Mobistar SA (im Folgenden: Mobistar) und Belgacom Mobile SA (im Folgenden: Belgacom Mobile) anhängig gemacht worden sind. Die Klägerinnen beantragen die Nichtigerklärung der von den Gemeinden Fléron (Belgien) und Schaerbeek (Belgien) eingeführten Abgaben auf Antennen sowie Sendemasten und -türme für den Mobilfunk bzw. auf Außenantennen.

3. Die Rechtssachen sind durch Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofes vom 4. März 2004 zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden.

Rechtlicher Rahmen

4. Artikel 59 Absatz 1 EG-Vertrag bestimmt:

Die Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs innerhalb der Gemeinschaft für Angehörige der Mitgliedstaaten, die in einem anderen Staat der Gemeinschaft als demjenigen des Leistungsempfängers ansässig sind, werden während der Übergangszeit nach Maßgabe der folgenden Bestimmungen schrittweise aufgehoben.

5. Artikel 86 Absatz 1 EG-Vertrag (jetzt Artikel 82 Absatz 1 EG) sieht vor:

Mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar und verboten ist die missbräuchliche Ausnutzung einer beherrschenden Stellung auf dem Gemeinsamen Markt oder auf einem wesentlichen Teil desselben durch ein oder mehrere Unternehmen, soweit dies dazu führen kann, den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen.

6. Artikel 90 EG-Vertrag (jetzt Artikel 86 EG) lautet:

(1) Die Mitgliedstaaten werden in Bezug auf öffentliche Unternehmen und auf Unternehmen, denen sie besondere oder ausschließliche Rechte gewähren, keine diesem Vertrag und insbesondere dessen Artikeln 12 und 81 bis 89 widersprechende Maßnahmen treffen oder beibehalten.

(2) Für Unternehmen, die mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betraut sind oder den Charakter eines Finanzmonopols haben, gelten die Vorschriften dieses Vertrags, insbesondere die Wettbewerbsregeln, soweit die Anwendung dieser Vorschriften nicht die Erfüllung der ihnen übertragenen besonderen Aufgabe rechtlich oder tatsächlich verhindert. Die Entwicklung des Handelsverkehrs darf nicht in einem Ausmaß beeinträchtigt werden, das dem Interesse der Gemeinschaft zuwiderläuft.

(3) Die Kommission achtet auf die Anwendung dieses Artikels und richtet erforderlichenfalls geeignete Richtlinien oder Entscheidungen an die Mitgliedstaaten.

7. Artikel 3a der Richtlinie 90/388 bestimmt:

Zusätzlich zu den Erfordernissen des Artikels 2 Absatz 2 müssen die Mitgliedstaaten die Genehmigungsbedingungen für Mobilkommunikations- und Personal-Communications-Systeme nach folgenden Grundsätzen festlegen:

i) [D]ie Genehmigungsbedingungen dürfen keine anderen als die Bedingungen enthalten, die nach den grundlegenden Anforderungen gerechtfertigt sind, sowie Anforderungen an öffentliche Dienstleistungen in Form von gewerblichen Vorschriften bei Systemen, die für die Nutzung durch die Öffentlichkeit vorgesehen sind, gemäß Artikel 3;

ii) die Genehmigungsbedingungen für Mobilnetzbetreiber müssen ein transparentes und nicht diskriminierendes Verhalten bei Festnetz- und Mobilnetzbetreibern gewährleisten, die Eigentümer von festen wie auch mobilen Netzen sind;

iii) die Genehmigungsbedingungen dürfen keine ungerechtfertigten technischen Beschränkungen beinhalten. Die Mitgliedstaaten dürfen insbesondere nicht die Kombination von Lizenzen verhindern oder das Angebot verschiedener Technologien durch Inanspruchnahme unterschiedlicher Frequenzen beschränken, wenn Multistandardgerät verfügbar ist.

...

8. Artikel 3c der Richtlinie 90/388 sieht vor:

Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass für Betreiber von Mobilkommunikations- und Personal-Communications-Systemen alle Beschränkungen hinsichtlich des Aufbaus ihrer eigenen Infrastruktur, der Nutzung von durch Dritte bereitgestellter Infrastruktur und der gemeinsamen Nutzung von Infrastruktur, anderer Anlagen und Standorte, vorbehaltlich der Begrenzung der Nutzung dieser Infrastrukturen auf die in ihrer Lizenz oder Genehmigung vorgesehenen Tätigkeiten[,] aufgehoben werden.

9. Die Artikel 3a und 3c wurden durch die Richtlinie 96/2/EG der Kommission vom 16. Januar 1996 zur Änderung der Richtlinie 90/388 betreffend die mobile Kommunikation und Personal Communications (ABl. L 20, S. 59) in die Richtlinie 90/388 eingefügt. Die erste Begründungserwägung der Richtlinie 96/2 lautet:

In ihrer Mitteilung über die Konsultation zum Grünbuch über Mobilkommunikation und Personal Communications vom 23. November 1994 legte die Kommission die wichtigsten Maßnahmen für ein künftiges ordnungspolitisches Umfeld dar, das notwendig ist, um das Potenzial dieses Kommunikationsmittels zu nutzen. Dabei wies sie auf die Notwendigkeit hin, möglichst bald alle noch vorhandenen ausschließlichen und besonderen Rechte in diesem Bereich durch die uneingeschränkte Anwendung der gemeinschaftlichen Wettbewerbsregeln und gegebenenfalls durch Änderung der Richtlinie 90/388/EWG..., zuletzt geändert durch die Richtlinie 95/51/EG..., aufzuheben. Darüber hinaus erwog die Kommission, Beschränkungen der Mobilnetzbetreiber bei der freien Wahl der zugrunde liegenden Einrichtungen, welche sie zum Betrieb und zum Ausbau ihrer Netze für die in der entsprechenden Genehmigung oder Berechtigung vorgesehenen Zwecke benötigen, aufzuheben. Dieser Schritt wurde als notwendig angesehen, um bestehende Wettbewerbsverzerrungen zu beseitigen und insbesondere, um Betreibern solcher Netze die Kontrolle über ihre Kosten zu ermöglichen.

10. In der vierten Begründungserwägung der Richtlinie 96/2 heißt es:

Mehrere Mitgliedstaaten haben bereits bestimmte Mobilkommunikationsdienste für den Wettbewerb geöffnet und Lizenzierungsverfahren für diese Dienste eingeführt. Die Zahl der vergebenen Lizenzen ist jedoch in einigen Mitgliedstaaten durch eine Ermessensentscheidung begrenzt, oder sie ist, wenn Netzbetreiber mit Fernmeldeorganisationen im Wettbewerb stehen, technischen Beschränkungen wie dem Verbot der Nutzung anderer Infrastrukturen als derjenigen der Fernmeldeorganisationen unterworfen....

11. In der 16. Begründungserwägung dieser Richtlinie wird klargestellt:

... Zusätzlich verlangsamen Beschränkungen der Nutzung eigener Infrastruktur und der Nutzung von Infrastruktur Dritter die Entwicklung der Mobilfunkdienste, vor allem deshalb, weil effizientes paneuropäisches Roaming für GSM von der allgemeinen Verfügbarkeit von adressierten Signalisierungssystemen abhängt, einer Technologie, die innerhalb der Gemeinschaft noch nicht flächendeckend von Fernmeldeorganisationen angeboten wird.

Solche Einschränkungen bei der Bereitstellung und der Nutzung von Infrastrukturen beschneiden die Bereitstellung von Mobilkommunikations- und Personal-Communications-Diensten durch Betreiber anderer Mitgliedstaaten und sind deshalb mit Artikel 90 in Verbindung mit Artikel 59 des Vertrages unvereinbar. Soweit das Angebot von Mobilkommunikations- und Personal-Communications-Diensten im Wettbewerb dadurch behindert wird, dass die Fernmeldeorganisation nicht in der Lage ist, die Nachfrage des Mobilfunkbetreibers an Infrastruktur zu decken[,] oder dies nur auf der Grundlage von Tarifen geschieht, die nicht kostenorientiert sind, begünstigen diese Beschränkungen zwangsläufig den von der Fernmeldeorganisation angebotenen Telefondienst im Festnetz, für den die meisten Mitgliedstaaten noch ausschließliche Rechte aufrechterhalten. Die Einschränkung der Bereitstellung und der Nutzung von Infrastruktur verstößt deshalb gegen Artikel 90 in Verbindung mit Artikel 86. Infolgedessen müssen die Mitgliedstaaten diese Beschränkungen aufheben und auf Antrag den betreffenden Mobilfunkbetreibern unter Beachtung des Grundsatzes der Nichtdiskriminierung Zugang zu den notwendigen knappen Ressourcen für die Errichtung ihrer eigenen Infrastruktur, einschließlich Funkfrequenzen, gewähren.

12. Artikel 11 Absatz 1 der Richtlinie 97/13/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 10. April 1997 über einen gemeinsamen Rahmen für Allgemein- und Einzelgenehmigungen für Telekommunikationsdienste (ABl. L 117, S. 15) bestimmt unter der Überschrift Gebühren und Abgaben für Einzelgenehmigungen:

Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass von dem Unternehmen im Rahmen der Genehmigungsverfahren nur die Gebühren erhoben werden, die die für die Ausstellung, Verwaltung, Kontrolle und Durchsetzung der jeweiligen Einzelgenehmigungen anfallenden Verwaltungskosten abdecken. Die Gebühren für eine Einzelgenehmigung müssen in Relation zu dem damit verbundenen Aufwand stehen und sind mit ausreichenden Einzelheiten in geeigneter Form zu veröffentlichen, damit die Kenntnisnahme ohne Schwierigkeiten möglich ist.

13. Die Richtlinien 90/388 und 97/13 sind mit Wirkung vom 25. Juli 2003 durch die Richtlinie 2002/77/EG der Kommission vom 16. September 2002 über den Wettbewerb auf den Märkten für elektronische Kommunikationsnetze und dienste (ABl. L 249, S. 21) bzw. die Richtlinie 2002/21/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. März 2002 über einen gemeinsamen Rechtsrahmen für elektronische Kommunikationsnetze und -dienste (Rahmenrichtlinie) (ABl. L 108, S. 33) aufgehoben worden, die jedoch nach den Vorgängen der Ausgangsverfahren ergangen sind.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

Rechtssache C544/03

14. Der Gemeinderat von Fléron erließ in seiner Sitzung vom 27. Januar 1998 eine Abgabenverordnung in Bezug auf Sendetürme, Sendemasten und Antennen für den Mobilfunk. Die Abgabe wurde ab 1. Januar 1998 für einen Zeitraum von drei Jahren bis zum 31. Dezember 2000 erhoben. Sie belief sich auf 100 000 BEF je Sendeturm, Sendemast oder Antenne und war von deren Eigentümer zu entrichten.

15. Mit Klageschrift vom 12. April 1999 beantragte die Klägerin Mobistar die Nichtigerklärung dieser Abgabenverordnung beim Conseil d'État.

16. Die Klägerin stützt ihre Klage u. a. darauf, dass die Abgabenverordnung eine Beschränkung des Aufbaus ihres Mobilfunknetzes darstelle, die nach Artikel 3c der Richtlinie 90/388 verboten sei.

17. Der Conseil d'État, der über die Begründetheit dieses Klagegrundes nicht entscheiden konnte, ohne eine auslegungsbedürftige Norm des Gemeinschaftsrechts anzuwenden, und der zudem die Vereinbarkeit der streitigen Abgabe mit Artikel 49 EG als fraglich ansah, hat das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen vorgelegt:

1. Ist Artikel 49 EG dahin auszulegen, dass er der Regelung einer nationalen Behörde oder einer Gebietskörperschaft entgegensteht, mit der eine Abgabe auf die Infrastrukturen für Mobilkommunikation und Personal Communications eingeführt wird, die im Rahmen der durch Lizenzen und Genehmigungen gedeckten Tätigkeiten genutzt werden?

2. Steht Artikel 3c der Richtlinie 90/388, soweit mit dieser Vorschrift alle Beschränkungen aufgehoben werden sollen, der Regelung einer nationalen Behörde oder einer Gebietskörperschaft entgegen, mit der eine Abgabe auf die Infrastrukturen für Mobilkommunikation und Personal Communications eingeführt wird, die im Rahmen der durch Lizenzen und Genehmigungen gedeckten Tätigkeiten genutzt werden?

18. Der Gemeinderat von Schaerbeek erließ in seiner Sitzung vom 8. Oktober 1997 eine Abgabenverordnung für Außenantennen, mit der die von ihm zuvor für Parabolantennen erlassene Abgabenverordnung geändert wurde. Danach war für Außenantennen für die Haushaltsjahre 1997 bis 1999 jährlich eine Abgabe zu entrichten. Unter Außenantennen waren nicht nur Parabolantennen, sondern auch Mobilfunk- und andere Antennen zu verstehen. Die Abgabe belief sich auf 100 000 BEF je Mobilfunkantenne und auf 5 000 BEF je Parabol- oder andere Antenne.

19. Mit Klageschrift vom 19. Dezember 1997 beantragte die Klägerin Belgacom Mobile beim Conseil d'État die Nichtigerklärung dieser Abgabenverordnung.

20. Mit der Klage wurde u. a. ein Verstoß gegen die Gemeinschaftsbestimmungen über die Errichtung eines qualitativ hochwertigen und von Beschränkungen freien Mobilfunknetzes, insbesondere gegen Artikel 3c der Richtlinie 90/388, geltend gemacht.

21. Da der Conseil d'État auch über die Begründetheit dieses Klagegrundes nicht entscheiden konnte, ohne eine auslegungsbedürftige Norm des Gemeinschaftsrechts anzuwenden, hat er gemäß Artikel 234 EG zwei Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt, die mit den in der Rechtssache C544/03 vorgelegten Fragen identisch sind.

Zum Antrag auf Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung

22. Mit am 2. Mai 2005 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingereichtem Schriftsatz hat die niederländische Regierung beantragt, die mündliche Verhandlung gemäß Artikel 61 der Verfahrensordnung wieder zu eröffnen.

23. Zur Begründung ihres Antrags macht die niederländische Regierung im Wesentlichen geltend, der Generalanwalt habe in seinen Schlussanträgen vorgeschlagen, die Antwort auf andere Grundlagen als die zu stellen, auf die sich das vorlegende Gericht beziehe, nämlich auf die Richtlinie 97/13, die nicht - weder in den schriftlichen Erklärungen noch in der mündlichen Verhandlung - Gegenstand einer eingehenden Erörterung aller Beteiligten gewesen sei.

24. Der Gerichtshof kann nach Artikel 61 seiner Verfahrensordnung die mündliche Verhandlung von Amts wegen, auf Vorschlag des Generalanwalts oder auch auf Antrag der Parteien wieder eröffnen, wenn er sich für unzureichend unterrichtet oder einen von den Parteien nicht erörterten Gesichtspunkt für entscheidungserheblich hält (vgl. Beschluss vom 4. Februar 2000 in der Rechtssache C17/98, Emesa Sugar, Slg. 2000, I665, Randnr. 18, Urteile vom 19. Februar 2002 in der Rechtssache C309/99, Wouters u. a., Slg. 2002, I1577, Randnr. 42, und vom 30. März 2004 in der Rechtssache C147/02, Alabaster, Slg. 2004, I3101, Randnr. 35).

25. Im vorliegenden Fall ist der Gerichtshof jedoch nach Anhörung des Generalanwalts der Auffassung, dass er über sämtliche Informationen verfügt, die er für die Beantwortung der gestellten Fragen benötigt, und dass diese Informationen im Laufe der Verhandlung erörtert worden sind. Der Antrag auf Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung ist daher zurückzuweisen.

Zur ersten Frage

26. Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Artikel 59 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 49 EG) dahin auszulegen ist, dass er der Regelung einer nationalen Behörde oder einer Gebietskörperschaft entgegensteht, mit der eine Abgabe auf die Infrastrukturen für Mobilkommunikation und Personal Communications eingeführt wird, die im Rahmen der durch Lizenzen und Genehmigungen gedeckten Tätigkeiten genutzt werden.

27. Zwar fällt der Bereich der direkten Steuern als solcher beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts nicht in die Zuständigkeit der Gemeinschaft, doch müssen die Mitgliedstaaten die ihnen verbliebenen Befugnisse unter Wahrung des Gemeinschaftsrechts ausüben (vgl. Urteile vom 14. Februar 1995 in der Rechtssache C279/93, Schumacker, Slg. 1995, I225, Randnr. 21, vom 21. November 2002 in der Rechtssache C436/00, X und Y, Slg. 2002, I10829, Randnr. 32, und vom 11. März 2004 in der Rechtssache C9/02, De Lasteyrie du Saillant, Slg. 2004, I2409, Randnr. 44).

28. So hat der Gerichtshof entschieden, dass eine nationale abgabenrechtliche Maßnahme, die die Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs behindert, unabhängig davon eine verbotene Maßnahme darstellen kann, ob sie vom Staat selbst oder von einer Gebietskörperschaft ausgeht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. November 2001 in der Rechtssache C17/00, De Coster, Slg. 2001, I9445, Randnrn. 26 und 27).

29. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes schreibt Artikel 59 EG-Vertrag nicht nur die Beseitigung jeder Diskriminierung von in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Dienstleistenden aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit, sondern auch die Aufhebung aller Beschränkungen vor - selbst wenn sie unterschiedslos für inländische Dienstleistende wie für solche aus anderen Mitgliedstaaten gelten -, sofern sie geeignet sind, die Tätigkeiten eines Dienstleistenden, der in einem anderen Mitgliedstaat ansässig ist und dort rechtmäßig ähnliche Dienstleistungen erbringt, zu unterbinden oder zu behindern (vgl. Urteil vom 9. August 1994 in der Rechtssache C43/93, Vander Elst, Slg. 1994, I3803, Randnr. 14, und Urteil De Coster, Randnr. 29).

30. Außerdem hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass jede nationale Regelung gegen Artikel 59 verstößt, die die Erbringung von Dienstleistungen zwischen Mitgliedstaaten gegenüber der Erbringung von Dienstleistungen erschwert, die innerhalb eines einzigen Mitgliedstaats stattfindet (Urteil De Coster, Randnr. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung sowie Randnr. 39).

31. Dagegen erfasst Artikel 59 EG-Vertrag nicht Maßnahmen, deren einzige Wirkung es ist, zusätzliche Kosten für die betreffende Leistung zu verursachen, und die die Erbringung von Dienstleistungen zwischen Mitgliedstaaten in gleicher Weise wie deren Erbringung innerhalb eines einzigen Mitgliedstaats berühren.

32. Für die Beantwortung der Frage, ob die Erhebung von Abgaben durch die Gemeindebehörden, wie sie in den Ausgangsverfahren in Rede stehen, eine mit Artikel 59 EG-Vertrag unvereinbare Beschränkung darstellt, ist erheblich, dass diese Abgaben unterschiedslos auf alle Eigentümer von Mobilfunkanlagen im Gebiet der betreffenden Gemeinde erhoben werden und dass ausländische Betreiber durch diese Maßnahmen weder in tatsächlicher noch in rechtlicher Hinsicht stärker belastet werden als inländische Betreiber.

33. Die fraglichen Abgaben erschweren auch die grenzüberschreitende Erbringung von Dienstleistungen nicht gegenüber der innerstaatlichen Erbringung. Zwar mag die Einführung einer Abgabe auf Sendetürme, Sendemasten und Antennen zu einer Erhöhung der Tarife für Mobilfunkkommunikationen aus dem Ausland nach Belgien und umgekehrt führen. Doch unterliegen die Tarife für die Erbringung innerstaatlicher Telefondienstleistungen in gleichem Maße dem Risiko einer Überwälzung.

34. Zudem ist den Akten nicht zu entnehmen, dass die kumulierte Wirkung der gemeindlichen Abgaben den freien Dienstleistungsverkehr beim Mobilfunk zwischen den anderen Mitgliedstaaten und dem Königreich Belgien beeinträchtigt.

35. Somit ist auf die erste Frage zu antworten, dass Artikel 59 EG-Vertrag dahin auszulegen ist, dass er der Regelung einer nationalen Behörde oder einer Gebietskörperschaft, mit der eine Abgabe auf die Infrastrukturen für Mobilkommunikation und Personal Communications eingeführt wird, die im Rahmen der durch Lizenzen und Genehmigungen gedeckten Tätigkeiten genutzt werden, nicht entgegensteht, sofern diese Regelung unterschiedslos für inländische Dienstleistende wie für solche aus anderen Mitgliedstaaten gilt und die Erbringung von Dienstleistungen innerhalb eines einzigen Mitgliedstaats in gleicher Weise wie die Erbringung von Dienstleistungen zwischen Mitgliedstaaten berührt.

Zur zweiten Frage

36. Die zweite Frage des vorlegenden Gerichts geht dahin, ob abgabenrechtliche Maßnahmen, die auf Infrastrukturen für Mobilkommunikation angewandt werden, unter Artikel 3c der Richtlinie 90/388 fallen.

37. Vorab ist festzustellen, dass die Abgaben auf Infrastrukturen für Mobilkommunikation nicht durch die Erteilung einer Lizenz ausgelöst werden. Die von der Klägerin Mobistar in der mündlichen Verhandlung angeführte Richtlinie 97/13 ist daher nicht einschlägig.

38. Was die Richtlinie 90/388 betrifft, ist es zunächst nach dem Wortlaut ihres Artikels 3c, soweit er für Betreiber von Mobilkommunikations- und Personal-Communications-Diensten die Aufhebung alle[r] Beschränkungen hinsichtlich der Infrastruktur vorschreibt, nicht ausgeschlossen, dass zu diesen Beschränkungen auch abgabenrechtliche Maßnahmen auf Infrastrukturen für Mobilkommunikation gehören.

39. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes sind jedoch bei der Auslegung einer Gemeinschaftsvorschrift nicht nur deren Wortlaut, sondern auch der Zusammenhang, in dem sie steht, und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung verfolgt werden, zu der sie gehört (vgl. u. a. Urteile vom 17. November 1983 in der Rechtssache 292/82, Merck, Slg. 1983, 3781, Randnr. 12, vom 21. Februar 1984 in der Rechtssache 337/82, St. Nikolaus Brennerei, Slg. 1984, 1051, Randnr. 10, und vom 7. Juni 2005 in der Rechtssache C17/03, Vereniging voor Energie, Milieu en Water u. a., noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 41).

40. In ihrer ursprünglichen Fassung sah die Richtlinie 90/388 die Aufhebung besonderer oder ausschließlicher Rechte vor, die die Mitgliedstaaten zur Erbringung von Telekommunikationsdienstleistungen gewährt hatten, bezog jedoch Mobilkommunikationsdienstleistungen nicht in ihren Anwendungsbereich ein. Auf die Mobilkommunikation und auf Personal Communications wurde ihr Geltungsbereich erst durch die Richtlinie 96/2 erstreckt.

41. Die Richtlinie 96/2 bezweckt die Schaffung eines ordnungspolitischen Umfeldes, das es ermöglicht, das Potenzial der Mobilkommunikation und der Personal Communications zu nutzen. Dazu sieht sie vor, dass möglichst bald alle ausschließlichen und besonderen Rechte aufgehoben werden, indem für die Mobilnetzbetreiber sowohl die Beschränkungen der Freiheit des Betriebes und des Ausbaus ihrer Netze für die in der entsprechenden Genehmigung oder Berechtigung vorgesehenen Zwecke als auch die Wettbewerbsverzerrungen beseitigt werden und ihnen die Kontrolle über ihre Kosten ermöglicht wird (vgl. Urteile vom 16. Oktober 2001 in den Rechtssachen C396/99 und C397/99, Kommission/Griechenland, Slg. 2001, I7577, Randnr. 25, und vom 22. Mai 2003 in der Rechtssache C462/99, Connect Austria, Slg. 2003, I5197, Randnr. 96).

42. Die Richtlinie 96/2 ist auf Artikel 90 Absatz 3 EG-Vertrag gestützt. Folglich ist Artikel 3c der Richtlinie 90/388 nur auf mit Artikel 90 EG-Vertrag unvereinbare Beschränkungen anwendbar.

43. Nach der 16. Begründungserwägung der Richtlinie 96/2 wurde diese im Hinblick auf eine Situation erlassen, in der das Angebot von Mobilkommunikations- und Personal-Communications-Diensten im Wettbewerb dadurch behindert wurde, dass die Fernmeldeorganisationen nicht in der Lage waren, die Nachfrage der Mobilfunkbetreiber an Infrastruktur zu decken, und in der die meisten Mitgliedstaaten noch ausschließliche Rechte für die Fernmeldeorganisationen aufrechterhielten. Von der Feststellung ausgehend, dass die Einschränkung der Bereitstellung und der Nutzung von Infrastruktur gegen Artikel 90 in Verbindung mit Artikel 86 EG-Vertrag verstoße, schloss die Kommission, dass die Mitgliedstaaten diese Beschränkungen aufheben und auf Antrag den betreffenden Mobilfunkbetreibern unter Beachtung des Grundsatzes der Nichtdiskriminierung Zugang zu den notwendigen knappen Ressourcen für die Errichtung ihrer eigenen Infrastruktur gewähren müssten.

44. Infolgedessen ist für die von Artikel 3c der Richtlinie 90/388 erfassten Beschränkungen zum einen die Beziehung zu den ausschließlichen und besonderen Rechten der herkömmlichen Betreiber und zum anderen der Umstand kennzeichnend, dass sie durch Gewährung eines nichtdiskriminierenden Zugangs zu den notwendigen knappen Ressourcen aufgehoben werden können.

45. Erfasst sind somit Beschränkungen, wie sie in der vierten Begründungserwägung der Richtlinie 96/2 beispielhaft aufgeführt sind, nämlich solche, die die Vergabe von Lizenzen durch Ermessensentscheidungen begrenzen, oder solche, die sie, wenn Netzbetreiber mit Fernmeldeorganisationen im Wettbewerb stehen, technischen Beschränkungen wie dem Verbot der Nutzung anderer Infrastrukturen als derjenigen der Fernmeldeorganisationen unterwerfen.

46. Auch fallen nur jene Maßnahmen unter den Begriff der Beschränkung im spezifischen Sinne des Artikels 3c der Richtlinie 90/388, die die Wettbewerbssituation spürbar beeinträchtigen.

47. Dagegen erfasst Artikel 3c der Richtlinie 90/388 solche nationalen Maßnahmen nicht, die unterschiedslos für alle Mobilfunkbetreiber gelten und nicht Betreiber, die über besondere oder ausschließliche Rechte verfügen oder verfügt haben, gegenüber neuen Betreibern, die zu ihnen in Wettbewerb treten, unmittelbar oder mittelbar begünstigen.

48. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, sich zu vergewissern, dass diese Voraussetzungen in den Ausgangsverfahren erfüllt sind.

49. Im Rahmen seiner Prüfung wird das vorlegende Gericht die Wirkungen der Abgaben zu prüfen und dabei insbesondere den Zeitpunkt in Betracht zu ziehen haben, ab dem die betroffenen Betreiber jeweils auf dem Markt tätig sind. Es könnte sich herausstellen, dass Betreiber, die über besondere oder ausschließliche Rechte verfügen oder verfügt haben, vor den anderen Betreibern in einer günstigen Lage waren, in der sich die ihnen bei der Errichtung eines Netzes entstandenen Kosten amortisieren konnten. Dass neue Betreiber auf dem Markt gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen einschließlich der Flächendeckung treffen, kann diese Betreiber, was die Kontrolle über ihre Kosten betrifft, gegenüber den herkömmlichen Betreibern benachteiligen.

50. Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass abgabenrechtliche Maßnahmen, die auf Infrastrukturen für die Mobilkommunikation angewandt werden, nur dann unter Artikel 3c der Richtlinie 90/388 fallen, wenn sie Betreiber, die über besondere oder ausschließliche Rechte verfügen oder verfügt haben, gegenüber neuen Betreibern unmittelbar oder mittelbar begünstigen und die Wettbewerbssituation spürbar beeinträchtigen.

Kosten

51. Für die Parteien der Ausgangsverfahren ist das Verfahren ein Zwischenstreit in den bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreitigkeiten; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Tenor:

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

1. Artikel 59 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 49 EG) ist dahin auszulegen, dass er der Regelung einer nationalen Behörde oder einer Gebietskörperschaft, mit der eine Abgabe auf die Infrastrukturen für Mobilkommunikation und Personal Communications eingeführt wird, die im Rahmen der durch Lizenzen und Genehmigungen gedeckten Tätigkeiten genutzt werden, nicht entgegensteht, sofern diese Regelung unterschiedslos für inländische Dienstleistende wie für solche aus der den anderen Mitgliedstaaten gilt und die Erbringung von Dienstleistungen innerhalb eines einzigen Mitgliedstaats in gleicher Weise wie die Erbringung von Dienstleistungen zwischen Mitgliedstaaten berührt.

2. Abgabenrechtliche Maßnahmen, die auf Infrastrukturen für die Mobilkommunikation angewandt werden, fallen nur dann unter Artikel 3c der hinsichtlich der Einführung des vollständigen Wettbewerbs auf den Telekommunikationsmärkten durch die Richtlinie 96/19/EG der Kommission vom 13. März 1996 geänderten Richtlinie 90/388/EWG der Kommission vom 28. Juni 1990 über den Wettbewerb auf dem Markt für Telekommunikationsdienste, wenn sie Betreiber, die über besondere oder ausschließliche Rechte verfügen oder verfügt haben, gegenüber neuen Betreibern unmittelbar oder mittelbar begünstigen und die Wettbewerbssituation spürbar beeinträchtigen.

Ende der Entscheidung

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