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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 28.09.1994
Aktenzeichen: C-57/93
Rechtsgebiete: EWG-Vertrag


Vorschriften:

EWG-Vertrag Art. 119
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Der Anspruch auf Anschluß an ein Betriebsrentensystem, dessen Bestimmungen nicht unmittelbar durch Gesetz festgelegt wurden, sondern das Ergebnis einer Abstimmung zwischen den Sozialpartnern sind, wobei sich die staatlichen Stellen darauf beschränkt haben, das System auf Antrag der als repräsentativ angesehenen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen für obligatorisch für den gesamten beruflichen Sektor zu erklären, fällt unter den Begriff des Entgelts im Sinne von Artikel 119 EWG-Vertrag und unterliegt daher dem dort aufgestellten Verbot der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts.

Folglich verstösst ein Betriebsrentensystem, das eine unmittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts in Form des Ausschlusses verheirateter Frauen enthält, gegen Artikel 119 EWG-Vertrag. Wenn der Ausschluß Teilzeitbeschäftigte betrifft, ist diese Bestimmung nur dann verletzt, wenn er wesentlich mehr Frauen als Männer trifft, es sei denn, der Arbeitgeber legt dar, daß er auf Faktoren beruht, die objektiv gerechtfertigt sind und nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben.

2. Die zeitliche Beschränkung der Wirkungen des Urteils vom 17. Mai 1990 in der Rechtssache C-262/88, Barber, betrifft nur die Formen von Diskriminierung, die die Arbeitgeber und die Rentensysteme aufgrund der vorübergehenden Ausnahmeregelungen, die das auf Betriebsrenten anwendbare Gemeinschaftsrecht vorsieht, vernünftigerweise als zulässig ansehen konnten. Dazu gehört nicht die Diskriminierung beim Anschluß an Betriebsrentensysteme, deren Unzulässigkeit im Hinblick auf Artikel 119 EWG-Vertrag im Urteil vom 13. Mai 1986 in der Rechtssache 170/84, Bilka, bestätigt wurde, das keine zeitliche Beschränkung seiner Wirkungen enthält. Mangels einer solchen Beschränkung, deren spätere Vornahme in jedem Fall ausgeschlossen ist, kann die unmittelbare Wirkung von Artikel 119 EWG-Vertrag zur Stützung der Forderung nach rückwirkender Gleichbehandlung in bezug auf den Anspruch auf Anschluß an ein Betriebsrentensystem geltend gemacht werden, und zwar ab dem 8. April 1976, dem Tag des Erlasses des Urteils in der Rechtssache 43/75, Defrenne, in dem erstmals die unmittelbare Wirkung dieses Artikels anerkannt wurde.

3. Das dem Vertrag über die Europäische Union beigefügte Protokoll Nr. 2 zu Artikel 119 EG-Vertrag betrifft sämtliche Leistungen eines betrieblichen Systems der sozialen Sicherheit, nicht aber den Anspruch auf Anschluß an ein solches System.

Die Frage des Anschlusses richtet sich somit weiterhin nach dem Urteil vom 13. Mai 1986 in der Rechtssache 170/84, Bilka, aus dem sich ergibt, daß ein Unternehmen, das ohne objektive Rechtfertigung, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun hat, Männer und Frauen dadurch ungleich behandelt, daß es eine Gruppe von Beschäftigten von einer betrieblichen Altersversorgung ausschließt, gegen Artikel 119 EWG-Vertrag verstösst.


URTEIL DES GERICHTSHOFES VOM 28. SEPTEMBER 1994. - ANNA ADRIAANTJE VROEGE GEGEN NCIV INSTITUUT VOOR VOLKSHUISVESTING BV UND STICHTING PENSIOENFONDS NCIV. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: KANTONGERECHT UTRECHT - NIEDERLANDE. - GLEICHES ENTGELT FUER MAENNER UNF FRAUEN - ANSPRUCH AUF ANSCHLUSS AN EIN BETRIEBSRENTENSYSTEM - ZEITLICHE BESCHRAENKUNG DER WIRKUNGEN DES URTEILS IN DER RECHTSAACHE C-262/88 (BARBER). - RECHTSSACHE C-57/93.

Entscheidungsgründe:

1 Das Kantongerecht Utrecht hat mit Urteil vom 17. Februar 1993, beim Gerichtshof eingegangen am 2. März 1993, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag vier Fragen nach der Auslegung von Artikel 119 EWG-Vertrag hinsichtlich des Anspruchs auf Anschluß an Betriebsrentensysteme, des Urteils des Gerichtshofes vom 17. Mai 1990 in der Rechtssache C-262/88 (Barber, Slg. 1990, I-1889; im folgenden: Urteil Barber) sowie des dem Vertrag über die Europäische Union vom 7. Februar 1992 beigefügten Protokolls Nr. 2 zu Artikel 119 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (im folgenden: Protokoll Nr. 2) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen der Klägerin und der NCIV Instituut voor Volkshuisvesting BV sowie der Stichting Pensiönfonds NCIV wegen des Anschlusses der Klägerin an diesen Fonds.

3 Die Klägerin übt seit 1. Mai 1975 eine Teilzeitbeschäftigung (25,9 Stunden pro Woche) bei der NCIV Instituut voor Volkshuisvesting BV (im folgenden: NCIV) aus.

4 Gemäß Artikel 20 der bei der NCIV geltenden Collectieve Arbeidsovereenkomst (Tarifvertrag) sind die bei dieser Organisation tätigen Arbeitnehmer einem Betriebsrentensystem der Stichting Pensiönfonds NCIV angeschlossen, das ihnen Anspruch auf eine Altersrente, eine Invalidenrente und eine Witwen- und Waisenrente gibt.

5 Vor dem 1. Januar 1991 war in der Rentenregelung der NCIV festgelegt, daß nur männliche und unverheiratete weibliche Arbeitnehmer, die einen unbefristeten Arbeitsvertrag hatten und mindestens 80 % der einer Vollzeittätigkeit entsprechenden Arbeitszeit leisteten, dem Rentenfonds der NCIV angeschlossen werden konnten.

6 Da die Klägerin stets weniger als 80 % der Vollzeittätigkeit geleistet hatte, durfte sie keine Beiträge zum Fonds leisten und konnte daher keine Rentenansprüche erwerben.

7 Am 1. Januar 1991 trat eine neue Rentenregelung in Kraft, nach der dem Rentensystem sowohl männliche als auch weibliche Arbeitnehmer angeschlossen werden können, die das 25. Lebensjahr erreicht haben und die mit mindestens 25 % der Regelarbeitszeit beschäftigt sind.

8 Überdies gibt Artikel 23 Absatz 5 der Regelung weiblichen Arbeitnehmern, die vor dem 1. Januar 1991 nicht versichert waren, die Möglichkeit, zusätzliche Versicherungsjahre zu erwerben, sofern sie am 31. Dezember 1990 mindestens 50 Jahre alt waren. Die Anzahl der zu erwerbenden Versicherungsjahre ist ausserdem auf die Jahre beschränkt, die zwischen dem Zeitpunkt, zu dem die Angeschlossene das 50. Lebensjahr vollendet hatte, und dem 1. Januar 1991 liegen.

9 Da die Klägerin am 31. Dezember 1990 das 50. Lebensjahr noch nicht vollendet hatte, konnte sie von dieser Übergangsbestimmung keinen Gebrauch machen und somit erst ab dem 1. Januar 1991 mit dem Erwerb von Rentenansprüchen beginnen. Sie griff die neue Rentenregelung deshalb mit der Begründung an, daß sie eine mit Artikel 119 EWG-Vertrag unvereinbare Diskriminierung enthalte, da sie ihr für Beschäftigungszeiten vor dem 1. Januar 1991 keinen Anspruch auf Anschluß an das Rentensystem gewähre. Sie verlangt daher einen rückwirkenden Anschluß zum 8. April 1976, dem Tag des Erlasses des Urteils in der Rechtssache 43/75 (Defrenne, Slg. 1976, 455), in dem der Gerichtshof erstmals die unmittelbare Wirkung von Artikel 119 anerkannt habe.

10 Das mit der Klage befasste Kantongerecht Utrecht hat beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1) Fällt unter den Anspruch auf (gleiches) Entgelt im Sinne von Artikel 119 EWG-Vertrag auch der Anspruch auf Anschluß an ein Betriebsrentensystem?

2) Falls die vorhergehende Frage bejaht wird, gilt dann die zeitliche Beschränkung, die der Gerichtshof in der Rechtssache Barber für eine Rentenversorgung, wie sie in dieser Rechtssache in Rede stand ("contracted out schemes"), festgelegt hat, auch für einen Anspruch auf Anschluß an ein Betriebsrentensystem wie das hier in Rede stehende?

3) Besteht Anlaß, die mögliche Anwendbarkeit des in Artikel 119 EWG-Vertrag aufgestellten Grundsatzes des gleichen Entgelts bei Ansprüchen auf Anschluß an ein Betriebsrentensystem wie dasjenige, um das es in der vorliegenden Rechtssache geht, mit einer zeitlichen Beschränkung zu verbinden, und wenn ja, bis zu welchem Zeitpunkt?

4) Haben das dem Vertrag von Maastricht beigefügte Protokoll zu Artikel 119 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft ("Barber-Protokoll") sowie (der Gesetzentwurf zur Änderung von) Übergangsartikel III des Gesetzentwurfs 20890, der zur Durchführung der Vierten Richtlinie dient, Auswirkungen auf die Beurteilung der vorliegenden Rechtssache, die mit Klageschrift vom 11. November 1991 bei der Kanzlei des Kantongerecht eingegangen ist, auch im Hinblick auf den Zeitpunkt, zu dem diese Rechtssache anhängig gemacht wurde?

Zur ersten Frage

11 Mit der ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob der Anspruch auf Anschluß an ein Betriebsrentensystem in den Anwendungsbereich von Artikel 119 EWG-Vertrag und damit unter das dort aufgestellte Diskriminierungsverbot fällt.

12 Der Gerichtshof hat schon im Urteil vom 13. Mai 1986 in der Rechtssache 170/84 (Bilka, Slg. 1986, 1607) festgestellt, daß es sich bei einer betrieblichen Altersversorgung, die zwar entsprechend den nationalen Rechtsvorschriften ausgestaltet wurde, ihren Ursprung aber in einer Vereinbarung mit den Arbeitnehmern oder ihren Vertretern findet, und an deren Finanzierung die öffentliche Hand nicht beteiligt ist, um ein nicht unmittelbar durch Gesetz geregeltes und deshalb nicht unter Artikel 119 fallendes Sozialversicherungssystem handelt und daß die den Beschäftigten aufgrund dieses Systems gewährten Leistungen eine Vergütung darstellen, die der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer gemäß Artikel 119 Absatz 2 aufgrund des Dienstverhältnisses zahlt (Randnrn. 20 und 22).

13 Diese Grundsätze wurden im Urteil Barber für an die Stelle des gesetzlichen Systems getretene Betriebsrentensysteme britischen Rechts und im Urteil vom 6. Oktober 1993 in der Rechtssache C-109/91 (Ten Över, Slg. 1991, I-4879) bestätigt.

14 Im letztgenannten Urteil erkannte der Gerichtshof die Anwendbarkeit von Artikel 119 auf Leistungen gemäß einem niederländischen Betriebsrentensystem an, das dem in der vorliegenden Rechtssache in Rede stehenden vergleichbar ist, wobei er insbesondere darauf abstellte, daß die Rentenbestimmungen nicht unmittelbar durch Gesetz festgelegt, sondern das Ergebnis einer Abstimmung zwischen den Sozialpartnern waren und daß sich die staatlichen Stellen darauf beschränkt hatten, das System auf Antrag der als repräsentativ angesehenen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen für obligatorisch für den gesamten beruflichen Sektor zu erklären (Randnr. 10).

15 Aus dem Urteil Bilka ergibt sich überdies, daß in den Anwendungsbereich von Artikel 119 nicht nur der Anspruch auf die von einem Betriebsrentensystem erbrachten Leistungen fällt, sondern auch der Anspruch auf Anschluß an dieses System.

16 Diese Entscheidung beruhte auf folgender Erwägung. Wie dem Urteil vom 31. März 1981 in der Rechtssache 96/80 (Jenkins, Slg. 1981, 911) zu entnehmen ist, kann eine Lohnpolitik, die darin besteht, daß für Teilzeitarbeit ein niedrigerer Stundenlohn festgesetzt wird als für Vollzeitarbeit, in bestimmten Fällen eine Ungleichbehandlung männlicher und weiblicher Arbeitnehmer bilden. Gleiches gilt für den Ausschluß Teilzeitbeschäftigter von der Gewährung einer Betriebsrente. Da eine solche Rente nämlich unter den Begriff des Entgelts im Sinne von Artikel 119 Absatz 2 fällt, ist das gesamte Entgelt, das der Arbeitgeber den Vollzeitbeschäftigten zahlt, bei gleicher Anzahl der Arbeitsstunden höher als dasjenige, das er den Teilzeitbeschäftigten zahlt (Urteil Bilka, Randnr. 27).

17 Daraus folgt, daß ein Betriebsrentensystem, von dem verheiratete Frauen ausgeschlossen sind, eine gegen Artikel 119 EWG-Vertrag verstossende unmittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts enthält. Wenn der Ausschluß Teilzeitbeschäftigte betrifft, ist diese Bestimmung nur dann verletzt, wenn er wesentlich mehr Frauen als Männer trifft, es sei denn, der Arbeitgeber legt dar, daß er auf Faktoren beruht, die objektiv gerechtfertigt sind und nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben (vgl. Urteil Bilka, a. a. O.).

18 Nach alledem ist auf die erste Vorlagefrage zu antworten, daß der Anspruch auf Anschluß an ein Betriebsrentensystem in den Anwendungsbereich von Artikel 119 EWG-Vertrag und damit unter das dort aufgestellte Diskriminierungsverbot fällt.

Zur zweiten und zur dritten Frage

19 Mit diesen Fragen möchte das vorlegende Gericht zum einen wissen, ob die zeitliche Beschränkung der Wirkungen des Urteils Barber auch für den Anspruch auf Anschluß an ein Betriebsrentensystem wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende gilt, und zum anderen, ob eine entsprechende Beschränkung nicht jedenfalls im vorliegenden Fall vorzunehmen ist.

20 Zur Beantwortung dieser Fragen ist auf den Zusammenhang hinzuweisen, in dem über die zeitliche Beschränkung der Wirkungen des Urteils Barber entschieden wurde.

21 Im Einklang mit einer ständigen Rechtsprechung, nach der sich der Gerichtshof in Anwendung des der Rechtsordnung der Gemeinschaft innewohnenden allgemeinen Grundsatzes der Rechtssicherheit mit Rücksicht auf die schwerwiegenden Störungen, zu denen sein Urteil bei gutgläubig begründeten Rechtsverhältnissen für die Vergangenheit führen könnte, ausnahmsweise dazu veranlasst sehen kann, die Möglichkeit für die Betroffenen zu beschränken, sich auf eine von ihm ausgelegte Bestimmung zu berufen, um diese Rechtsverhältnisse in Frage zu stellen (vgl. Urteil Defrenne, a. a. O.), hat der Gerichtshof die Vornahme einer solchen Beschränkung von der Prüfung des Vorliegens zweier grundlegender Kriterien abhängig gemacht, nämlich des guten Glaubens der Betroffenen und der Gefahr schwerwiegender Störungen.

22 Zum erstgenannten Kriterium hat er zunächst festgestellt (Randnr. 42), daß Artikel 9 Buchstabe a der Richtlinie 86/378/EWG des Rates vom 24. Juli 1986 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen bei den betrieblichen Systemen der sozialen Sicherheit (ABl. L 225, S. 40) nach dem Vorbild der in Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe a der Richtlinie 79/7/EWG des Rates vom 19. Dezember 1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit (ABl. 1979, L 6, S. 24) vorgesehenen Ausnahme die Möglichkeit eröffnete, die obligatorische Anwendung des Grundsatzes der Gleichbehandlung für die Festsetzung des Rentenalters für die Gewährung der Alters- oder Ruhestandsrenten aufzuschieben.

23 Sodann hat er ausgeführt, daß die Mitgliedstaaten und die Betroffenen angesichts dieser Bestimmungen vernünftigerweise annehmen durften, daß Artikel 119 nicht für Renten gelte, die aufgrund eines an die Stelle des gesetzlichen Systems getretenen betrieblichen Systems gezahlt würden, und daß Ausnahmen vom Grundsatz der Gleichbehandlung von Männern und Frauen in diesem Bereich nach wie vor zulässig seien (Randnr. 43).

24 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, daß der Gerichtshof im Urteil vom 14. Dezember 1993 in der Rechtssache C-110/91 (Moroni, Slg. 1993, I-6591) unter Wiedergabe und Bekräftigung der in den Urteilen Defrenne, Bilka und Barber aufgestellten Grundsätze festgestellt hat, daß im Urteil Barber erstmals die Frage behandelt wurde, wie eine auf der Festsetzung je nach Geschlecht unterschiedlicher Rentenalter beruhende Ungleichbehandlung nach Artikel 119 zu beurteilen ist (Randnr. 16).

25 Zum Kriterium der schwerwiegenden Störungen hat der Gerichtshof im Urteil Barber im übrigen die Ansicht vertreten, wenn jeder betroffene männliche Arbeitnehmer ebenso wie Herr Barber bei Diskriminierungen, die bis dahin auf der Grundlage der in der Richtlinie 86/378 vorgesehenen Ausnahmen für zulässig erachtet werden konnten, mit Wirkung für die Vergangenheit den Anspruch auf Gleichbehandlung geltend machen könnte, so könnte dies rückwirkend das finanzielle Gleichgewicht zahlreicher betrieblicher Versorgungssysteme stören (Randnr. 44).

26 Unter diesen Umständen hat der Gerichtshof entschieden, daß die unmittelbare Wirkung von Artikel 119 EWG-Vertrag zur Stützung der Forderung nach Gleichbehandlung auf dem Gebiet der beruflichen Renten nur für Leistungen geltend gemacht werden kann, die für Beschäftigungszeiten nach dem 17. Mai 1990 geschuldet werden; dies gilt nicht für Arbeitnehmer oder deren anspruchsberechtigte Angehörige, die vor diesem Zeitpunkt nach dem anwendbaren innerstaatlichen Recht Klage erhoben oder einen entsprechenden Rechtsbehelf eingelegt haben (Randnr. 45 des Urteils Barber mit der Klarstellung durch das Urteil Ten Över).

27 Aus dem Vorstehenden folgt insbesondere, daß die zeitliche Beschränkung der Wirkungen des Urteils Barber nur die Formen von Diskriminierung betrifft, die die Arbeitgeber und die Rentensysteme aufgrund der vorübergehenden Ausnahmeregelungen, die das auf Betriebsrenten anwendbare Gemeinschaftsrecht vorsieht, vernünftigerweise als zulässig ansehen konnten.

28 Hinsichtlich des Anspruchs auf Anschluß an Betriebsrentensysteme ist jedoch festzustellen, daß es keinen Anhaltspunkt dafür gibt, daß sich die betroffenen Verkehrskreise über die Anwendbarkeit von Artikel 119 irren konnten.

29 Seit Erlaß des Urteils Bilka ist nämlich klar, daß ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz bei der Zuerkennung des genannten Anspruchs unter Artikel 119 fällt.

30 Überdies kann, da der Gerichtshof die Wirkungen des Urteils Bilka zeitlich nicht beschränkt hat, die unmittelbare Wirkung von Artikel 119 zur Stützung der Forderung nach rückwirkender Gleichbehandlung in bezug auf den Anspruch auf Anschluß an ein Betriebsrentensystem geltend gemacht werden, und zwar ab dem 8. April 1976, dem Tag des Erlasses des Urteils Defrenne, in dem erstmals die unmittelbare Wirkung dieses Artikels anerkannt wurde.

31 Zum letzten Teil der Frage schließlich ist darauf hinzuweisen, daß nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes eine etwaige zeitliche Beschränkung der Wirkungen einer Vorabentscheidung über Auslegungsfragen in dem Urteil selbst enthalten sein muß, durch das über das Auslegungsersuchen entschieden wird (vgl. u. a. Urteil vom 16. Juli 1992 in der Rechtssache C-163/90, Legros u. a., Slg. 1992, I-4625, Randnr. 30). Wenn der Gerichtshof es für erforderlich gehalten hätte, den Grundsatz, daß der Anspruch auf Anschluß an ein Betriebsrentensystem unter Artikel 119 fällt, zeitlich zu beschränken, hätte er dies folglich im Urteil Bilka tun müssen.

32 Auf die zweite und dritte Frage ist daher zu antworten, daß die zeitliche Beschränkung der Wirkungen des Urteils Barber für den Anspruch auf Anschluß an ein Betriebsrentensystem nicht gilt und daß eine entsprechende Beschränkung insoweit nicht in Betracht kommt.

Zur vierten Frage

33 Mit der vierten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, welche Auswirkung der nationale Gesetzentwurf zur Durchführung der Richtlinie 86/378 und das Protokoll Nr. 2 im Rahmen der vorliegenden Rechtssache haben.

34 Zu dem nationalen Gesetzentwurf genügt der Hinweis, daß der Gerichtshof nach ständiger Rechtsprechung im Verfahren gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag das nationale Recht nicht auszulegen und seine Wirkungen nicht zu würdigen hat (vgl. u. a. Urteil vom 3. Februar 1977 in der Rechtssache 52/76, Benedetti, Slg. 1977, 163, Randnr. 25).

35 Das Protokoll Nr. 2, das gemäß Artikel 239 des Vertrages dessen Bestandteil ist, hat folgenden Wortlaut:

"Im Sinne des Artikels 119 gelten Leistungen aufgrund eines betrieblichen Systems der sozialen Sicherheit nicht als Entgelt, sofern und soweit sie auf Beschäftigungszeiten vor dem 17. Mai 1990 zurückgeführt werden können, ausser im Fall von Arbeitnehmern oder deren anspruchsberechtigten Angehörigen, die vor diesem Zeitpunkt eine Klage bei Gericht oder ein gleichwertiges Verfahren nach geltendem einzelstaatlichen Recht anhängig gemacht haben."

36 Den Akten und den Erörterungen vor dem Gerichtshof ist zu entnehmen, daß die zu klärende Frage im wesentlichen dahin geht, ob mit dem Protokoll nur die oben wiedergegebene zeitliche Beschränkung der Wirkungen des Urteils Barber verdeutlicht werden soll oder ob es eine grössere Tragweite hat.

37 Nach Ansicht des Vereinigten Königreichs deutet die weite Formulierung des Protokolls darauf hin, daß es für alle im Rahmen von Betriebsrentensystemen möglichen Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts einschließlich derjenigen gelte, die den Anspruch auf Anschluß an sie beträfen.

38 Die Klägerin des Ausgangsverfahrens, die deutsche Regierung und die Kommission tragen dagegen vor, das Protokoll müsse trotz seines weit gefassten Wortlauts im Zusammenhang mit dem Urteil Barber gelesen werden und könne keine grössere Tragweite als die zeitliche Beschränkung von dessen Wirkungen haben.

39 Insoweit ist festzustellen, daß das genannte Protokoll nach seinem allgemein gehaltenen Wortlaut für Leistungen aufgrund eines Betriebsrentensystems gilt.

40 Diese Feststellung enthält jedoch zugleich eine Einschränkung. Betroffen sind die Leistungen ° nur diese werden im übrigen im Protokoll erwähnt ° und nicht der Anspruch auf Anschluß an ein betriebliches System der sozialen Sicherheit.

41 Das Protokoll steht nämlich offenkundig im Zusammenhang mit dem Urteil Barber, da es ebenfalls auf den 17. Mai 1990 Bezug nimmt. Dieses Urteil untersagt eine Ungleichbehandlung von Mann und Frau, die sich aus einer je nach Geschlecht unterschiedlichen Regelung des Anspruchs auf Altersrente nach einer betriebsbedingten Entlassung ergibt. Das Urteil Barber, mit dem die Wirkung der in ihm vorgenommenen Auslegung des Artikels 119 EWG-Vertrag auf die Zeit nach seinem Erlaß am 17. Mai 1990 beschränkt wurde, ist unterschiedlich verstanden worden. Diese Meinungsverschiedenheiten wurden durch das Urteil Ten Över beseitigt, das vor dem Inkrafttreten des Vertrages über die Europäische Union erging. Das Protokoll Nr. 2 enthält im wesentlichen dieselbe Auslegung des Urteils Barber wie das Urteil Ten Över und erstreckt diese auf sämtliche Leistungen aufgrund eines betrieblichen Systems der sozialen Sicherheit und macht sie zum Bestandteil des Vertrages, geht aber ebensowenig wie das Urteil Barber auf die Voraussetzungen für den Anschluß an diese betrieblichen Systeme ein und regelt diese folglich auch nicht.

42 Die Frage des Anschlusses richtet sich somit weiterhin nach dem Urteil Bilka, mit dem die Verletzung von Artikel 119 EWG-Vertrag durch ein Unternehmen festgestellt wird, das ohne objektive Rechtfertigung, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun hat, Männer und Frauen dadurch ungleich behandelt, daß es eine Gruppe von Beschäftigten von einer betrieblichen Altersversorgung ausschließt. Im übrigen ist darauf hinzuweisen, daß im Urteil Bilka die Wirkungen der mit diesem Urteil vorgenommenen Auslegung des Artikels 119 EWG-Vertrag nicht zeitlich beschränkt wurden.

43 Auf die vierte Frage ist daher zu antworten, daß das Protokoll Nr. 2 keine Auswirkung auf den Anspruch auf Anschluß an ein Betriebsrentensystem hat, der sich weiterhin nach dem Urteil Bilka richtet.

Kostenentscheidung:

Kosten

44 Die Auslagen der deutschen und der belgischen Regierung, des Vereinigten Königreichs und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

auf die ihm vom Kantongerecht Utrecht mit Urteil vom 17. Februar 1993 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

1) Der Anspruch auf Anschluß an ein Betriebsrentensystem fällt in den Anwendungsbereich von Artikel 119 EWG-Vertrag und damit unter das dort aufgestellte Diskriminierungsverbot.

2) Die zeitliche Beschränkung der Wirkungen des Urteils vom 17. Mai 1990 in der Rechtssache C-262/88 (Barber) gilt nicht für den Anspruch auf Anschluß an ein Betriebsrentensystem; eine entsprechende Beschränkung kommt insoweit nicht in Betracht.

3) Das dem Vertrag über die Europäische Union beigefügte Protokoll Nr. 2 zu Artikel 119 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft hat keine Auswirkung auf den Anspruch auf Anschluß an ein Betriebsrentensystem, der sich weiterhin nach dem Urteil vom 13. Mai 1986 in der Rechtssache 170/84 (Bilka) richtet.

Ende der Entscheidung

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