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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 28.10.1999
Aktenzeichen: C-6/98
Rechtsgebiete: Richtlinie 89/552/EWG, EG-Vertrag


Vorschriften:

Richtlinie 89/552/EWG Art. 11 Abs. 3
Richtlinie 89/552/EWG Art. 3 Abs. 1
EG-Vertrag Art. 5
EG-Vertrag Art. 85
EG-Vertrag Art. 6
EG-Vertrag Art. 30
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1 Eine Vorschrift, die im Bereich der Dienstleistungen eine die Ausübung einer grundlegenden Freiheit betreffende Tätigkeit wie die freie Ausstrahlung von Fernsehsendungen einer Beschränkung unterwirft, muß diese Beschränkung klar zum Ausdruck bringen. Unterwirft eine Bestimmung der Richtlinie 89/552 zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Ausübung der Fernsehtätigkeit in der Fassung der Richtlinie 97/36 die Ausstrahlung und Verbreitung von Fernsehsendungen einer Beschränkung, ohne daß der Gemeinschaftsgesetzgeber die Beschränkung klar und eindeutig formuliert hat, ist sie somit eng auszulegen.

Da Artikel 11 Absatz 3 der Richtlinie, der mehrdeutig ist, die Möglichkeit beschränkt, die Übertragung audiovisueller Werke durch Werbung zu unterbrechen, ist diese Beschränkung möglichst eng auszulegen. Das Bruttoprinzip, bei dem die Werbedauer in den für die Berechnung der zulässigen Zahl von Unterbrechungen berücksichtigten Zeitraum einzubeziehen ist, erlaubt eine grössere Zahl von Werbeunterbrechungen als das Nettoprinzip, bei dem nur die Dauer der Werke selbst einbezogen werden darf. Folglich sieht Artikel 11 Absatz 3 der Richtlinie das Bruttoprinzip vor. Bei der Berechnung des 45-Minuten-Zeitraums zum Zweck der Festlegung der zulässigen Zahl von Werbeunterbrechungen bei der Übertragung audiovisueller Werke wie Kinospielfilme und Fernsehfilme ist also die Werbedauer in den genannten Zeitraum einzubeziehen.

2 Artikel 11 Absatz 3 in Verbindung mit Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie 89/552 zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Ausübung der Fernsehtätigkeit in der Fassung der Richtlinie 97/36 erlaubt den Mitgliedstaaten, für die ihrer Rechtshoheit unterworfenen Fernsehveranstalter das Nettoprinzip für Werbung vorzusehen, die in die laufenden Sendungen eingefügt werden kann, mithin zu bestimmen, daß bei der Berechnung des 45-Minuten-Zeitraums zum Zweck der Festlegung der zulässigen Zahl von Werbeunterbrechungen bei der Übertragung audiovisueller Werke wie Kinospielfilme und Fernsehfilme die Werbedauer nicht einbezogen werden darf, wobei diese Vorschriften mit sonstigen einschlägigen Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts vereinbar sein müssen.

Die Artikel 5 EG-Vertrag (jetzt Artikel 10 EG), 6, 30 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 12 EG und 28 EG) und 85 EG-Vertrag (jetzt Artikel 81 EG) sowie der allgemeine Gleichbehandlungsgrundsatz finden in diesem Zusammenhang keine Anwendung auf eine nationale Regelung, die die Anwendung des Nettoprinzips auf die Fernsehveranstalter vorsieht, die der Rechtshoheit des betreffenden Mitgliedstaats unterworfen sind, und nach Artikel 59 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 49 EG) ist es einem Mitgliedstaat nicht verwehrt, gemäß Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie 89/552 die Anwendung des Nettoprinzips vorzusehen.


Urteil des Gerichtshofes (Sechste Kammer) vom 28. Oktober 1999. - Arbeitsgemeinschaft Deutscher Rundfunkanstalten (ARD) gegen PRO Sieben Media AG, Streithelferinnen: SAT 1 Satellitenfernsehen GmbH, Kabel 1, K 1 Fernsehen GmbH. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Oberlandesgericht Stuttgart - Deutschland. - Fernsehsendungen - Beschränkung der Sendezeit für Werbung. - Rechtssache C-6/98.

Entscheidungsgründe:

1 Das Oberlandesgericht Stuttgart hat dem Gerichtshof mit Beschluß vom 17. Dezember 1997, beim Gerichtshof eingegangen am 12. Januar 1998, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag (jetzt Artikel 234 EG) zwei Fragen nach der Auslegung des Artikels 11 Absatz 3 der Richtlinie 89/552/EWG des Rates vom 3. Oktober 1989 zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Ausübung der Fernsehtätigkeit (ABl. L 298, S. 23) in der Fassung der Richtlinie 97/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. Juni 1997 (ABl. L 202, S. 60) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen den in der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Rundfunkanstalten (ARD) zusammengeschlossenen elf öffentlich-rechtlichen Landesrundfunkanstalten (Kläger) und der Pro Sieben Media AG (Beklagte), die die SAT 1 Satellitenfernsehen GmbH und die Kabel 1, K 1 Fernsehen GmbH (SAT 1 und Kabel 1) als Streithelferinnen unterstützen.

3 Die Kläger sind gemeinsam für das Fernsehprogramm der ARD verantwortlich. Die Beklagte und die Streithelferinnen sind private Fernsehveranstalter.

Rechtlicher Rahmen

Die Richtlinie 89/552 in der Fassung der Richtlinie 97/36

4 Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie 89/552 sieht vor:

"Die Mitgliedstaaten können Fernsehveranstalter, die ihrer Rechtshoheit unterworfen sind, verpflichten, strengeren oder ausführlicheren Bestimmungen in den von dieser Richtlinie erfassten Bereichen nachzukommen."

5 Nach Artikel 11 Absatz 1 der Richtlinie 89/552 muß Fernsehwerbung grundsätzlich zwischen den Sendungen eingefügt werden. Sie kann auch in die laufenden Sendungen eingefügt werden, sofern sie "den Zusammenhang und den Wert der Sendungen nicht beeinträchtig[t] - wobei die natürlichen Programmunterbrechungen und die Länge und Art des Programms zu berücksichtigen sind - und sofern nicht gegen die Rechte von Rechtsinhabern verstossen wird".

6 Nach Artikel 11 Absatz 2 der Richtlinie 89/552 kann die Werbung bei Sendungen, die aus eigenständigen Teilen bestehen, z. B. bei Fernsehübertragungen von Sportereignissen, nur zwischen die eigenständigen Teile oder in die Pausen eingefügt werden.

7 Artikel 11 Absatz 3 dieser Richtlinie bestimmt:

"Die Übertragung audiovisueller Werke wie Kinospielfilme und Fernsehfilme (mit Ausnahme von Serien, Reihen, leichten Unterhaltungssendungen und Dokumentarfilmen) kann für jeden vollen Zeitraum von 45 Minuten einmal unterbrochen werden, sofern ihre programmierte Sendezeit mehr als 45 Minuten beträgt. Eine weitere Unterbrechung ist zulässig, wenn die programmierte Sendedauer um mindestens 20 Minuten über zwei oder mehrere volle 45-Minuten-Zeiträume hinausgeht."

8 Artikel 20 der Richtlinie 89/552 bestimmt:

"Unbeschadet des Artikels 3 können die Mitgliedstaaten für Sendungen, die ausschließlich für ihr eigenes Hoheitsgebiet bestimmt sind und weder unmittelbar noch mittelbar in einem oder mehreren anderen Mitgliedstaaten öffentlich empfangen werden können, unter Einhaltung des Gemeinschaftsrechts andere als die in Artikel 11 Absätze 2 bis 5 und in den Artikeln 18 und 18a festgelegten Bedingungen vorsehen."

Das Europäische Fernsehübereinkommen

9 Artikel 14 Absatz 3 des Europäischen Übereinkommens vom 5. Mai 1989 über das grenzueberschreitende Fernsehen (im folgenden: Übereinkommen) lautet in den verbindlichen englischen und französischen Sprachfassungen wie folgt:

Englische Fassung

"3. The transmission of audiovisual works such as feature films and films made for television (excluding series, serials, light entertainment programmes and documentaries), provided their duration is more than forty-five minutes, may be interrupted once for each complete period of forty-five minutes. A further interruption is allowed if their duration is at least twenty minutes longer than two or more complete periods of forty-five minutes."

Französische Fassung

"3. La transmission d'öuvres audiovisuelles telles que les longs métrages cinématographiques et les films conçus pour la télévision (à l'exclusion des séries, des feuilletons, des émissions de divertissement et des documentaires), à condition que leur durée soit supérieure à quarante-cinq minutes, peut être interrompü une fois par tranche de quarante-cinq minutes. Une autre interruption est autorisée si leur durée est supérieure d'au moins vingt minutes à deux ou plusieurs tranches complètes de quarante-cinq minutes."

Das deutsche Recht

10 Nach dem Grundgesetz haben die Länder die Gesetzgebungsbefugnis für Hörfunk und Fernsehen. Gemäß dem Staatsvertrag über den Rundfunk im vereinigten Deutschland vom 31. August 1991 (im folgenden: RfStV) dürfen die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten in ihren Fernsehprogrammen höchstens 20 Minuten Werbung pro Werktag ausstrahlen. Private Fernsehveranstalter dürfen bis zu 20 % der täglichen Sendezeit der Werbung vorbehalten, davon 15 % für Werbespots.

11 § 26 Absatz 4 RfStV bestimmt:

"Abweichend von Absatz 3 Satz 2 dürfen Werke wie Kinospielfilme und Fernsehfilme mit Ausnahme von Serien, Reihen, leichten Unterhaltungssendungen und Dokumentarsendungen, sofern sie länger als 45 Minuten dauern, nur einmal je vollständigem 45-Minutenzeitraum unterbrochen werden. Eine weitere Unterbrechung ist zulässig, wenn diese Sendungen mindestens 20 Minuten länger dauern als zwei oder mehr vollständige 45-Minutenzeiträume."

12 Die gleiche Bestimmung enthält § 44 Absatz 4 des Dritten Staatsvertrags zur Änderung rundfunkrechtlicher Staatsverträge, der am 1. Januar 1997 in Kraft trat.

13 Mit Schreiben vom 7. April 1992 teilte die deutsche Regierung der Kommission mit, daß sie die Richtlinie 89/552 umgesetzt habe, und übermittelte ihr den Rundfunkstaatsvertrag von 1991.

Sachverhalt und Vorabentscheidungsfragen

14 Nach den Prozessakten geht es im Ausgangsverfahren um die Berechnung der nach § 26 Absatz 4 RfStV zulässigen Zahl von Werbeunterbrechungen bei Kinospielfilmen, die von privaten Fernsehveranstaltern ausgestrahlt werden. Hierzu werden zwei Auslegungen vertreten, die im allgemeinen als Bruttoprinzip und Nettoprinzip bezeichnet werden.

15 Nach dem von der Beklagten und den Streithelferinnen befürworteten Bruttoprinzip ist in den Zeitraum, für den die zulässige Zahl der Unterbrechungen berechnet wird, die Dauer der Werbung einzubeziehen. Nach dem von den Klägern befürworteten Nettoprinzip darf nur die Dauer der Werke selbst einbezogen werden. Die Anwendung des Bruttoprinzips erlaubt unter bestimmten Umständen mehr Werbeunterbrechungen als die des Nettoprinzips.

16 Mit Urteil vom 10. Oktober 1996 gab das Landgericht Stuttgart der Beklagten auf, es zu unterlassen, die Ausstrahlung von audiovisuellen Werken wie Kinospielfilmen und Fernsehfilmen, die bei Berechnung unter Ausschluß zwischengeschalteter Werbezeiten (Nettoprinzip) nicht länger als 45 Minuten dauern, durch Werbung zu unterbrechen oder längere audiovisuelle Werke bei Berechnung nach dem Nettoprinzip öfter als einmal je vollständigem 45-Minuten-Zeitraum durch Werbung zu unterbrechen. Eine weitere Unterbrechung sei zulässig, wenn die Sendung bei Berechnung nach dem Nettoprinzip mindestens 20 Minuten länger dauere als zwei oder mehr vollständige 45-Minuten-Zeiträume.

17 Die Beklagte legte gegen diese Entscheidung Berufung beim Oberlandesgericht ein und machte geltend, selbst wenn nach dem deutschen Recht das Nettoprinzip gelten sollte, stehe dies im Widerspruch zur Richtlinie 89/552 und zum primären Gemeinschaftsrecht.

18 Das vorlegende Gericht neigt zwar bezueglich der Auslegung des nationalen Rechts der Auffassung des Landgerichts Stuttgart zu, ist aber der Ansicht, daß der Ausgang des Rechtsstreits von der Auslegung der Richtlinie 89/552 abhänge.

19 Das Oberlandesgericht Stuttgart hat daher das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Schreibt Artikel 11 Absatz 3 der Richtlinie 97/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. Juni 1997 zur Änderung der Richtlinie 89/552/EWG (Fernsehänderungsrichtlinie) bzw. der wortgleiche Artikel 11 Absatz 3 der Richtlinie 89/552/EWG des Rates zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Ausübung der Fernsehtätigkeit vom 3. Oktober 1989 (Fernsehrichtlinie) das Brutto- oder Nettoprinzip vor?

2. Unterstellt, § 44 Absatz 4 des Dritten Staatsvertrags zur Änderung rundfunkrechtlicher Staatsverträge schreibt das Nettoprinzip vor, ist dies dann mit Artikel 11 Absatz 3 in Verbindung mit Artikel 3 Absatz 1 der Fernsehrichtlinie bzw. primärem Gemeinschaftsrecht (Artikel 5, 6, 30 ff., 59 ff., 85 ff. EG-Vertrag, allgemeiner Gleichheitssatz) vereinbar?

Erste Frage

20 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im wesentlichen wissen, ob Artikel 11 Absatz 3 der Richtlinie 89/552 in der Fassung der Richtlinie 97/36 das Brutto- oder das Nettoprinzip vorsieht.

21 Nach Auffassung der Kläger, der französischen, der niederländischen und der portugiesischen Regierung bezieht sich Artikel 11 Absatz 3 der Richtlinie 89/552 in ihrer geänderten Fassung auf das Nettoprinzip. Dagegen meint die Beklagte, unterstützt durch die Streithelferinnen sowie die italienische und die luxemburgische Regierung, die Regierung des Vereinigten Königreichs und die Kommission, daß sich diese Vorschrift auf das Bruttoprinzip beziehe.

22 Für ihre jeweiligen Auffassungen haben die Beteiligten des Ausgangsverfahrens, die Regierungen, die Erklärungen beim Gerichtshof eingereicht haben, und die Kommission Argumente angeführt, die auf den Wortlaut des Artikels 11 Absatz 3 der Richtlinie 89/552 in ihrer deutschen, ihrer englischen und ihrer französischen Fassung, auf Artikel 14 Absatz 3 des Übereinkommens, auf die Systematik und den Sinn und Zweck der Richtlinie 89/552 sowie auf die Entstehungsgeschichte dieser Richtlinie und der Richtlinie 97/36 gestützt sind.

23 Wie der Generalanwalt in den Nummern 18 bis 25 seiner Schlussanträge festgestellt hat, lassen die auf den Wortlaut des Artikels 11 Absatz 3 der Richtlinie 89/552 in ihrer geänderten Fassung gestützten Argumente keinen eindeutigen Schluß darauf zu, ob diese Vorschrift das Brutto- oder das Nettoprinzip vorschreibt.

24 Artikel 14 Absatz 3 des Übereinkommens unterscheidet sich von Artikel 11 Absatz 3 der Richtlinie 89/552 in ihrer geänderten Fassung nur darin, daß er vom "[D]auern" ("durée" bzw. "duration") der audiovisuellen Werke spricht, nicht, wie Artikel 11 Absatz 3, von ihrer "programmierte[n] Sendezeit" ("durée programmée" bzw. "scheduled duration"). Wie der Generalanwalt in Nummer 29 seiner Schlussanträge angeführt hat, kann diese Abweichung unterschiedlich ausgelegt werden.

25 Aus den in den Nummern 31 bis 36 der Schlussanträge des Generalanwalts genannten Gründen lassen sich aus der Erklärung des Rates und der Kommission im Sitzungsprotokoll des Rates vom 3. Oktober 1989 und aus dem Vorschlag des Europäischen Parlaments vom 14. Februar 1996 betreffend die Richtlinie 97/36 keine überzeugenden Argumente für die Beantwortung der Frage herleiten, ob Artikel 11 Absatz 3 der Richtlinie 89/552 in ihrer geänderten Fassung das Brutto- oder das Nettoprinzip vorschreibt.

26 Somit ist festzustellen, daß Artikel 11 Absatz 3 der Richtlinie 89/552 in ihrer geänderten Fassung mehrdeutig ist.

27 Ist der Wortlaut einer Gemeinschaftsvorschrift in ihren verschiedenen sprachlichen Fassungen im Lichte der Entstehungsgeschichte der Vorschrift und der Materialien, auf die die Parteien sich in ihren beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen gestützt haben, so widersprüchlich und mehrdeutig, daß sich ihm keine Antwort auf die Frage nach seiner Bedeutung entnehmen lässt, so ist für seine Auslegung auf den Zusammenhang der Vorschrift und auf das mit der Regelung verfolgte Ziel abzustellen (Urteil vom 7. Februar 1979 in der Rechtssache 11/76, Niederlande/Kommission, Slg. 1979, 245, Randnr. 6).

28 Wie der Gerichtshof in den Urteilen vom 9. Februar 1995 in der Rechtssache C-412/93 (Leclerc-Siplec, Slg. 1995, I-179, Randnr. 28) und vom 9. Juli 1997 in den Rechtssachen C-34/95 bis C-36/95 (De Agostini und TV-Shop, Slg. 1997, I-3843, Randnr. 3) festgestellt hat, besteht das Hauptziel der Richtlinie, die auf der Grundlage der Artikel 57 Absatz 2 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 47 Absatz 2 EG) und 66 EG-Vertrag (jetzt Artikel 55 EG) erlassen worden ist, darin, die freie Ausstrahlung von Fernsehsendungen sicherzustellen.

29 Eine Vorschrift, die im Bereich der Dienstleistungen eine die Ausübung einer grundlegenden Freiheit betreffende Tätigkeit wie die freie Ausstrahlung von Fernsehsendungen einer Beschränkung unterwirft, muß diese Beschränkung klar zum Ausdruck bringen.

30 Unterwirft eine Bestimmung der Richtlinie 89/552 die Ausstrahlung und Verbreitung von Fernsehsendungen einer Beschränkung, ohne daß der Gemeinschaftsgesetzgeber die Beschränkung klar und eindeutig formuliert hat, ist sie somit eng auszulegen.

31 Da Artikel 11 Absatz 3 der Richtlinie 89/552 in ihrer geänderten Fassung die Möglichkeit beschränkt, die Übertragung audiovisueller Werke durch Werbung zu unterbrechen, ist diese Beschränkung möglichst eng auszulegen.

32 Das Bruttoprinzip erlaubt eine grössere Zahl von Werbeunterbrechungen als das Nettoprinzip.

33 Daher ist auf die erste Frage zu antworten, daß Artikel 11 Absatz 3 der Richtlinie 89/552 in der Fassung der Richtlinie 97/36 das Bruttoprinzip vorsieht, daß also bei der Berechnung des 45-Minuten-Zeitraums zum Zweck der Festlegung der zulässigen Zahl von Werbeunterbrechungen bei der Übertragung audiovisueller Werke wie Kinospielfilme und Fernsehfilme die Werbedauer in den genannten Zeitraum einzubeziehen ist.

Zweite Frage

Erster Teil der zweiten Frage

34 Mit dem ersten Teil seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Artikel 11 Absatz 3 in Verbindung mit Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie 89/552 in der Fassung der Richtlinie 97/36 den Mitgliedstaaten erlaubt, das Nettoprinzip vorzuschreiben.

35 Nach Auffassung der Beklagten ergibt sich aus der Systematik und dem Sinn und Zweck der Richtlinie 89/552, daß Artikel 3 Absatz 1 eng auszulegen sei. Insbesondere könne sich die in dieser Vorschrift vorgesehene Befugnis der Mitgliedstaaten, strengere oder ausführlichere Bestimmungen zu erlassen, nicht auf Artikel 11 der Richtlinie 89/552 beziehen.

36 Für Fernsehwerbung, die nach Artikel 11 Absatz 1 unter den in den Absätzen 2 bis 5 genannten Voraussetzungen in die laufenden Sendungen eingefügt werden könne, könnten die Mitgliedstaaten keine anderen Bedingungen vorsehen als diejenigen, die in Artikel 20 der Richtlinie 89/552 in ihrer geänderten Fassung genannt seien. Die in Artikel 20 vorgesehene Abweichung könne die Anwendung des Nettoprinzips aber nicht rechtfertigen, da sie nur für Sendungen gelte, die ausschließlich für das eigene Hoheitsgebiet bestimmt seien und weder unmittelbar noch mittelbar in einem oder mehreren anderen Mitgliedstaaten empfangen werden könnten.

37 Artikel 20 der Richtlinie 89/552 gilt bereits nach seinem Wortlaut "unbeschadet des Artikels 3" der Richtlinie.

38 Sodann würde die von der Beklagten befürwortete Auslegung dazu führen, daß Artikel 3 Absatz 1 als allgemeine Vorschrift in einem von der Richtlinie 89/552 in ihrer geänderten Fassung erfassten wesentlichen Bereich seine Bedeutung verlöre.

39 Weder aus den Begründungserwägungen noch aus dem Ziel der Richtlinie 89/552 ergibt sich aber, daß Artikel 20 den Mitgliedstaaten die ihnen in Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie eingeräumte Befugnis nehmen soll.

40 Die 27. Begründungserwägung der Richtlinie 89/552 bezieht sich nämlich allgemein und ohne Beschränkung auf die in Artikel 20 genannten Umstände auf das Recht der Mitgliedstaaten, ausführlichere oder strengere Bestimmungen als die Mindestnormen und Kriterien einzuführen, denen die Fernsehwerbung nach der Richtlinie unterworfen ist.

41 Dagegen wird die Befugnis der Mitgliedstaaten nach Artikel 20 der Richtlinie 89/552 von der 28. Begründungserwägung erfasst, da diese sich auf das Recht der Mitgliedstaaten bezieht, in bezug auf Sendungen, die ausschließlich für ihr eigenes Hoheitsgebiet bestimmt sind und weder unmittelbar noch mittelbar in einem oder mehreren anderen Mitgliedstaaten empfangen werden können, andere Bedingungen für die Plazierung der Werbung und andere Grenzen für den Umfang der Werbung vorzusehen, um diese Art von Sendungen zu erleichtern.

42 Schließlich wird die Erreichung des Zieles der Richtlinie 89/552, die freie Ausstrahlung von Fernsehsendungen entsprechend den in der Richtlinie vorgesehenen Mindestnormen zu gewährleisten, nicht gefährdet, wenn die Mitgliedstaaten die Werbung strengeren Bestimmungen unterwerfen.

43 Somit ist zu antworten, daß Artikel 11 Absatz 3 in Verbindung mit Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie 89/552 in ihrer geänderten Fassung den Mitgliedstaaten erlaubt, für die ihrer Rechtshoheit unterworfenen Fernsehveranstalter das Nettoprinzip für Werbung vorzusehen, die in die laufenden Sendungen eingefügt werden kann, mithin zu bestimmen, daß bei der Berechnung des fraglichen Zeitraums die Werbedauer nicht einbezogen werden darf, wobei diese Vorschriften mit sonstigen einschlägigen Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts vereinbar sein müssen.

Zweiter Teil der zweiten Frage

44 Mit dem zweiten Teil seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob es den Mitgliedstaaten nach den Artikeln 5 EG-Vertrag (jetzt Artikel 10 EG), 6, 30, 59 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 12 EG, 28 EG und 49 EG) und 85 EG-Vertrag (jetzt Artikel 81 EG) sowie nach dem allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz verwehrt ist, gemäß Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie 89/552 die Anwendung des Nettoprinzips vorzuschreiben.

Artikel 30 EG-Vertrag

45 Der Gerichtshof hat bereits entschieden, daß eine Regelung, die in einem bestimmten Bereich Fernsehwerbung untersagt, die Verkaufsmodalitäten betrifft, da sie eine bestimmte Form der Förderung einer bestimmten Methode des Absatzes von Erzeugnissen verbietet (Urteil Leclerc-Siplec, Randnr. 22).

46 Da die im Ausgangsverfahren streitige Einschränkung von Werbung ähnlich geartet, aber weniger weitgehend ist, betrifft sie ebenfalls Verkaufsmodalitäten.

47 In seinem Urteil vom 24. November 1993 in den Rechtssachen C-267/91 und C-268/91 (Keck und Mithouard, Slg. 1993, I-6097, Randnr. 16) hat der Gerichtshof festgestellt, daß nationale Bestimmungen, die bestimmte Verkaufsmodalitäten beschränken oder verbieten, nicht unter Artikel 30 EG-Vertrag fallen, sofern diese Bestimmungen für alle Wirtschaftsteilnehmer gelten, die ihre Tätigkeit im Inland ausüben, und sofern sie den Absatz der inländischen Erzeugnisse und der Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten rechtlich wie tatsächlich in der gleichen Weise berühren.

48 Diese beiden Voraussetzungen werden von einer Regelung über Fernsehwerbung wie der des Ausgangsverfahrens offenkundig erfuellt.

Artikel 59 EG-Vertrag

49 Eine von einem Mitgliedstaat aufgrund der Befugnis nach Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie 89/552 in ihrer geänderten Fassung erlassene nationale Regelung, die das Nettoprinzip vorschreibt, beschränkt den freien Dienstleistungsverkehr des Artikels 59 EG-Vertrag, da sie für die im Sendestaat niedergelassenen Fernsehveranstalter die Möglichkeit einschränkt, Werbung für in anderen Mitgliedstaaten niedergelassene Werbetreibende auszustrahlen.

50 Jedoch stellen der Schutz der Verbraucher gegen ein Übermaß an geschäftlicher Werbung bzw. die Erhaltung einer bestimmten Programmqualität im Rahmen der Kulturpolitik zwingende Gründe des Allgemeininteresses dar, die Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs rechtfertigen können (vgl. insbesondere Urteil vom 25. Juli 1991 in der Rechtssache C-288/89, Collectieve Antennevoorziening Gouda, Slg. 1991, I-4007, Randnr. 27).

51 Dabei muß die in Rede stehende Beschränkung verhältnismässig sein; die Anforderungen an Dienstleistungserbringer müssen nach ständiger Rechtsprechung geeignet sein, die Verwirklichung des mit ihnen angestrebten Zieles zu gewährleisten, und dürfen nicht über das zur Erreichung dieses Zieles Erforderliche hinausgehen (vgl. insbesondere Urteil Collectieve Antennevoorziening Gouda, Randnr. 15, und Urteil vom 10. Mai 1995 in der Rechtssache C-384/93, Alpine Investments, Slg. 1995, I-1141, Randnr. 45).

52 Den Akten lässt sich kein Hinweis darauf entnehmen, daß diese Voraussetzungen im Ausgangsverfahren nicht erfuellt wären.

Artikel 5, 6 und 85 EG-Vertrag sowie der Gleichbehandlungsgrundsatz

53 Wie der Generalanwalt in den Nummern 83 bis 85 seiner Schlussanträge festgestellt hat, sind die Artikel 5, 6 und 85 EG-Vertrag sowie der Gleichbehandlungsgrundsatz in dem vom vorlegenden Gericht geschilderten Fall nicht einschlägig.

54 Nach alledem finden die Artikel 5, 6, 30 und 85 EG-Vertrag sowie der allgemeine Gleichbehandlungsgrundsatz keine Anwendung auf eine nationale Regelung, die die Anwendung des Nettoprinzips auf die Fernsehveranstalter vorsieht, die der Rechtshoheit des betreffenden Mitgliedstaats unterworfen sind. Nach Artikel 59 EG-Vertrag ist es einem Mitgliedstaat nicht verwehrt, gemäß Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie 89/552 die Anwendung des Nettoprinzips vorzusehen.

Kostenentscheidung:

Kosten

55 Die Auslagen der französischen, der italienischen, der luxemburgischen, der niederländischen, der portugiesischen und der schwedischen Regierung, der Regierung des Vereinigten Königreichs und der Kommission, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

(Sechste Kammer)

auf die ihm vom Oberlandesgericht Stuttgart mit Beschluß vom 17. Dezember 1997 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

1. Artikel 11 Absatz 3 der Richtlinie 89/552 des Rates vom 3. Oktober 1989 zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Ausübung der Fernsehtätigkeit in der Fassung der Richtlinie 97/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. Juni 1997 sieht das Bruttoprinzip vor. Bei der Berechnung des 45-Minuten-Zeitraums zum Zweck der Festlegung der zulässigen Zahl von Werbeunterbrechungen bei der Übertragung audiovisueller Werke wie Kinospielfilme und Fernsehfilme ist also die Werbedauer in den genannten Zeitraum einzubeziehen.

2. Artikel 11 Absatz 3 in Verbindung mit Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie 89/552 in ihrer geänderten Fassung erlaubt den Mitgliedstaaten, für die ihrer Rechtshoheit unterworfenen Fernsehveranstalter das Nettoprinzip für Werbung vorzusehen, die in die laufenden Sendungen eingefügt werden kann, mithin zu bestimmen, daß bei der Berechnung des fraglichen Zeitraums die Werbedauer nicht einbezogen werden darf, wobei diese Vorschriften mit sonstigen einschlägigen Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts vereinbar sein müssen.

Die Artikel 5 EG-Vertrag (jetzt Artikel 10 EG), 6, 30 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 12 EG und 28 EG) und 85 EG-Vertrag (jetzt Artikel 81 EG) sowie der allgemeine Gleichbehandlungsgrundsatz finden keine Anwendung auf eine nationale Regelung, die die Anwendung des Nettoprinzips auf die Fernsehveranstalter vorsieht, die der Rechtshoheit des betreffenden Mitgliedstaats unterworfen sind.

Nach Artikel 59 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 49 EG) ist es einem Mitgliedstaat nicht verwehrt, gemäß Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie 89/552 die Anwendung des Nettoprinzips vorzusehen.

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