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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 19.03.1992
Aktenzeichen: C-60/91
Rechtsgebiete: EWGV


Vorschriften:

EWGV Art. 52
EWGV Art. 53
EWGV Art. 54
EWGV Art. 56
EWGV Art. 60
EWGV Art. 85
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Die Vorschriften des EWG-Vertrags über die Freizuegigkeit und den freien Dienstleistungsverkehr erfassen nicht Behinderungen, die im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats für dessen Staatsbürger gelten, wenn deren Lage keinen Anknüpfungspunkt zu irgendeiner vom Gemeinschaftsrecht erfassten Situation aufweist.

2. Die Mitgliedstaaten sind aufgrund von Artikel 5 Absatz 2 EWG-Vertrag verpflichtet, keine Rechtsvorschriften zu erlassen oder beizubehalten, die die praktische Wirksamkeit der für die Unternehmen geltenden Wettbewerbsregeln ausschalten könnten. Eine nationale Rechtsvorschrift behindert jedoch nur dann die Anwendung von Artikel 85 Absatz 1 EWG -Vertrag, wenn die wettbewerbswidrigen Praktiken, die sie begünstigt, geeignet sind, den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen, was voraussetzt, daß mit ihr die Wirkung verbunden ist, neuen einheimischen oder ausländischen Wettbewerbern den Zugang zum Markt zu verwehren. Dies ist bei einer Regelung, nach der die Tätigkeit einer Fahrschule für Kraftfahrzeuge auf das Gebiet der Gemeinde beschränkt ist, in der sie ansässig ist, nicht der Fall.

3. Die Richtlinie 80/1263 zur Einführung eines EG-Führerscheins gewährt den Mitgliedstaaten hinsichtlich des Ortes für die Durchführung der Fahrprüfung einen Entscheidungsspielraum, der es ihnen erlaubt, ausser der Zugänglichkeit einer bestimmten Strassenart Überlegungen zu berücksichtigen, die sich auf die Notwendigkeit beziehen, eine einheitliche Prüfung für das gesamte Staatsgebiet zu gewährleisten oder die Verkehrssicherheit auf den Strassen sicherzustellen. Die Mitgliedstaaten sind daher nach der Richtlinie nicht verpflichtet, Fahrprüfungen für Kraftfahrzeuge auf Autobahnen zu veranstalten, wenn diese vom Prüfungsort aus zugänglich sind, und dementsprechend auch nicht gehalten, dafür zu sorgen, daß der Fahrunterricht für Kraftfahrzeuge auf dieser Art von Strassen sichergestellt ist.


URTEIL DES GERICHTSHOFES (ZWEITE KAMMER) VOM 19. MAERZ 1992. - STRAFVERFAHREN GEGEN JOSE ANTONIO BATISTA MORAIS. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: TRIBUNAL DA RELACAO DE LISBOA - PORTUGAL. - FREIZUEGIGKEIT UND FREIER DIENSTLEISTUNGSVERKEHR - REIN INTERNER SACHVERHALT - EG-FUEHRERSCHEIN - HARMONISIERUNG. - RECHTSSACHE C-60/91.

Entscheidungsgründe:

1 Das Tribunal de Relação Lissabon hat mit Beschluß vom 10. Dezember 1990, beim Gerichtshof eingegangen am 13. Februar 1991, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag vier Fragen nach der Auslegung der Vertragsvorschriften über die Freizuegigkeit, den freien Dienstleistungsverkehr und den Wettbewerb sowie der Richtlinie 80/1263/EWG des Rates vom 4. Dezember 1980 zur Einführung eines EG-Führerscheins (ABl. L 375, S. 1) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in einem von der Staatsanwaltschaft gegen José António Batista Morais, Fahrlehrer einer in Lissabon ansässigen Fahrschule (Angeklagter) eingeleiteten Strafverfahren. In ihm geht es um den Vorwurf, der Angeklagte habe Fahrstunden für ein Kraftfahrzeug auf einer Autobahn gegeben, die auf dem Gebiet einer an Lissabon angrenzenden Gemeinde liegt. Nach portugiesischem Recht macht sich nämlich strafbar, wer Fahrstunden auf dem Gebiet einer anderen Gemeinde als der gibt, in der die Fahrschule ansässig ist.

3 Gegen das Urteil der ersten Instanz, das dem Angeklagten eine Geldstrafe auferlegt hatte, hat dieser Berufung eingelegt und dabei geltend gemacht, die portugiesische Regelung sei deswegen nicht mit der Richtlinie 80/1263 vereinbar, weil es nach ihr nicht möglich sei, den Unterricht auf Autobahnen zu gewährleisten.

4 Das Tribunal de Relação Lissabon hat beschlossen, das bei ihm anhängige Verfahren auszusetzen, bis der Gerichtshof im Wege der Vorabentscheidung zu folgenden Fragen Stellung genommen hat:

1) Kann oder muß angenommen werden, daß Artikel 7 Absatz 1 des portugiesischen Gesetzesdekrets Nr. 6/82 gegen die Bestimmungen über die Freizuegigkeit und den freien Dienstleistungsverkehr und insbesondere gegen die Artikel 52, 53, 54 Absätze 2 und 3 Buchstabe c, 56 und 57 EWG-Vertrag (über das Niederlassungsrecht), 60 Buchstabe a, 63 Absatz 2 und 65 EWG-Vertrag (über den freien Dienstleistungsverkehr) sowie 85 Absatz 1 Buchstabe c EWG-Vertrag (über die Wettbewerbsregeln) verstösst und daher nicht anwendbar ist?

2) Sind die Bestimmungen über die Freizuegigkeit, den freien Dienstleistungsverkehr und den freien Warenverkehr, die die Bürger oder Waren eines Staates im Hinblick auf Situationen betreffen, die in einem anderen Mitgliedstaat der Gemeinschaft eintreten auch auf die Fälle anwendbar, in denen sich die möglichen Beschränkungen des freien Verkehrs in bezug auf Bürger eines einzelnen Staates und in dessen Gebiet auswirken?

3) Kann oder muß angenommen werden, daß die genannte Richtlinie 80/1263/EWG, obwohl sie die Fahrprüfung betrifft, voraussetzt, daß der Fahrunterricht ähnlichen Erfordernissen entspricht, daß er also, so weit möglich, auf Autobahnen und unter den verschiedenen, für die Prüfung empfohlenen Verkehrsbedingungen erteilt wird?

4) Kann oder muß schließlich angenommen werden, daß die betreffende Richtlinie den Charakter einer einfachen Richtlinie gemäß Artikel 189 EWG-Vertrag hat, so daß sie den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel für ihre Umsetzung überlässt (d. h. daß sie nur "Rezeptions"-Charakter hat), oder ist sie trotz ihrer Bezeichnung als Richtlinie als eine Richtlinie allgemeinen und zwingenden Charakters wie diejenigen, die gemäß den Artikeln 56, 63 und 87 EWG-Vertrag erlassen werden, anzusehen?

5 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens, des Verfahrensablaufs sowie der beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

6 Aus Gründen der Sachlogik ist es angebracht, zunächst auf die zweite Frage einzugehen, nämlich die Frage, ob die Vorschriften des EWG-Vertrags über die Freizuegigkeit und den freien Dienstleistungsverkehr Behinderungen erfassen, die für die Angehörigen eines Mitgliedstaats in dessen Hoheitsgebiet gelten.

7 Die Vorschriften des EWG-Vertrags über die Freizuegigkeit und den freien Dienstleistungsverkehr erfassen nach ständiger Rechtsprechung Tätigkeiten nicht, die mit keinem Element über die Grenzen eines einzigen Mitgliedstaats hinausreichen (vgl. zuletzt Urteil vom 28. Januar 1992 in den Rechtssachen C-330/90 und C-331/90, Lopez Brea, Slg. 1992, I-323).

8 Das Ausgangsverfahren bezieht sich ausweislich des im Vorlagebeschluß zusammengefassten Sachverhalts auf einen portugiesischen Staatsbürger, der in Portugal als Lehrer an einer Fahrschule für Kraftfahrzeuge tätig ist; die Lage, in der er sich befindet, weist keinen Anknüpfungspunkt zu irgendeiner vom Gemeinschaftsrecht erfassten Situation auf.

9 Auf die zweite Frage ist daher zu antworten, daß die Vorschriften des EWG-Vertrags über die Freizuegigkeit und den freien Dienstleistungsverkehr Behinderungen nicht erfassen, die im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates für dessen Angehörige gelten, wenn deren Lage keinen Anknüpfungspunkt zu irgendeiner vom Gemeinschaftsrecht erfassten Situation aufweist.

10 Angesichts der auf die zweite Frage zu gebenden Antwort ist davon auszugehen, daß das vorlegende Gericht mit Hilfe der ersten Frage geklärt wissen möchte, ob nach Artikel 85 Absatz 1 EWG-Vertrag eine innerstaatliche Regelung zulässig ist, die die Tätigkeit einer Fahrschule für Kraftfahrzeuge auf das Gebiet der Gemeinde beschränkt, in der sie ansässig ist.

11 Die Mitgliedstaaten sind nach ständiger Rechtsprechung aufgrund von Artikel 5 Absatz 2 EWG-Vertrag verpflichtet, durch ihre nationalen Rechtsvorschriften nicht die uneingeschränkte und einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts zu beeinträchtigen und keine Maßnahmen zu ergreifen oder beizubehalten, die die praktische Wirksamkeit der für die Unternehmen geltenden Wettbewerbsregeln ausschalten könnten (vgl. insbesondere Urteil vom 29. Januar 1985 in der Rechtssache 231/83, Cullet, Slg. 1985, 305, Randnr. 16).

12 Es ist nicht erforderlich, zu untersuchen, ob und inwieweit eine Regelung von der Art, wie sie im Ausgangsverfahren eine Rolle spielt, eine der Unternehmenspraktiken, die von Artikel 85 EWG-Vertrag erfasst werden, begünstigt, zwingend anordnet oder unausweichlich herbeiführt. Es genügt hervorzuheben, daß diese Vorschrift nur eingreift, soweit die angeblich wettbewerbswidrigen Praktiken geeignet sind, den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen.

13 Diese Bedingung wäre nur erfuellt, wenn feststuende, daß mit der nationalen Regelung, ähnlich wie mit einem Netz gleichartiger, auf einem entsprechenden Markt abgeschlossener Verträge, die Wirkung verbunden wäre, neuen einheimischen oder ausländischen Wettbewerbern den Zugang zum Markt zu verwehren (vgl. Urteil vom 28. Februar 1991 in der Rechtssache C-234/89, Delimitis, Slg. 1991, I-935). Offenbar kann aber eine nationale Regelung von der Art, wie sie im Ausgangsverfahren von Bedeutung ist, eine solche Wirkung nicht haben.

14 Daher ist auf die erste Frage zu antworten, daß Artikel 85 EWG-Vertrag einer innerstaatlichen Regelung nicht entgegensteht, nach der die Tätigkeit einer Fahrschule für Kraftfahrzeuge auf das Gebiet der Gemeinde beschränkt ist, in der sie ansässig ist.

15 Mit Hilfe der dritten Frage möchte das vorlegende Gericht geklärt wissen, ob die Mitgliedstaaten nach der Richtlinie 80/1263 verpflichtet sind, Fahrprüfungen auf Autobahnen zu veranstalten, wenn diese vom Prüfungsort aus zugänglich sind, und ob sie dementsprechend auch sicherzustellen haben, daß der Fahrunterricht für Kraftfahrzeuge auf dieser Art von Strassen stattfindet.

16 Die Richtlinie 80/1263 ist Teil eines Verfahrens zur schrittweisen Angleichung des nationalen Rechts der Fahrprüfung; sie beschränkt sich darauf, in Anhang II eine bestimmte Zahl von Mindestanforderungen festzulegen, ohne eine vollständige Angleichung des Rechts der Fahrprüfung anzustreben.

17 In Anhang II - "Mindestanforderungen für die Führerprüfungen" - ist in Ziffer 9 zum Ort der Fahrprüfung vorgesehen, daß der sich auf das Verhalten des Bewerbers im Verkehr beziehende Teil der Prüfung - wenn möglich - auf Strassen ausserhalb geschlossener Ortschaften und auf Autobahnen sowie im Stadtverkehr durchzuführen ist.

18 Aus dem mit der Richtlinie verfolgten Zweck und aus dem Wortlaut von Ziffer 9 des Anhangs II ergibt sich, daß den Mitgliedstaaten bei der Festlegung des Orts der Fahrprüfung für ein Kraftfahrzeug ein Entscheidungsspielraum zusteht, der es erlaubt, ausser der Zugänglichkeit einer bestimmten Strassenart Überlegungen zu berücksichtigen, die sich auf die Notwendigkeit beziehen, eine einheitliche Prüfung für das gesamte Staatsgebiet zu gewährleisten oder die Verkehrssicherheit auf den Strassen sicherzustellen.

19 Auf die dritte Frage ist somit zu antworten, daß die Mitgliedstaaten nach der Richtlinie 80/1263 nicht verpflichtet sind, Fahrprüfungen für Kraftfahrzeuge auf Autobahnen zu veranstalten, wenn diese vom Prüfungsort aus zugänglich sind, und daß sie dementsprechend auch nicht gehalten sind, dafür zu sorgen, daß der Fahrunterricht für Kraftfahrzeuge auf dieser Art von Strassen sichergestellt ist.

20 Angesichts der auf die dritte Frage zu gebenden Antwort ist es nicht notwendig, auf die vierte Frage einzugehen.

Kostenentscheidung:

Kosten

21 Die Auslagen der portugiesischen Regierung, des Vereinigten Königreichs und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahren; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

auf die ihm vom Tribunal de Relação Lissabon mit Beschluß vom 10. Dezember 1990 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

1) Die Vorschriften des EWG-Vertrags über die Freizuegigkeit und den freien Dienstleistungsverkehr erfassen nicht Behinderungen, die im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats für dessen Staatsbürger gelten, wenn deren Lage keinen Anknüpfungspunkt zu irgendeiner vom Gemeinschaftsrecht erfassten Situation aufweist.

2) Artikel 85 EWG-Vertrag steht einer innerstaatlichen Regelung nicht entgegen, nach der die Tätigkeit einer Fahrschule für Kraftfahrzeuge auf das Gebiet der Gemeinde beschränkt ist, in der sie ansässig ist.

3) Nach der Richtlinie 80/1263/EWG des Rates vom 4. Dezember 1980 zur Einführung eines EG-Führerscheins sind die Mitgliedstaaten nicht verpflichtet, Fahrprüfungen für Kraftfahrzeuge auf Autobahnen zu veranstalten, wenn diese vom Prüfungsort aus zugänglich sind, und dementsprechend auch nicht gehalten, dafür zu sorgen, daß der Fahrunterricht für Kraftfahrzeuge auf dieser Art von Strassen sichergestellt ist.

Ende der Entscheidung

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