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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 11.08.1995
Aktenzeichen: C-63/94
Rechtsgebiete: EG-Vertrag


Vorschriften:

EG-Vertrag Art. 177
EG-Vertrag Art. 30
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Die Anwendung nationaler Bestimmungen, die bestimmte Verkaufsmodalitäten beschränken oder verbieten, auf Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten ist nicht geeignet, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern, sofern diese Bestimmungen für alle betroffenen Wirtschaftsteilnehmer gelten, die ihre Tätigkeit im Inland ausüben, und sofern sie den Absatz der inländischen Erzeugnisse und der Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten rechtlich wie tatsächlich in der gleichen Weise berühren. Sind diese Voraussetzungen nämlich erfuellt, so ist die Anwendung derartiger Regelungen auf den Verkauf von Erzeugnissen aus einem anderen Mitgliedstaat, die den von diesem Staat aufgestellten Bestimmungen entsprechen, nicht geeignet, den Marktzugang für diese Erzeugnisse zu versperren oder stärker zu behindern, als sie dies für inländische Erzeugnisse tut. Diese Regelungen fallen daher nicht in den Anwendungsbereich des Artikels 30 des Vertrages.

Artikel 30 des Vertrages ist folglich dahin auszulegen, daß er nicht für den Fall gilt, daß ein Mitgliedstaat durch Gesetz Verkäufe verbietet, die nur eine äusserst niedrige Gewinnspanne mit sich bringen.


URTEIL DES GERICHTSHOFES (SECHSTE KAMMER) VOM 11. AUGUST 1995. - GROUPEMENT NATIONAL DES NEGOCIANTS EN POMMES DE TERRE DE BELGIQUE GEGEN ITM BELGIUM SA UND VOCAREX SA. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: TRIBUNAL DE COMMERCE DE MONS - BELGIEN. - FREIER WARENVERKEHR - VERBOT DES VERKAUFS MIT EINER AEUSSERST NIEDRIGEN GEWINNSPANNE. - RECHTSSACHE C-63/94.

Entscheidungsgründe:

1 Das Tribunal de commerce Mons hat mit Urteil vom 21. Januar 1994, beim Gerichtshof eingegangen am 15. Februar 1994, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung des Artikels 30 des zum EG-Vertrag gewordenen EWG-Vertrags vorgelegt.

2 Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen dem Groupement national des négociants en pommes de terre de Belgique (belgischer Kartoffelhändlerverband; im folgenden: Belgapom) und den Aktiengesellschaften ITM Belgium (im folgenden: ITM) und Vocarex über einen Verkauf von Kartoffeln, den die Firma Vocarex mit einer geringen Gewinnspanne durchgeführt hatte.

3 In Belgien bestimmt Artikel 40 Absätze 1 und 3 des Gesetzes vom 14. Juli 1991 über Handelsbräuche:

"Es ist den Händlern verboten, ein Erzeugnis zum Verlustpreis zum Verkauf anzubieten oder zu verkaufen.

Als Verkauf zum Verlustpreis gilt jeder Verkauf zu einem Preis, der nicht wenigstens dem Preis entspricht, der bei der Beschaffung des Erzeugnisses in Rechnung gestellt worden ist oder im Fall einer erneuten Beschaffung in Rechnung gestellt würde.

Einem Verkauf zum Verlustpreis wird jeder Verkauf gleichgestellt, der bei Berücksichtigung dieser Preise sowie der Gemeinkosten nur eine äusserst geringe Gewinnspanne mit sich bringt."

4 Die Firma Vocarex ist ein unabhängiger Handelsbetrieb, der durch eine Franchisevereinbarung mit der Intermarché-Gruppe verbunden ist, die in Belgien durch die Firma ITM geleitet wird. Von dieser Firma informiert, kaufte die Firma Vocarex im Laufe des Monats September 1993 zum Preis von 27 Franken 25-kg-Säcke mit Kartoffeln der Sorte "Bintjes", die sie für 29 Franken weiterverkaufte. Zur gleichen Zeit betrug der von den Wirtschaftsteilnehmern im allgemeinen angewandte Preis 89 Franken.

5 Belgapom erhob beim Tribunal de commerce Mons gegen die Firma ITM und Vocarex Klage auf Einstellung der Verkäufe. Die Beklagten beantragten die Abweisung der Klage, wobei sie geltend machten, daß Artikel 40 des genannten Gesetzes gegen Artikel 30 des Vertrages verstosse.

6 Das Tribunal de commerce Mons ist der Auffassung, daß die Entscheidung des Rechtsstreits von der Auslegung des Gemeinschaftsrechts abhänge; es hat das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Inwieweit sind Artikel 40 des Gesetzes vom 14. Juli 1991 und insbesondere die Absätze 3 und 4 dieses Artikels in ihrem allgemeinen Wortlaut mit Artikel 30 EWG-Vertrag vereinbar, wenn in diesen Absätzen ein Verkauf, der zu einem höheren als dem bei der Beschaffung in Rechnung gestellten Preis, aber mit einer äusserst geringen Gewinnspanne erfolgt, einem Verkauf zum Verlustpreis gleichgestellt wird?

7 In Anbetracht der Fassung der Vorabentscheidungsfrage ist darauf hinzuweisen, daß der Gerichtshof nach ständiger Rechtsprechung nicht zur Entscheidung über die Vereinbarkeit einer nationalen Maßnahme mit dem Gemeinschaftsrecht befugt ist. Er kann jedoch dem vorlegenden Gericht alle Hinweise zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts geben, die es diesem ermöglichen, die Frage der Vereinbarkeit bei der Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits zu beurteilen (siehe zuletzt Urteil vom 14. Juli 1994 in der Rechtssache C-438/92, Rustica Semences, Slg. 1994, I-3519, Randnr. 10).

8 Zur Beantwortung der Frage des vorlegenden Gerichts ist zunächst zu klären, ob Artikel 30 des Vertrages für den Fall gilt, daß ein Mitgliedstaat durch Gesetz Verkäufe verbietet, die nur eine äusserst niedrige Gewinnspanne mit sich bringen.

9 Nach ständiger Rechtsprechung ist jede Maßnahme, die geeignet ist, den Handel zwischen Mitgliedstaaten unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern, eine Maßnahme mit gleicher Wirkung wie eine mengenmässige Beschränkung (Urteil vom 11. Juli 1974 in der Rechtssache 8/74, Dassonville, Slg. 1974, 837, Randnr. 5).

10 Es ist festzustellen, daß eine gesetzgeberische Maßnahme wie die im Ausgangsverfahren streitige, durch die Verkäufe, die nur eine äusserst niedrige Gewinnspanne mit sich bringen, verboten sind, nicht den Handel mit Waren zwischen den Mitgliedstaaten regeln soll.

11 Zwar ist ein solches Verbot geeignet, das Absatzvolumen und damit das Volumen des Absatzes von Erzeugnissen aus anderen Mitgliedstaaten insoweit einzuschränken, als es den Wirtschaftsteilnehmern eine Methode der Absatzförderung nimmt. Es ist jedoch fraglich, ob diese Möglichkeit ausreicht, um das streitige Verbot als Maßnahme gleicher Wirkung wie eine mengenmässige Einfuhrbeschränkung im Sinne von Artikel 30 des Vertrages zu qualifizieren.

12 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, daß die Anwendung nationaler Bestimmungen, die bestimmte Verkaufsmodalitäten beschränken oder verbieten, auf Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten nicht geeignet ist, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten im Sinne des zitierten Urteils Dassonville unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern, sofern diese Bestimmungen für alle betroffenen Wirtschaftsteilnehmer gelten, die ihre Tätigkeit im Inland ausüben, und sofern sie den Absatz der inländischen Erzeugnisse und der Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten rechtlich wie tatsächlich in der gleichen Weise berühren. Sind diese Voraussetzungen nämlich erfuellt, so ist die Anwendung derartiger Regelungen auf den Verkauf von Erzeugnissen aus einem anderen Mitgliedstaat, die den von diesem Staat aufgestellten Bestimmungen entsprechen, nicht geeignet, den Marktzugang für diese Erzeugnisse zu versperren oder stärker zu behindern, als sie dies für inländische Erzeugnisse tut. Diese Regelungen fallen daher nicht in den Anwendungsbereich von Artikel 30 des Vertrages (vgl. Urteile vom 24. November 1993 in den verbundenen Rechtssachen C-267/91 und C-268/91, Keck und Mithouard, Slg. 1993, I-6097, Randnrn. 16 und 17, vom 15. Dezember 1993 in der Rechtssache C-292/92, Hünermund, Slg. 1993, I-6787, Randnr. 21, und vom 9. Februar 1995 in der Rechtssache C-412/93, Société d' importation Édouard Leclerc-Siplec, Slg. 1995, I-179, Randnr. 21).

13 Was eine Regelung wie die im Ausgangsverfahren streitige angeht, ist dabei festzustellen, daß sie Verkaufsmodalitäten insoweit betrifft, als sie Verkäufe verbietet, die nur eine äusserst niedrige Gewinnspanne mit sich bringen.

14 Darüber hinaus berührt diese Regelung, die ohne nach Erzeugnissen zu unterscheiden, für alle Wirtschaftsteilnehmer in dem betreffenden Sektor gilt, den Absatz der Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten nicht anders als den der inländischen Erzeugnisse.

15 Es ist somit zu antworten, daß Artikel 30 des Vertrages dahin auszulegen ist, daß er nicht für den Fall gilt, daß ein Mitgliedstaat durch Gesetz Verkäufe verbietet, die nur eine äusserst niedrige Gewinnspanne mit sich bringen.

Kostenentscheidung:

Kosten

16 Die Auslagen der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben hat, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)

auf die ihm vom Tribunal de commerce Mons mit Urteil vom 21. Januar 1994 vorgelegte Frage für Recht erkannt:

Artikel 30 EG-Vertrag ist dahin auszulegen, daß er nicht für den Fall gilt, daß ein Mitgliedstaat durch Gesetz Verkäufe verbietet, die nur eine äusserst niedrige Gewinnspanne mit sich bringen.

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